Samstag, 30. November 2013

Sookee

Eigentlich heißt diese Artikelserie ja "Deutschrapper mit Anspruch". Die Serie wird aber kurzer Hand umbenannt in "Deutschrapper*in mit Anspruch". Denn zum Glück bin ich erstens nicht so dogmatisch wie gewisse Halb- und Vollpfosten, und wie sie es glauben. Und zweitens ist mir Sookee wieder eingefallen. Teil 4 der Serie.

Nun habe also auch ich Sookee entdeckt und möchte ihr für die unverzeihliche Verspätung einen ausführlichen Artikel widmen, sozusagen als Entschuldigung. Ein Blumenstrauß würde dich, Sook, bestimmt auch freuen, aber ich hab' leider zurzeit etwa -80 € auf'm Konto und ein wenig unangebracht wär's vielleicht auch. Kommen wir also zur Sache:

Sookee. Foto von: Flox Schoch

Deutschlands bester Rapper - eine Frau!?


Sookee ist nicht bloß Deutschlands fähigste Rapperin. Sie überbietet an Inhalt, Technik, musikalischer Unterlegung und Flow auch mehr als 99% aller Rapper im Lande.

Das würdigte sogar das "Rolling Stone" Magazine, worauf Sookee bei facebook postete, sie fühle sich nun unter Beweisdruck gesetzt. Nicht doch. Nicht doch! Du hast längst bewiesen, dass du die beste Rapperin und einer der besten Rapper im Lande bist.

Was du aber bei so harter Konkurrenz ganz oben an der Spitze beweisen könntest, ist: bist du der beste Rapper im Land? Das könntest du noch beweisen. Ich glaube an dich! Fehlt ja nur noch ein Prozentpunkt!

Im ultrageilen Duett "Zeckenrapsupport" drückt dein Rapgenosse Captain Gips es ja schon so treffend aus:

Keiner von euch Mackern ist so gut wie Sookee
Keiner von euch Mackern ist so klug wie Sookee
Keiner von euch Mackern kann sie überbieten.
Also bitte geh'
Oder zieh' deinen Hut vor Sookee
Wir heben das Niveau, verändern das Game, denn
Wir beide wissen: Es ist mehr als Rap
Es geht endlich wieder um Message und Flow
Doch du bist von beidem leider sehr weit weg

Keep it Real


Ja, so ist es. Sookee erreicht Message und Flow auf dem höchstem Niveau. Sie hat keinerlei Probleme, Klang und Inhalt zusammenzubringen. Sie erreicht mehr als jeder andere deutsche Rapper eine harmonische Einheit aus Performance und Intention. Denn wo Pseudogangster im wahren Leben alles vermeiden, was ihrem Geschäft schädigen könnte und deswegen lächerlich und unglaubwürdig sind, steht Sookee zum Hip-Hop-Imperativ "keep it real" mit Wort und Tat. Sie verkörpert mit Leib und Seele, was sie darstellt, wo andere nur den Schein wahren für Scheine und Waren. Sookee ist linke Aktivistin, hat die Gesellschaft durchschaut und spiegelt das auch in ihrer Kunst wider. Sie lehrt uns, was guter Hip-Hop ist und was nicht. Dafür gebührt ihr der größte Respekt.

Massive Salven gegen das Rap-Business


Da können die Gangstakilla-Vollhorste einpacken. Denn Sookee lässt sie nachsitzen für deren schwachen Leistungen. Oder sie macht sie zu Rap-Eremiten, die Buße tun müssen. Die härteren unter diesen Kommerzopfern schlägt Sookee schon in der ersten Runde brachial zu Boden. Wie Gina Carano in "Haywire" boxt sie die ganzen harten Typen auf eleganteste Weise weg. Vergleicht man sie mit einem Boxer, ist sie so etwas wie Roy Jones Jr. in Bestform, schnell, rhythmisch und unbarmherzig. Die Messages an ihre Kontrahenten sind massive Salven, die selbst "Massiv" einsacken lassen. Sie ist ihren Gegnern schlicht Haus hoch überlegen. Ihre Chabos - die offenen Sexisten, Machisten, Kommerzkriminellen, Rap-Kapitalisten und die Nach-rechts-außen-Offenen - sollten jetzt geschnallt haben, wer die Ische ist, die zugleich ihr Babo ist. Wenn nicht, sollten sie sich Sookee genau anhören. Spätestens dann müssen sie sich mit einem Koutao verneigen.

Rap als Klang unterdrückter Menschen


Was ist das Geheimnis hinter ihrer Schlagkraft? Sookee vertritt in modernster Form das, was die Ursprünge des Hip-Hop in den USA waren: Widerstand, Identitätsstiftung und künstlerische Selbstverwirklichung unterdrückter Gruppen. Und sie vertritt das auf sehr überzeugende Weise. Gesellschaftskritik wurde selten so schön verpackt wie bei ihr. Sie bringt Fanon und Fromm in Form von fantastisch durchgeführtem Hip-Hop rüber. Was sie musikalisch inszeniert, ist: Der Klang unterdrückter Menschen.

So übertrifft sie zu großen Teilen sogar die deepesten und kritischsten Rapper im Lande. Was leider einige linke und kritische Rapper zu vergessen scheinen, ist: Rap ist nicht nur Text. Rap ist auch Flow, Reim, Rhythmus. Sooks Kritik klingt einfach hammergeil. Sie macht zum großen Teil Partymucke, die zugleich aber überaus inhaltsreich ist. Während man/frau "Pro Homo" oder "Siebenmeilenhighheels" hört, will man/frau einfach headbangend Simone de Beauvoir oder Wilhelm Reich lesen. Da ist sie sogar solch großartigen Musikern wie Maeckes, Max Herre oder Tua überlegen, die zu dem obersten Prozent der besten Rapper gehören.

Übrigens ist sie auch weit intelligenter als ein beträchtlicher Teil der linken Aktivisten und "Theoretiker" im Lande. Das auszuführen würde zu weit vom Thema wegführen, aber ihre ganze Performance beweist das. Man kann sich dazu auch ihre klug gewählten Worte beim Interview mit Luzia Braun anhören.

Ihr feinfühliges Verständnis übertrifft das des durchschnittlichen linken Studenten um ein Vielfaches. Einerseits ist sie überaus kritisch, was aufgezwungene Rollenbilder und Klischees angeht. Andererseits ist sie nicht so stockkonservativ und spießbürgerlich wie so manch ein "Theoretiker", der übers Ziel hinausschießt, wenn er Sex und Erotik mit der christlichen Erbsünde verwechselt. Mit diesem künstlichen Opfergehabe hat Sookee nichts am Hut. Sooks Musik ist Sex, Drags & Revolution.

Sookee ist dermaßen selbstbewusst, dass sie die Trennung von teuflischer Braut und engelsgleicher Dame zu neuer Einheit bringt. Sie zerreißt damit gleich beide Klischeebilder. Sookee ist einfach ein Mensch, der bewusst für sich Selbst und seine Bedürfnisse eintritt. Dafür muss man diesen Menschen einfach lieben. Und wer es nicht tut, hat entweder nicht hingehört oder den Popo offen. Wer sie sich genau anhört, hat dagegen Mühe, den Mund wieder zu zu machen.

Aber genug vom seelischen Innenleben der viel zu deutschen Menschen. Kommen wir zu den Messages von Sookee an die unterdrückten Menschen.



Messages mitten ins Herz - Sex, Drags & Revolution auf höchstem Niveau


Sookee ist also echt stark und selbstbewusst. Und dennoch finden sich kein Fünkchen Übertreibung und kein Fünkchen Selbstüberschätzung bei Sookee. Sie trifft nämlich genau ins Schwarze - oder besser gesagt: mitten ins Herz.

"Bitches, Butches, Dykes & Divas"


Fangen wir also mit den herzlichsten Tracks von Sookee an. Im Album "Bitches Butches Dykes & Divas" liefert uns Sook z.B. "Siebenmeilenhighheels", "Reibung" und ...

"Bitches, Butches, Dykes & Divas" ist der erste Titel des Albums. Reinste Partymucke. Perfekt zum Abfeiern. Perfekt zum Abtanzen. Perfekt zum Abchecken. Es ist eine klare Ansage, wofür Sookee steht: Sex, Drags & Revolution auf höchstem Niveau. Sie proklamiert darin:

shlampen und shwuchteln vereinigen sich
gleich vorneweg ihr beleidigt uns nicht
wir reden jetzt und ihr dürft laushen
nervt ihr uns werden wir bös fauchen
und euch dann fressen mal gucken mal sehen
ob bei euerm niveau noch drunter was geht
ihr sagt andre wörter auch mit f
ich find sie shön ihr nehmt sie nicht weg
du fühlst dich jetzt ungerecht behandelt
dann hast du dis nicht so recht verstanden
zushauen und mitspielen wollen sie
men of quality support women‘s equality

Auch in "Zeckenrapsupport" feiert sie zusammen mit Captain Gips linke Ideen bei Laune machender Mucke ab. Gips führt in den Track ein:

ich schreibe auf was in der zeitung nicht stand
doch sie wollen das nicht hören denn sie mein‘ ich würde stören
deshalb renn‘ sie zu den bullen und zeigen mich an
shit, scheiße verdammt doch ich bleibe entspannt
[...]
ich bin eigentlich gar kein rapper ich bin eigentlich ein punk
nehm ein stift und ein zettel, fahr mit dem fahrrad an die elbe
lege mich dahin und schreibe mit sookee ein song
der captain und sookee, doch egal wie wir heißen
wir heißen refugees willkommen
Sookee beweist im Anschluss wunderbar, dass sie Berlinerin mit Leibe und Seele, linke "Zecke" und Rapperin mit Anspruch ist:

ick mach denn hier ma weiter im text
während sich mainstreamrap hinter sheiße versteckt
jungs warum habt ihr eigentlich alle keene eier
stöcke diese kacke jeht mir mächtig uuf die klötzer
ick baller messages die andre sich kaum vorstellen können
ick mach gründlich toys nur vorshnell können
und wenn ick dit nich will steht mir nüsht im weg

"Working on Wonderland" thematisiert die Menschengeschichte als fortschreitenden Kampf hin zum utopischen Ziel einer besseren Gesellschaft:

für ein leben nach bedürfnissen und fähigkeiten
endlose prozesse sind entwicklungen gehen ewig weiter
alles zwishen alltag und politishen forderungen
stürzen wir normen um entmachten die ordnung und

betrachten kleine und große dinge als emanzipatorish
wir wissen es zu shätzen wirkts von außen auch nicht logish
doch wir lernen immer mehr über innere zusammenhänge
weshalb wir die kategorisierungen auch zusammendenken

wir haben nicht nur kritik wir haben auch alternativen
wir machen das alles wut und alles aus liebe

In "Siebenmeilenhighheels" klingt ihre Stimme einfach dermaßen schön, dass man sich in sie direkt verlieben muss. Hätte ich einen Fernseher, würde ich mich freuen, nur noch diese Stimme in der Werbeunterbrechung zu hören. Aber erstens würde sie nicht für irgend einen Scheiß werben und zweitens würden die Medien ihre progressiven Messages nicht teilen. "Siebenmeilenhighheels" ist eine liebenswerte Ode an eine begehrte und verehrte Person. Die Ode beginnt sehr ruhig, fast schon meditativ und wird immer energischer bis die ersten Sätze kommen. Von da an bleibt die Musik bis zum Ende bei einem gleichbleibend intensiven Rhythmus. Sookee beschreibt die äußerliche und innere Schönheit des verehrten Menschen:

auf dem titelblatt bist du eine hete sagt die norm
für das allgemeine auge bist du eh nur eine form
kein charakter keine haltung keine meinung zu nix
ich will sie anshrein dass du hier die entsheidungen triffst
ich hab dich immer shon gesehen seit ich ein kleines mädchen war
hab versucht mich dir zu nähern auf vershiedenen wegen zwar
aber letzten endes habe ich dich immer begehrt
wegen deiner shönheit deinem inneren wert
und sie wandern auf dir meine zielsicheren blicke
auf deinem körper den du fein dekoriert hast mit spitze
und ja ich bin ehrlich ich mag mit dir in die kiste
zumindest will ich auf diese phantasie nicht verzichten
du bist heiß verdammt und ich bleibe dran

Diese Ode ist romantische Sehnsucht nach dem unerreichbaren Menschen. Es ist ein mutiges Bekenntnis an die Körperlichkeit und Ästhetik des weiblich anmutenden Menschen. Und es ist ein bisschen so etwas wie ein feuchter Traum, denn die Hook der Ode lautet:

boah bist du shön ich bin feuer und flamm
für diese feurige femme mit einem teuren verstand
sie shlägt die beine übereinander es wird feucht und warm
ich wünsh mir dass ich heute nacht dazwishen träumen darf



"Reibung" fängt gleich energisch an, wird ebenfalls immer energischer und hat einen ähnlichen Klang wie "Siebenmeilenhighheels". Auch dieses Stück feiert die menschliche Körperlichkeit. Allerdings wird eher nicht die Weiblichkeit besungen, sondern die Männlichkeit. Es geht diesmal eher um prickelnde Erotik zwischen Mann und Frau. Zumindest darf man das vermuten, wenn sie immer wieder wiederholt:

grinden auf die‘m shoß. ich will grinden auf dei‘m shoß
lass meine hüften heute nacht bitte einfach nicht mehr los
dein atem in mei‘m nacken und es prickelt innen drin
lass uns grinden heute nacht bis wir zu shwitzen beginnen

Natürlich mag die Assoziation mit dem Verkehr zwischen Mann und Frau an meiner begrenzten Fantasie liegen, aber darüber mögen sich die Kleingeister streiten. Der Text ist jedenfalls sehr gelungen und passt perfekt zur Hintergrundmusik.

"Deine Hände" handelt von Demut und Wehmut gegenüber dem geliebten Menschen aus der Vergangenheit:

ich erwach aus dem leichtsinn und strafe mich lügen
und versehe mich selbst mit sehr viel arbeit und rügen
kein ding in der umgebung reicht mir vertrauen und lob
ich bedanke mich bei mir mit absheu shauder und hohn

ich seh durch deine hände denn du spiegelst mich
wie ein tropfen auf den heißen asphalt
auf den kalten asphalt
auf den asphalt

"Aua" handelt vom selben Thema: Verletzung durch eine andere Person. Was für ein eindringliches Lied!

und es trennen sich kreise und es nagt es im innern
man wird euch lange zeit über das thema verbinden
wer dich auch immer verletzt wer dich auch immer verlässt
du bist du und nur du bleibst bist zuletzt

Der Refrain formuliert eine Lehre aus der Enttäuschung:

erwartungen heißen so damit wir geduld lern
wir tragen 1000 tonnen auf unser‘n shultern
wenn die enttäushung kommt wie eine faust in dem magen
bleibt uns erst mal nicht mehr als das auch noch ertragen
"Wordnerd" ist eine Liebeserklärung an die Poesie. "In der Ferne Bildungsnähe" ist eine Kritik der autoritären Erziehung, die so typisch ist für die Schule und die bürgerliche Gesellschaft allgemein. Wunderschön! "Wieder Flieger" ist ein Aufruf zu praktizierter Menschen- und Selbstliebe. Wow! "Lernprozess 2" handelt vom Lernprozess Sookees. Immerhin wurde sie scharf kritisiert aufgrund einiger Wörter, die sie wählte. Die Inhalte des Textes sind sehr interessant. Allerdings fragt man sich, was in den Köpfen ihrer Kritiker abgeht. Postmodernismus kann ziemlich uncool sein, wenn er über's Ziel hinausschießt. Immerhin lässt sich Sookee von Hatern nicht unterbuttern, sondern sagt:

ich verstehe diesen einwand aber teile ihn nicht
denn quing hat von anfang an sehr viel weiter geblickt

"Quing" 


Damit kommen wir zum nächsten Album von Sookee, zu "Quing", das zeitlich vor dem bereits besprochenen Album liegt. Im gleichnamigen Manifest singt sie:

quing liefert die fragen um sich kritisch zu prüfen
quing bietet die basis für dich nicht ermüden
quing ist wie ne party schick ein blick zu der süßen
quing ist gegen nazis und f*ckt ihre lügen

Sex, Drags & Revolution! Aber gerade für solche Zeilen wurde sie teils vom postmodernen Lager scharf kritisiert. Naja. Wenn man sonst nichts zu tun hat als die progressivste und talentierteste Rapperin Deutschlands mit Genörgel aufzuhalten... Jedenfalls hält sich Sookee nicht an die beliebigen Vorgaben der Leute, die angeblich nichts mehr verurteilen und beurteilen wollen, aber gerade die Genossen platt machen wollen.

In "Milady" feierte Sookee daher auch das Aussehen und den Gestus einer Frau:

welche werbung sagt dir dass du nicht schön bist
jetzt mal ehrlich dis is’ krasser blödsinn
milady du bist heiß das ist offensichtlich
deine schönheit blendet mich wie ein spot vom blitzlicht
welche werbung sagt dir dass du nicht schön bist
jetzt mal ehrlich dis is’ krasser blödsinn
oh madame lass mich in deinem glanze baden
denn ich geb kein fick auf was irgendwelche ander’n sagen

Ihr wurde deswegen auch Lookism vorgeworfen, eine Diskriminierung von Menschen aufgrund äußerlicher, ästhetischer Merkmale. Wer sich damit vertiefen mag, kann das gerne tun. Ich werde dem Thema hier erstmal keine weitere Zeile widmen.

In "Hallo" singt sie zusammen mit einem Typen die Paarbeziehung, könnte man meinen. "Trinity" lobt hingegen kritisches, mehrdimensionales Denken. "Pro Homo" (ft. Tapete) ist wiederum eine grandiose Verteidigung von Homosexualität. Der Party-Beat alleine macht schon gute Laune. Aber auch der Rhythmus des Gesangs und der Text ist cool und superwitzig. "Keep it Käsekuchen" ist so komplex, dass ich nur empfehle, das Lied unzählige Male anzuhören, da es es in sich hat.



Fazit


Ich hoffe, dass meine ausführliche Besprechung Sookee einigermaßen gerecht wird, selbst wenn ich Lücken lassen musste und sehr begrenzte Fantasie haben mag. Ich denke, Sookee ist eine der talentiertesten Figuren in der deutschen Hip-Hop-Landschaft. Mit ihrer Integrität ist sie nicht nur den meisten Rappern weit überlegen, sondern auch unzähligen Gesellschaftskritikern im Lande. Sookee integriert ihre Ideale wunderbar mit ihrer Performance, wovon sich sowohl Rapper als auch Linke ein großes Stück abschneiden können.

http://www.sookee.de






Kriegserklärung an die DB! (Serie: DB = €#$, Teil 1)

Diese Artikelserie ist meine persönliche Kriegserklärung an die so genannte Deutsche Bahn (DB). Für mich heißt DB so viel wie Drecksbahn, Drangsalierungsburschen, Dom Babok (= russ.: Haus des schmutzigen Geldes).

Die DB ist so ein Haufen von kapitalistischen Betrügern, dass man ihm vernichtende Antiwerbung gönnen sollte. Diese Artikelserie zur DB sammelt daher alle bösen Gerüchte und alle Negativschlagzeilen über die DB.

Helft mir, indem ihr mit mir lästert, kommentiert und aufklärt über die Machenschaften der DB! Entscheidend ist dabei das Kommentieren, die Versendung von privaten Nachrichten und Links an mich. So können wir eine gemeinsame Kriegserklärung daraus machen!

Zeigen wir's der DB! Zeigen wir der Drecksbahn, dass dass sie mehr als ein Rad ab hat!

Karikatur von Pfohlmann auf http://www.toonpool.com/cartoons/DB%20Service_21346#


Freitag, 29. November 2013

Klassenherrschaft und Technokratie (Serie: Gefahren der technokratischen Revolution, Teil 1)



"In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«; aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. – So könnte jemand eine Fabel erfinden"
Die "klugen Tiere" sind natürlich die Menschen, wir. Nietzsche könnte am Ende mit seinem Gedankenspiel über das Ende der Menschheit Recht behalten. Vielleicht wird die Menschheit einfach wieder verschwinden. Das wäre für das Universum so etwas wie der Tod einer Fliege. Wen würde es dann noch kümmern, was in der Welt so passiert? Das kann uns egal sein. Nicht egal sollte uns sein, wie es zum Ende der Menschheit kommen könnte.

Fiktive Existenzbedrohungen in der Zukunft


Jedes Jahr werden in Büchern, TV-Serien, Filmen etc. millionenfach in diversen Science Fiction-Szenarien die Gefahren der Zukunft beschworen: Da gibt es die Terminators, die uns den Krieg erklären und die Matrix, die uns zu lebenden Batterien verwandelt. Da gibt es die völlige Verelendung der arbeitenden Menschen auf der Erde, während die Reichen auf die paradiesische Weltraumstation Elysium umziehen. Oder den Exodus der Reichen auf einer hochmodernen High-Tech-Arche nach der Klimakatastrophe und Sintflut. Ebenso gibt es das Szenario der Vereisung des Globus oder die Bedrohung durch Asteroiden. Oder auch die Welt, die von Tornados verwüstet wird. Da gibt es weiterhin unzählige Varianten der Alien-Invasion, der Zombie-Apokalypse und des dritten Weltkrieges. Man darf natürlich die X-Men- und X-Women-Mutanten und die Gentechnik-Unfälle nicht vergessen, die es da so gibt. 

Diese Szenarien scheinen für naive Leser erstmal bloße "Fiction" zu sein, die mit "Science" nichts zu tun hat. Tatsächlich hat Science Fiction viel mehr mit Wissenschaft und Realität zu tun als uns lieb ist. All diese Szenarien kommen nämlich aus der kaputten Wirklichkeit von heute. Es werden nur aus realen Trends, die in die falsche Richtung gehen, mögliche katastrophale Endresultate künstlerisch und zugespitzt dargestellt. Auch gesellschaftskritische Aktivisten und Theoretiker weisen schon lange darauf hin, dass die fiktionalen Dystopien nicht so fern sind wie wir hoffen.

Reale Existenzbedrohungen in der Vergangenheit


Seitdem es die Atombombe und noch mehr seitdem es mehrere Atommächte gibt, haben die Mächtigen dieser Welt das Schicksal der Welt in der Hand. Schon mehrmals ist es fast zu Atomkriegen gekommen.

Nachdem die USA im 2. Weltkrieg Japan mit zwei Atombomben niedergestreckt hatten, kam es im Koreanischen Krieg beinahe zum ersten Atomkrieg. Psychopathen im amerikanischen Militär wollten gegen China, das in den Konflikt verwickelt war, Atombomben nutzen. Damals hatte Chinas Verbündeter, die Sowjetunion, bereits selbst Atombomben. Jahre später kam es zur Kuba-Krise, die ebenfalls knapp an einem Atomkrieg vorbeigeführt hat. Gegenwärtig gibt es Bürgerkrieg im Nahen Osten und mehrere Atommächte sind in diesen Krieg verwickelt. Der atomare Vernichtungskrieg droht uns also immer wieder. Die Gefahr wird nicht einmal geringer. Sie wird größer.

Die amerikanischen Atombomben von Hiroshima und Nagasaki waren nichts im Vergleich zu den Bomben, über die unsere herrschenden Herrschaften heute verfügen. Nicht nur gibt es einzelne Bomben, die das zigfache der Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe haben, sondern es gibt davon auch 1000 mal mehr.

Die Herren dieser Welt könnten alles Leben auf der Erde vernichten, wenn sie nur einen Teil dieser Bomben gleichzeitig zünden würden. Der Atomkrieg bedroht den Bestand der Menschheit, der Tier- und Pflanzenwelt, eigentlich sogar der ganzen uns bekannten Welt.

Wir gefährden uns selbst am meisten. Wir sind selbstzerstörerische Tiere. Wir sind die gefährlichste, grausamste und amoralischste Killermaschine, die die Welt je gekannt hat. E-Coli-Bakterien, Giftige Skorpione, wilde Raubtiere und das AIDS-Virus, die unzählige Menschen auf dem Gewissen haben, haben weit weniger Menschen getötet als wir.

Sie haben vielleicht auch mehr Gewissen als wir. Wer weiß? Immerhin gab es in der Menschheitsgeschichte so unfassbare Gräuel und Untaten, dass man sie für Horrorgeschichten halten könnte, um Kindern wie Erwachsenen Angst einzujagen. Aber keine fiktive Geschichte kann auch nur annähernd die Schrecken der Realität darstellen. Selbst entrüstende Dokumentationen oder Spielfilme über den Holocaust oder das Nanjing-Massaker kommen nicht im Geringsten an die Realität heran.

Es gibt fast kein Horrorszenario, das die reale Welt nicht bereit hält. Die fiktiven Szenarien können uns dafür aber ergreifen und prägen. Kommen wir daher zu einem der interessantesten Szenarien der Science Fiction.

Das Zestörungspotenzial im modernen Kapitalismus




"Am 29. August 1997 endeten drei Milliarden Leben. Die Überlebenden des nuklearen
Feuers nannten den Krieg den Tag des jüngsten Gerichts. Sie überlebten nur, um sich einem neuen Alptraum gegenüberzustehen: dem Krieg gegen die Maschinen."
Dieser Horror entstammt dem Action-Film "Terminator 2", der davon handelt, wie intelligente Killermaschinen entwickelt werden, die sich gegen ihren Herren, den Menschen, auflehnen und einen Vernichtungskrieg gegen ihn anfangen. Sie beginnen einen Atomkrieg, wobei die Hälfte der Menschen auf einen Schlag stirbt. Der Rest wird von den Maschinen per Hand eliminiert. Die Killermaschine Mensch trifft auf eine noch effizientere Killermaschine, die definitiv keinerlei Gewissensbisse hat. Zum Glück hat sich dieses Schreckensszenario bisher nicht bewahrheitet.

Die Bedrohung der Menschheit durch unkontrollierbare Technologien besteht aber noch immer und wird Jahr für Jahr gefährlicher. Denn der Kapitalismus konnte bisher keine Lösung für die größten gesellschaftlichen Probleme bieten. Er vertieft diese vielmehr, weil er offenbar ein unkontrollierbares und schwer berechenbares System ist. Und er war als sadistisches Kind schon scheiße. Als zynischer Greis ist er aber noch viel schlimmer geworden. 

Denn die Zuspitzung der internationalen Konkurrenz führt weiterhin zu Verelendung und Ohnmacht auf der einen Seite und zu mehr Reichtum und Macht auf der anderen Seite. Die Geopolitik der verschiedenen Staaten führt zu immer neuen Kriegen. Der Drang nach Profit führt zu unglaublichen wissenschaftlichen Erkenntnissen und genialen Technologien auf der Seite der Reichen und Mächtigen zu einem umso krasser werdenden Ausschluss der Armen und Ohnmächtigen von diesen Früchten der Industriegesellschaft.

Diese Früchte werden von den Ausbeutern genüsslich konsumiert, während die Ausgebeuteten ihr Leben lang dreckige, monotone, sinnlose und schlecht entlohnte Lohnarbeit machen müssen. Während sich der Luxus für die Herrschenden immer weiter entwickelt, stagnieren die Beherrschten noch immer auf niedrigem Niveau. Was für die einen eine völlig fremde Welt ist, ist für die anderen Alltag und umgekehrt. Denn wer satt ist, wird nie einen Hungernden verstehen. Allerdings kontrollieren selbst die verantwortlichen Profiteure dieses Systems das System nicht. Es kontrolliert vielmehr sie. Der Teufel verändert dich, wenn du dich auf ihn einlässt.

Unkontrollierbare Herrschaftstechniken


Was hindert die Menschheit daran, das Horrorszenario aus "Terminator 2" in den nächsten Jahrzehnten wahr werden zu lassen? Ich denke, nicht allzu viel.

In Terminator 2 fragt ein Nachwuchswissenschaftler den führenden Kopf, der für das US-Militär die erste intelligente Killermaschine entwickeln soll, über dieses wahnsinnige Projekt aus. Die Antwort sollte den Zuschauer verstören: “Ich habe ihnen die selbe Frage gestellt. Und wissen sie, was man mir gesagt hat? Fragen Sie nicht!”

Im Film hat sogar der für den Krieg mit den Maschinen hauptsächlich verantwortliche Forscher keine Kontrolle über seine Erfindung. Er ist bloß eine Marionette mächtigerer Interessen. Zwar wendet er sich letztlich gegen diese Interessen, indem er seine eigene Erfindung zu zerstören versucht. Natürlich scheitert er jedoch, damit die Filmreihe weitergehen kann. Aber werden auch wir scheitern oder können wir sicher sein, eine bessere Zukunft zu erleben? Ich denke, die Zeit spielt jedenfalls gegen uns.

Um die zukünftige Gefahr abschätzen zu können, sollte man das heutige Kräfteverhältnis der zwei kämpfenden Seiten beachten. Wenn der kapitalistische Staat bisher alle sozialistischen Erhebungen besiegt hat, liegt das daran, dass seine Herrschaftstechniken unserem Widerstand überlegen sind. Abgesehen von der resignativen oder zustimmenden Haltung vieler Menschen zur herrschenden Ordnung gibt es weitere subtile und gewaltsame Herrschaftstechniken, die wir bisher nicht kontrollieren können.

Die leidenden Massen der Bevölkerung wehren sich zwar in regelmäßig ausbrechenden Massenbewegungen und -protesten. Manchmal stürzen diese irgendwelche Mubaraks, Gaddafis oder vielleicht auch Erdogans und Merkels. Aber bisher wurden revolutionäre Erhebungen immer wieder von der Staatsmacht unterdrückt. Am Ende hat der Staat sich immer retten können. Die Menschen kämpfen aber immer wieder von Neuem gegen die Repression durch den Staat.

Die Technik ist dabei nur ein Mittel im Kampf dieser beiden Seiten. Allerdings ist sie im kapitalistischen System wohl kaum kontrollierbar, denn der Kapitalismus ist ein anarchisches System blinder Konkurrenz.

Der technische Stand der Herrschaftstechniken heute


Nach der Fukushima-Katastrophe hat die Robotik weltweit einen gewaltigen Schub erfahren. Denn Roboter kann man auch ohne Gewissensbisse und vor allem ohne Geldverlust zur Reparatur in ein verseuchtes Kraftwerk schicken. Internationale Forscherteams haben bereits Roboter entwickelt, die klettern, sprinten, tanzen, Gesichter und Stimmen identifizieren und Fahrzeuge bedienen können. In Japan hat ein Künstler im Alleingang einen laufenden Panzer mit integrierter Schusswaffe entwickelt. Der technische Stand der von Präsident Obama so gerne benutzten Bomber-Drohnen ist damit schon überholt. Es gibt bereits fortschrittlichere Tötungsmaschinen.

Darüber hinaus gibt es Technologien, die als Mittel der kapitalistischen Staatsmacht für uns noch viel gefährlicher werden könnten. Das US-Militär erforscht etwa im Bereich der Nanotechnologie und der Biotechnologie neue Ausrüstungen wie z.B. ultraleichte und unsichtbare Anzüge und die Muskelkraft vervielfachende Exoskelette für Soldaten. Auch Laser-, Mikrowellen- und elektromagnetische Waffen werden bereits getestet. Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis es die ersten intelligenten Killermaschinen gibt. Im Film erobern die "Terminators" die Welt und unterdrücken die Menschen. Was sie da errichten, kann man im Grunde "Technokratie" nennen. Die Technik scheint zu herrschen, während der Mensch beherrscht wird. Das ist aber keine bloß fiktive Gefahr. Die Technokratie ist bereits eine jetzt bestehende Gefahr in der kapitalistischen Gesellschaft.

Technokratie in der kapitalistischen Gesellschaft


Wissenschaft und Technik sind im Kapitalismus einerseits dem Bewusstsein und Interesse der Herrschenden unterworfen und damit teils steuerbar. Andererseits sind sie der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen. Aber weder der Staat noch der Markt können die Technik kontrollieren. Die Technik droht vielmehr, sich zu verselbständigen, da das Resultat am Ende offen ist.

Wir wissen nicht, ob es einen Atomkrieg geben wird, ob die Killermaschinen der Zukunft sich gegen die gesamte Menschheit wenden werden oder ob die Gentechnik die Menschheit auslöschen wird. Was wir aber jetzt schon wissen können, ist, dass die Technik den Herrschenden dient. Sie investieren in die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, neuer Technologien und neuer Herrschaftstechniken.

Ihre Profitlogik hat bereits zur Entwicklung nicht-intelligenter Maschinen in der industriellen Revolution geführt. Es kam in den letzten Jahrzehnten bereits zur Revolution des Informationszeitalters. Die Revolutionen der Nano-Technik, der Quantenphysik, der Genmanipulation und der Robotik stehen noch an. Sie alle sind unter den Bedingungen der kapitalistischen Klassengesellschaft Teil dessen, was ich hier "technokratische Revolution" nennen will. Es ist eine technologische, soziale, ökonomische und politische Revolution, die dem Ausbau der bestehenden Klassenherrschaft dient.

Die Herrschenden im Kapitalismus sind die Kapitalisten. Ihr Denken und Handeln dreht sich um ihre Klassenlage. Ihre Klassenlage ist die von abgehobenen Herren dieser Welt. Ihnen sind unsere menschlichen Situationen so gut wie fremd. Unser Wohlbefinden ist natürlich nicht ihre Priorität. Natürlich sind Weltfrieden, Freude und Eierkuchen auch nicht gerade die Probleme, die diesen Herrschaften den Kopf zerbrechen. Krieg und Frieden sind höchstens Mittel für ihre mehr oder weniger bewusste Herrschaft.

Aber selbst wo die Herrschenden bewusst globale Entwicklungen beeinflussen, wie es z.B. George Soros ganz eindrücklich tut, kontrollieren sie ihr Herrschaftssystem nicht. Sie sind zwar die kapitalistischen Herren dieser Welt. Aber auch der Befehl der Herren geht im lauten Gewirr und der bunten Hektik der kapitalistischen Welt unter.

Die in Klassen und Klassenfraktionen gespaltene kapitalistische Gesellschaft lässt sich nicht kontrollieren, weil es an einem zentralen oder kollektiven Kommandoposten fehlt. Denn die Interessen der einzelnen konkurrierenden Fraktionen verhindern solche Entscheidungsfindung. Statt dessen zerstreiten sich die politischen und wirtschaftlichen Fraktionen immer wieder.

Selbst in solchen Gremien wie im Bundestag, in der Bundesregierung, im EU-Parlament, in der kommunistischen Partei Chinas, im US-Senat oder in der UNO treffen die verschiedensten Interessen aufeinander, sodass gemeinsame Entscheidungen stets auf Kompromissen zwischen den Mächtigen beruhen. Das lässt erahnen, dass noch viele unerwartete Ereignisse und Gefahren auf uns zukommen werden.

Und wir können ahnen, dass die unkontrollierte Technik einer demokratischen Kontrolle durch die ganze Gesellschaft bedarf. Eine solche demokratisch kontrollierte Technik könnte allen Menschen dienen. Dafür brauchen wir aber eine Demokratisierung und soziale Umgestaltung von Staat und Wirtschaft, die den Kern unseres Systems in Frage stellen würde.

Aber wir dürfen auch hoffen, dass sich keines der Horrorszenarien als Folge der technokratischen Revolution durchsetzen wird, sondern die demokratische und soziale Revolution, denn:

"Alle Dunkelheit der Welt kann das Licht einer einzigen Kerze nicht auslöschen." 

Montag, 25. November 2013

Die Araber und der Antizionismus, Teil 1

Eine jede Betrachtung des Nahostkonfliktes ist überschattet vom arabisch-israelischen Krieg der Geschichtsschreibungen. Gilbert Achcar, Professor für Entwicklungspolitik und Internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies in London, hat dem Thema ein Buch gewidmet. Achcars Buch “Die Araber und der Holocaust” (2012 bei Edition Nautilus erschienen) ist ein wertvoller Beitrag, der dabei hilft, “die Logik des Krieges der Narrative zu beleuchten”, wie Achcar selbst hofft.

Achkars humanistische und wissenschaftliche Perspektive


Achcar schreibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Buches über seine Motivation:

So hoffe ich, dass die deutsche Ausgabe meines Werks dazu beitragen wird, Licht in die Finsternis zu bringen, die der Instrumentalisierung dieses Konflikts Vorschub leistet, und all jenen Argumente zu liefern, die allein von dem beseelt sind, was die deutsche Geschichte an Wertvollstem hervorgebracht hat – Humanismus und Internationalismus.

Achcar schreibt also ganz im Sinne der humanistischen Ideen solcher Denker wie Karl Marx. Einseitige Parteinahme für die eine oder andere Bevölkerung lehnt er ebenso ab wie die verschiedenen mehr oder weniger versteckten Formen von Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus oder religiösem Fanatismus. Einerseits kritisiert er all die Vertreter der Israelkritik und des Antizionismus, die nicht zugleich am Humanismus und Wohl aller Menschen orientiert sind.

Er kritisiert andererseits auch reaktionäre Vertreter der pro-israelischen Seite, des Zionismus, die das Wohl des israelischen Staates über das Wohl der Menschen im Nahen Osten stellen. An solchen Zionisten kritisiert er vor allem auch, dass sie sogar den Völkermord an den Juden wie auch üble Antisemitismus-Vorwürfe instrumentalisieren, nur um jede Politik des israelischen Staates heilig zu sprechen.

Immer wieder kommt Achcar auch auf die zionistisch motivierte Propaganda zu sprechen, die die arabische und antizionistische Seite völlig verzerrt und einseitig darstellt. Wissenschaftler wie Benny Morris oder Bernard Lewis, die es eigentlich besser wissen müssten, werden für Falschdarstellungen oder zynische Positionen zu Recht gebrandmarkt. Morris z.B. sieht nach seinem Rechtsruck hin zum antimuslimischen Rassismus in allen Moslems grundsätzlich Antisemiten. Achcar bedauert das:

Morris, ein Historiker, der immer darauf bestanden hat, dass für ihn nur “die Fakten” und wissenschaftliche Gründlichkeit auf der Basis hinreichender Belege zählen, hat sich also zu einem ideologischen Diskurs hinreißen lassen, der im beginnenden 21. Jahrhundert allzu üblich geworden ist: einer Mischung aus Neokonservatismus made in the USA und Neozionismus, beides unterfüttert mit Islamophobie.

Dagegen ist es Achcars erklärtes Ziel, dabei zu helfen, "einen Dialog zwischen Arabern und Israelis auf der Grundlage gemeinsamer humanistischer Werte" aufzubauen. Er tut das, indem er zu allererst Humanismus und Wissenschaftlichkeit verbindet. 

Dazu gehört die Fähigkeit, zu differenzieren. Anders als viele zionistische Wissenschaftler wie etwa Bernard Lewis, der alle Araber unter einen Kamm schert und zwischen ihren diversen Ansichten nur einen einzigen antisemitischen Sumpf sehen kann, beweist Achcar tatsächlich mit seinem Buch, wie wichtig ihm die “die Fakten” und wissenschaftliche Gründlichkeit auf der Basis hinreichender Belege sind. Sein Buch ist daher nicht bloß eine politische Abwehr gegen menschenfeindliche Politik im Nahen Osten, sondern auch ein solider wissenschaftlicher Beitrag zum Thema.

Im ersten Teil seines Buches unterscheidet er im Wesentlichen zwischen den vier großen politischen Strömungen im arabischen Raum: westlich orientierten Liberalen, Kommunisten, Nationalisten und reaktionären und/oder fundamentalistischen Panislamisten. 

Diese untersucht er im Detail auf ihre Einstellungen und Beziehungen zum nationalsozialistischen Völkermord an den Juden, zum Antisemitismus und zum Zionismus in der Zeit von 1933 bis 1947. Den zweiten Teil des Buches über diese Einstellungen ab der Nakba von 1948, also nach der Vertreibung von über 700.000 Palästinensern aus Palästina durch die zionistischen Siedler, ordnet er eher chronologisch. 

Er zeigt, wie der arabische Nationalismus im Stile des ägyptischen Nasserismus nach der Nakba zur dominanten Strömung wurde, dann aber vom Befreiungsnationalismus der PLO und schließlich vom Panislamismus ersetzt wurde. Dabei belegt er, wie sich die antizionistischen Einstellungen der Araber veränderten.

Arabische Reaktionen auf den Nationalsozialismus und den Antisemitismus (1933-1947)


Die arabischen Liberalen


Die westlich orientierten Liberalen unter den Arabern bis 1947 werden heutzutage gerne von neokonservativen Politikern des Westens ignoriert oder sogar kategorisch verleumdet. Rassistische Moslemhasser unterstellen den Arabern, als Moslems immer auch Feinde der Demokratie und Antisemiten zu sein. Gerade die arabischen Liberalen jener Zeit bewiesen aber eine weitaus menschenfreundlichere, tolerantere und demokratischere Haltung als angeblich aufgeklärte und liberale Politiker in Europa, indem sie deren inkonsequente Haltung und deren christlich geprägten Antisemitismus und Rassismus konsequent kritisierten. Achcar schreibt:


Die von einer demokratischen, humanistischen Kultur geprägten liberalen Westler unter den Unabhängigkeitsbefürwortern in der arabischen Welt lehnten den Nationalsozialismus von Anfang an ab. Das hinderte sie nicht daran, aus ihrer antikolonialistischen Gesinnung heraus gegen den Zionismus zu sein. Für die zionistische Bewegung stellten die westlich orientierten Liberalen ein großes Ärgernis dar, da sie am glaubwürdigsten unter Verweis auf die Werte der antifaschistischen westlichen Kultur die Grundlagen des Zionismus kritisieren konnten.

Liberale Demokraten konnten also sowohl Antifaschisten als auch Antizionisten sein, indem sie die rassistische, nationalistische und kolonialistische Natur sowohl des Faschismus wie auch des Zionismus sahen.

Die nahöstlichen Kommunisten


Die Kommunisten waren ebenso von vornherein erklärte Gegner des Antisemitismus und Nationalsozialismus:

Aus ideologischen Gründen lehnten die Marxisten in der arabischen Welt, darunter viele einheimische oder eingewanderte Juden, den Nationalsozialismus durchweg entschieden ab. [...] Die Marxisten waren es vor allem, die den Zionismus als rassistische Bewegung verurteilten, sie waren aber auch für die fragwürdige Gleichsetzung von Zionismus und Nationalsozialismus verantwortlich – deren wichtigste logische Konsequenz war, was oft vergessen wird, dass sie beiden Ideologien gleich ablehnend gegenüberstanden.

Trotz der dummen Gleichsetzung von Zionismus und Nationalsozialismus waren die arabischen (und jüdischen) Kommunisten grundsätzlich nicht Judenfeinde, sondern verteidigten sowohl Juden wie auch Araber vor Rassismus und Kolonialismus. Was man den Kommunisten dieser Zeit aber vorwerfen sollte, ist, dass sie keinerlei internationale Kampagne zur Aufnahme der jüdischen Flüchtlinge aus Europa gestartet hatten und dass sie nach dem Völkermord an den Juden wiederum nicht mehr konsequent genug gegen den rassistischen Kolonialismus der Zionisten vorgingen, sondern Israels Staatsgründung unterstützten. Das brachte sie für längere Zeit in Verruf, sodass die Nationalisten als die konsequenten Vertreter der arabischen Unabhängigkeitskämpfe erscheinen konnten.

Die arabischen Nationalisten


Die arabischen Nationalisten hatten ein weit problematischeres Verhältnis zu NS, Holocaust und Juden. Hier gab es durchaus Antisemiten und Rassisten, die einen gewissen Einfluss hatten. Es gab unter den arabischen Nationalisten durchaus auch Sympathisanten und Nachahmer des europäischen Faschismus. Aber diese Minderheit innerhalb der Nationalisten war selten und kaum von religiös und rassistisch motiviertem Antisemitismus geprägt. 

Achcar sieht die Tendenzen zum Ultranationalismus und Faschismus eher als reaktionäre Antwort auf den Kolonialismus und die politischen Konkurrenten im arabischen Raum. Achcar geht im Detail auf die wirren Ansichten solcher Reaktionäre ein und kritisiert sie ausgiebig. Achcar differenziert hier aber:

Es gilt zu unterscheiden zwischen jenen, die vorübergehend und in Abwägung ihrer Interessen gehandelt, aber ihre Distanz zum Faschismus gewaht haben, und denen, die sich zu ihrer ideologischen Übereinstimmung mit Rom und/oder Berlin bekannten und es mit ihrer Bindung an die Achsenmächte ernst meinten.

Außerdem zeigt sich in Achcars Untersuchungen, dass die arabischen Nationalisten die Juden vor antisemitischen Pogromen eher geschützt haben als es die europäische Bevölkerung tat. Auch lehnte der Großteil der Nationalisten die Nachahmung, Stärkung und Bewunderung des europäischen Rassismus, Antisemitismus, Faschismus und Imperialismus ab. Er vermerkt weiterhin

dass der schlimmste Antisemitismus, den [der Irak] in den 1940er Jahren erlebte, nichtnationalistischen Regierungen zuzuschreiben ist, sondern auf das Konto jenes Mannes geht, den die Nationalisten und generell die Bevölkerung am meisten hassten: des englandfreundlichen Nuri al-Sa’id, der 1949 in seiner Amtszeit als Premierminister drohte, die irakischen Juden massenweise zu vertreiben.

Die rechten Panislamisten


Was die “reaktionären und/oder fundamentalistischen Panislamisten” angeht, so gab und gibt es wie bei den Nationalisten auch hier eine breite Palette an Einstellungen. Der düsterste Antisemitismus samt Verschwörungstheorien, Zuschreibung überzeitlicher Merkmale, mangelnder Differenzierung zwischen Juden und Zionisten und rigidester Ablehnung der westlichen Kultur konkurriert mit der traditionell islamischen Toleranz gegenüber friedlichen Juden und Christen. Solch Panislamismus kann beides beinhalten. Er war aber eine reaktionäre Antwort auf den Kolonialismus des Westens:

[Diesem Panislamismus] sollte die Rolle eines islamischen Bollwerks gegen den Westen zukommen. Dieser Panislamismus neigte stets zur fanatischen Ablehnung der kulturellen Moderne des Westens. Reaktionäre und fundamentalistische, gegen den Westen und westliche Einflüsse eingestellte Muslime griffen daher das Banner des Panislamismus auf und verbündeten sich mit den arabischen Nationalisten in einem Kampf gegen die gemeinsamen Feinde. Je rechter die Einstellungen dieser Nationalisten, desto stärker waren die Bande zwischen den beiden Strömungen [...] Sie trafen sich in einer Mischform von arabisch-islamischem Nationalismus.

Nicht der Islam per se, nicht einmal der islamische Fundamentalismus oder politische Islam per se, sondern nur bestimmte Strömungen und Einzelpersonen innerhalb dieser waren antisemitisch oder nazifreundlich. 

Der Mufti von Jerusalem, die widerlichste Gestalt in diesem Zusammenhang, pendelte zwischen Rom und Berlin, um seine engen Kontakte zu den italienischen und deutschen Faschisten zu pflegen. Er übernahm sogar weite Teile der Naziideologie und machte arabischsprachige Propaganda für den NS-Staat. Aber seine Nähe zum deutschen Rassenantisemitismus entwickelte sich erst spät, als er nach einem Scheitern in der arabischen Welt dort sein eh nicht besonders großes Ansehen fast völlig verloren hatte. 

Auch der Wandel Rashid Ridas, einer wichtigen Person im Zusammenhang mit dem Wahabismus bzw. Salafismus, vom relativ toleranten Verteidiger der Juden zum wilden Antisemiten zeigt, dass selbst die reaktionärsten islamischen Strömungen nicht notwendiger Weise antisemitisch sein müssen. 

Achcar besteht darauf, dass die konkrete Betrachtung der sozialen Gründe für Antisemitismus und andere Einstellungen entscheidend ist:
Diese unerlässliche Kontextualisierung der arabischen Einstellungen gegenüber den Juden und dem Holocaust macht den entscheidenden Unterschied aus zwischen einer berechtigten und begründeten Verurteilung dessen, was tatsächlich verurteilenswert ist – wohl wissend, dass die arabischen Einstellungen breit gefächert und oft untadelig, wenn nicht sogar vorbildlich waren -, und jener unterschiedslosen Dämonisierung, die nur in araberfeindlichen Rassismus und Islamophobie münden kann.

Alles Reaktionäre?


Aus Achcars Ausführungen wird deutlich, dass im Grunde alle wichtigen politischen Strömungen im arabischen Raum antizionistisch waren. Zugleich wird klar, dass sich Liberale und Kommunisten ziemlich konsequent gegen den Faschismus und Antisemitismus engagiert haben, während Nationalisten und Panislamisten von relativ linken und demokratischen Einstellungen, die sich denen der Liberalen und Kommunisten annäherten, bis hin zu extremem Antisemitismus und bis hin zur Nähe zum Faschismus alle Varianten kannten. 

Allen Arabern von damals oder auch nur der Mehrheit zu unterstellen, sie seien Islamisten, Judenfeinde, Reaktionäre, Faschisten oder dergleichen gewesen, ist wissenschaftlich nicht haltbar und eine Art des Eurozentrismus bzw. Rassismus. Die arabische Bevölkerung scheint bis 1947 trotz ihres Antizionismus insgesamt weit weniger rassistisch und antisemitisch gewesen zu sein als die europäische Bevölkerung insgesamt. 

Das darf nie vergessen werden, wenn den Arabern oder Moslems unterstellt wird, sie seien wegen ihrer Kultur von Grund auf Antisemiten oder Antidemokraten. Solche Pauschalisierung ist bloß ein Mittel der Kriegsvorbereitung und der Unterdrückung. Das sollten sich auch pseudolinke Neokonservative und Rassisten merken. Vielmehr muss selbst bei Reaktionären unter den Arabern und Moslems anhand ihres Lebenslaufs differenziert werden, wenn man ihre Einstellungen zu den Juden wirklich ernsthaft betrachten will. 

Auch muss zwischen Juden, Zionisten, Israelis und den entsprechenden Einstellungen unterschieden werden. Gerade aber viele Zionisten in Israel und z.B. auch die pseudolinken Zionisten und Kriegstreiber in Deutschland unterscheiden selten ausreichend. Für sie sind israelische Juden und israelische Zionisten ebenso das selbe wie Araber, Moslems, fanatische arabische Nationalisten und fanatische antisemitische Panislamisten. 

Achcar zeigt, dass gewissenhafte politische Kritik nur mit gewissenhafter Differenzierung funktioniert.

Sonntag, 24. November 2013

Erklärung ohne Erklärung


1. "Du bist nicht das Geld auf deinem Konto! Du bist der singende, tanzende Abschaum der Welt!"

2. Du bist "ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen" und ich ja auch ... shit!

3. "Und ich bin über 10.000 Jahre alt und mein Name ist Mensch!"

4. "Ihr seid so, wie eure Leichen - Im Keller gefangen!"

5. "Wir haben einen Feind, der nimmt uns den Tag. Der lebt von unserer Arbeit und der lebt von unserer Kraft!"

6. "Der Bourgeois sieht in seiner Frau ein bloßes Produktionsinstrument!"

7. Combat in Warfare without a Revolution is like "Mortal Kombat" without a Finishing Move!

8. "Was wir alleine nicht schaffen - das schaffen wir dann zusammen!"

9. "Und es wird keine 10.000 Jahre mehr dauern, denn die Zeit ist reif!"

. Der Finishing Move gegen den Bourgeois - ?, Kreuz, Dreieck, ?, Viereck, L1, ?, links, links, links!

Freitag, 22. November 2013

Matt Damon fordert zivilen Ungehorsam in der Welt!


Das große Bild erkennen

Schöne Idee, wird aber nie funktionieren? Georg Lukács erklärt, warum so viele Menschen resignieren statt zu kämpfen. Diesem "gesunden Menschenverstand" hat sein Buch Geschichte und Klassenbewusstsein etwas entgegenzusetzen.

Als Volkskommissar der ungarischen Räterepublik erlebte der Philosoph Georg Lukács Revolution und Konterrevolution nach dem Ersten Weltkrieg hautnah mit. Seine theoretischen Schlussfolgerungen hielt er in dem Buch Geschichte und Klassenbewusstsein fest, das 1923 erstmals veröffentlicht wurde.

Die Essaysammlung hat die linke Debatte der letzten neunzig Jahre nachhaltig geprägt. Seither ist der Marxismus nicht mehr ohne Lukács zu denken.

Die Gedanken der Herrschenden

Im Jahr 2010 berichtete das Handelsblatt:
"Die Queen hatte bei einem Besuch der London School of Economics vor einigen Monaten die Ökonomen um Aufklärung gebeten, warum kaum ein Volkswirt die große Finanzkrise vorausgesehen habe. Viele von ihnen, so die Antwort der Forscher, hätten einzelne Krisenherde durchaus richtig erkannt und auch frühzeitig vor gefährlichen Ungleichgewichten in der Finanzindustrie gewarnt - aber kaum einer der Volkswirte sei in der Lage gewesen, die einzelnen Punkte zu verbinden, um so das große Bild zu erkennen."
Lukács hätte diese epochale Blamage nicht verwundert. Ein bekannter Ausspruch von Karl Marx hatte ihn inspiriert:
"Die herrschenden Gedanken sind immer die Gedanken der Herrschenden."
Lukács entwickelte Marxens Theorie weiter. Die Herrschenden sind im Kapitalismus die Kapitalisten, beziehungsweise das Bürgertum. Sie sind an der Sicherung ihrer Herrschaft und der Ausbeutung der Lohnarbeiter interessiert.

Aber die Kapitalisten konkurrieren untereinander auf Gedeih und Verderb um Profit. Lukács schloss daraus, dass sie "die kapitalistische Entwicklung stets vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten" betrachten, der von kurzsichtigem Profitstreben geprägt ist. Kein Wunder also, dass die heutigen bürgerlichen Ökonomen die Weltwirtschaftskrise nicht vorausgesehen haben und auch im Nachhinein nicht verstehen - von ihrem Klassenstandpunkt aus sind sie schlicht nicht dazu in der Lage, "das große Bild" zu erkennen.

Die Kritik der herrschenden Ideen ist zentral für Lukács. Als Revolutionär in Ungarn hatte er im Jahr 1919 miterlebt, wie die rechten Sozialdemokraten (ähnlich wie in Deutschland) die bürgerliche Ordnung stützten. Deshalb konnte sich die sozialistische Räterepublik nicht durchsetzen. Doch in Geschichte und Klassenbewusstsein geht es um mehr, als nur "Verrat!" zu schreien.

Lukács argumentiert, dass die Basis der Sozialdemokratie im Bewusstsein der Menschen zu finden sei. Die Stärke der Sozialdemokratie rührt daher, dass zentrale Elemente ihrer Politik Teils des Massenbewusstseins sind. Die Fixierung auf das Parlament und die Bereitschaft der meisten Menschen, politische Entscheidungen ihren parlamentarischen Stellvertretern zu überlassen, gehören unter kapitalistischen Bedingungen zum "gesunden Menschenverstand". Lukács stellt fest, dass das Verbleiben der Menschen "bei ihrem unklaren Klassenbewusstsein eine unumgängliche Voraussetzung des Bourgeoisregimes" ist. Wie aber kann die Macht der herrschenden Ideen aufgebrochen werden?

Selbstemanzipation der Arbeiterklasse

Hier setzt Lukács auf die Selbstemanzipation der Arbeiterklasse. Deswegen hatte sein Buch großen Einfluss auf die "Neue Linke" von 1968. Denn deren Revolte richtete sich genauso wie Lukács gegen die fatalistische Interpretation des Marxismus bei Sozialdemokraten und Stalinisten, wonach die Entwicklung des Kapitalismus quasi unvermeidlich und ohne revolutionäre Aktion der Massen zu einer besseren "sozialistischen" Gesellschaft führe. Im kapitalistischen Alltag gäbe es überhaupt keine Garantie für eine Entwicklung von Klassenbewusstsein und das Ausbrechen der Revolution, warnt hingegen Lukács. 

Darum ist für ihn die Parteiorganisation von zentraler Bedeutung. An diesem Punkt argumentiert Lukács im Buch jedoch teilweise schwach, denn in seiner Parteitheorie kam er dem späteren stalinistischen Slogan "Die Partei hat immer Recht" gefährlich nahe. Er identifizierte nämlich die kommunistische Partei mit dem sicheren Garanten der Revolution. Jedoch revidierte er diesen Standpunkt schon bald und wehrte sich jahrzehntelang gegen eine Neuauflage seines Buches. 

Lukács und Lenins Parteitheorie

Die Lektüre der Schriften Lenins veranlasste Lukács zu einer weit reichenden Selbstkritik. Er schrieb später, dass Lenin durch seine materialistische Analyse der Realität zu einer reifen Parteitheorie gekommen sei, während in Lukács eigener, von idealistischem Wunschdenken geprägten Theorie unklar geblieben sei, wie die Partei "das große Bild" der Strategie für die Revolution erkennen soll.

Die revolutionäre Partei ist auch bei Lenin die wichtigste Organisation, um die Verwirrung und Zersplitterung der Arbeiterklasse zu überwinden. In ihr kommen die Revolutionäre zusammen, um theoretische Reife und effektives Handeln der radikalsten und entschlossensten Arbeiterinnen und Arbeiter zu erreichen. Aber für Lenin, wie für den an Lenins Denken geschulten Georg Lukács ab 1924, war das keine Selbstverständlichkeit, sondern das Resultat von harten politischen und ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung und speziell auch innerhalb der Partei selbst.

Erst in diesen Auseinandersetzungen entwickelt sich ein Verständnis der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen und erst so kann sich ein differenzierter Standpunkt im Interesse der Mehrheit der Menschen herausbilden. Auf diesem Weg wird die Partei zu der Organisation, die entschieden und fähig ist, eine erfolgreiche Revolution zu beginnen. 

Spannend ist, dass Lukács Lenins Auffassung auch dann noch verteidigte, als er im ungarischen Volksaufstand des Jahres 1956 auf Seiten der Arbeiterschaft gegen den Stalinismus aufbegehrte. Das zeigt auch den Unterschied zwischen Leninscher und Stalinscher Parteitheorie. Die erste ist radikaldemokratisch und baut auf dem proletarischen Standpunkt auf. Letztere ist die Theorie einer bürokratischen herrschenden Klasse, die die Selbstemanzipation der Arbeiterklasse mit allen Mitteln verhindert hat.

Lukács ist trotz seiner idealistischen Tendenzen zu Recht ein Klassiker der marxistischen Ideologiekritik und gerade angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise immer noch aktuell.

Donnerstag, 21. November 2013

"Man muss stark sein" - eine Rezension zu "Captain Phillips"

Das moralische US-Bürgertum


"Captain Phillips" handelt nicht von Captain Phillips. Der Titel trügt. Der Film beginnt zwar so als wäre der Captain der Held des Films und in der ersten halben Stunde wirkt es noch immer so. Aber das ändert sich bald und es wird klar, dass der Captain in der Handlung des Films nur eine Nebenfigur ist. Der eigentliche Held des Films ist das US-Bürgertum.

Was ist die Handlung des Films? Richard Phillips, ein irischstämmiger Amerikaner und braver Kapitän, muss einen Frachter mit Rohstoffen und weiteren Produkten nach Somalia bringen. Es kommt, wie es kommen musste. Eine Gruppe somalischer Piraten versucht, das Schiff zu kapern, um damit für sich und ihre ominösen Bosse den Lebensunterhalt zu verdienen. Aber die Piraten stoßen auf den entschiedenen Widerstand der Schiffscrew von Captain Phillips und auf die überlegene staatliche Gewalt der weisen USA.

Gleich am Anfang des Films wird die Moral des braven US-Bürgers von Captain Phillips ausgesprochen, während er sich mit seiner Frau über die Zukunft ihrer Kinder in der heutigen globalisierten Welt unterhält:

"Für unsere Kinder wird es nicht leicht. Die werden in einer anderen Welt leben als wir in ihrem Alter. Die beiden entwickeln sich super, aber es beunruhigt mich, dass Danny die Schule nicht ernst genug nimmt. Ich meine, wenn er den Unterricht schwänzt könnte ihm das, es könnte ihm doch noch schaden, wenn er einen Job sucht. Weißt du? Bei der Konkurrenz! Als ich angefangen habe, konnte man es zum Kapitän schaffen, wenn man einfach fleißig seine Arbeit machte. Aber für die Jungs, die jetzt anfangen: Die Firmen wollen alles immer schneller und billiger. Fünfzig Typen streiten sich um jeden Job. Es ist nicht mehr wie früher. Es gibt einfach keinen Stillstand. Man muss stark sein, um da draußen zu überleben."

Die ganze Sprechweise von Phillips erscheint wie die eines schüchternen, ruhigen Bürgers, der seine Disziplin beherrscht, aber von der globalisierten Welt von heute ein wenig überfordert wird. Als er durch den Piratenangriff in die Rolle des Verteidigers seiner Crew gezwungen wird, zeigt sich, dass er durchaus ein "starker" Mann ist. Während er in Gefangenschaft gerät, hilft er seiner Crew mit allen gewaltfreien Mitteln, der Gewalt der Kriminellen zu entkommen. Letztlich wird er aber überwältigt und kann nur noch von der Streitmacht der USA gerettet werden. Der kleine Held wird damit zur Nebenfigur, die gegenüber dem amerikanischen Staat in den Hintergrund tritt. Sie repräsentiert die ganze Moral des Films und steht selten so erhaben da in einem Hollywood-Film. Ihre Widersacher, die kriminellen Globalisierungsverlierer, wirken hingegen wie ohne jede Moral.

Die kriminellen Globalisierungsverlierer


Die somalischen Piraten bleiben während der zweistündigen Handlung merkwürdig anonym. Sie werden zwar mit Namen genannt und aus der Nähe gezeigt. Aber der Zuschauer wird mit ihnen nie wirklich warm. Man erfährt nicht allzu viel über ihre Motive oder ihren Hintergrund. Allerdings gibt es einige Schlüsselszenen, in denen sie dem Zuschauer näher gebracht werden. An einer Stelle unterhält sich Captain Phillips mit einem der Entführer. Er versucht gar nicht, die Piraten zu verstehen, sondern stellt bloß die eigene Position dar:

"Wir hatten Nahrungsmittel für hungernde Afrikaner dabei. Auch für Somalia."
Sein Entführer wehrt sich mit einer Dritte-Welt-Kritik an der Globalisierung:

"Ja sicher. Reiche Länder helfen gern Somalia. Große Schiffe kommen in unser Meer. Nehmen alle Fische mit. Was sollen wir noch fangen?"

Offenbar waren die Piraten früher somalische Fischer. Der Fischgrund vor Somalia wurde von der westlichen Großfischerei ausgebeutet, womit den Fischern der Lebensunterhalt genommen war. Was ihnen übrig geblieben ist, ist offenbar die Piraterie. Die ungerechte Globalisierung produziert also das Übel der kriminell gewordenen Globalisierungsverlierer. Das wird im Film ganz deutlich. Die Piraterie ist der verzweifelte Protest der Dritten Welt.

Aber diese bietet den Piraten offenbar auch keinen Ausweg aus ihrer elenden Lage. Denn obwohl sie wöchentlich ein Schiff kapern und teilweise Millionen Dollar ergattern, kriegen sie davon offenbar so gut wie nichts. Das Beutegut muss an irgendwelche Bosse weitergeleitet werden, die nur an zwei oder drei Stellen kurz erwähnt werden. Die Bosse werden gewiss reich, während die Piraten selbst arme Teufel bleiben, die sich ausgerechnet mit einer Supermacht anlegen müssen.

Captain Phillips schlägt den Piraten mehrfach vor, eine Beute von 30.000 Dollar ohne weitere Konsequenzen mitzunehmen. Für somalische Verhältnisse ist das ein gewaltiges Vermögen. Aber die Piraten lehnen das mehrfach ab mit Verweis auf die zu kleine Summe und die Anforderungen ihrer Bosse.

Der Konflikt der altersweisen Supermacht mit den missgünstigen Globalisierungsverlierern


Natürlich werden sie dafür, dass sie das großzügige Angebot unseres braven Kapitäns ausschlagen von einer noch großzügigeren und größeren Gewalt konfrontiert. Die See-Streitkräfte der USA sollen den Konflikt lösen. Und wie sie ihn lösen!

Ganz anders als man die US-amerikanische Gewalt in Konflikten mit Vietnam, Afghanistan, Irak, Iran, Yugoslawien, Libyen, Syrien usw. kennt, tritt sie in diesem Film auf. In den genannten Konflikten ballern die US-Streitmächte wie wildgewordene Cowboys auf alles, was sich bewegt und massakrieren damit stets Unmengen an Zivilisten. Noch dazu foltern und misshandeln sie die Gegner. Die USA sind historisch gesehen wohl der aggressivste, brutalste und unmoralischste Staat der Weltgeschichte. Sie heucheln ein großes Interesse an Freiheit und Demokratie vor, während sie diese zwei Ideen sogar im eigenen Land den Bordstein beißen lassen.

In "Captain Phillips" erscheint die wild gewordene Supermacht jedoch wie der altersweise Sheriff der globalisierten Welt. Den Piraten wird mit großer Geduld und sehr verständnisvoll eine friedliche Lösung nach der anderen angeboten. Die Offiziere und Soldaten der Supermacht wirken durchgehend wie disziplinierte Diener ihres Staates und der ganzen Welt. Sie sind Verkörperungen eines höheren Prinzips, einer höheren Moral, die sich ihrer völligen Überlegenheit völlig bewusst ist. Die schlecht bewaffneten und durchaus unmoralischen Piraten der Dritten Welt treffen hier auf eine haushoch überlegene Militärmacht, die mit allen Mitteln für globales Recht und Ordnung eintritt. Dass die Piraten dabei nicht allzu gut wegkommen, sollte den Zuschauer nicht wundern.

Das wird dann auch von Captain Phillips, dem Vertreter des braven US-Bürgertums, am Ende des Films moralisch gerechtfertigt. Denn obwohl die Motivation und die naive Hoffnung der Piraten auf einen Ausweg aus ihrem Elend erwähnt werden, sind sie im Film letztlich doch nur Kriminelle, die es dem Rest der Welt nicht gönnen, von der Globalisierung profitiert zu haben. Gegen die zu Verbrechern gewordenen Fischer ruft der Captain protestierend aus: "Ihr seid keine einfachen Fischer!" Deren Schicksal ist damit besiegelt. Die weise Supermacht USA siegt daher natürlich. Sie setzt in der Handlung durch, was als Moral des Films und des US-Bürgertums gelten darf: "Man muss stark sein".

Dienstag, 19. November 2013

Einer, der durch Freiheitsliebe beeindruckte

Ganz zu Unrecht unbekannt


Dem 1995 verstorbenen Marxisten und humanistischen Aufklärer Leo Kofler ist ein Lesebuch gewidmet, das neidisch macht, dieser so integeren Persönlichkeit nie selbst begegnet zu sein.

Adorno, Horkheimer, Marcuse – das sind Namen westdeutscher Nachkriegslinker, die der linken Jugend noch zu Recht halbwegs geläufig sind. Fast ganz vergessen ist dagegen ganz zu Unrecht der Name Kofler.

Denn Leo Kofler (1907-1995) überragte solch bedeutende Intellektuelle nicht nur körperlich mindestens um einen Kopf, sondern auch intellektuell und politisch, und da mindestens um zwei Köpfe.


Ernst Bloch, der weltbekannte Philosoph des Prinzips Hoffnung, lobte an Kofler, er wende „das ganze detektorische Vermögen des Marxismus“ bei der Kritik des Kapitalismus des 20. Jahrhunderts an. Der bedeutende Marxist Georg Lukacs, der zu Koflers Lehrern gehörte, lobte Kofler für seine Gegnerschaft Adorno gegenüber. Denn Adornos “Marxo-Nihilismus” habe den leidenschaftlichen Revolutionär Marx sozusagen zum toten Hund gemacht. 

Das Buch geht auf solche Freundschaften und Animositäten in zahlreichen Beiträgen ein. Die Beiträge kommen von Menschen, die Leo Kofler persönlich begegnet waren. In ihnen wird Koflers persönlicher und politischer Charakter sehr plastisch dargestellt: ein prinzipientreuer und eigensinniger Marxist und Humanist.

Eingeleitet wird das Lesebuch durch die Herausgeber Jakomeit, Jünke und Zolper, die in ihrem Vorwort erklären, wieso Kofler heute noch so wenig bekannt ist:
"Wer in Zeiten repressiver Toleranz überall aneckt, weder über eine institutionelle Hausmacht noch einen politisch-theoretischen Zusammenhang verfügt, über den wird auch nicht diskutiert."

Aber so war er eben: unbeugsam


Kofler war ein marxistischer Einzelgänger wie kein zweiter, der nicht nur durch seine intellektuelle (und physische) Größe, sondern auch seine moralische Unbeugsamkeit beeindruckte. Wolfgang Abendroth lobt Kofler in einem Beitrag dafür, dass er seine konsequent sozialistische Kritik immer freimütig äußerte, egal wen er vor sich hatte. Nachdem Koflers jüdische Familie den Nazis zum Opfer gefallen war und Kofler nach seiner Flucht aus Österreich einige Jahre im Schweizer Exil verbracht hatte, bereitete er den Stalinisten der DDR ab 1947 Kopfschmerzen.

Sein Marxismus war geprägt vom sozialdemokratisch regierten “Roten Wien” und dem undogmatischen Marxisten Max Adler. Kofler hoffte damals noch ganz naiv, dass die DDR eine humanistische Alternative bieten würde. Dort wurde er dann auch Professor. Schnell wurde er für seine inhaltlich und rhetorisch glänzenden Vorlesungen bekannt. Zugleich kritisierte er den Dogmatismus der SED-Bürokratie. Alfred Kosing, ein damaliger Genosse, schreibt:
"Jedenfalls brachte seine Kritik Kofler die schwerwiegende Beschuldigung des Trotzkismus ein, was in jener Zeit ein politisches Todesurteil war."
1950 floh Kofler deswegen nach Westdeutschland, wo er fortan die Ideologen der BRD ärgern sollte. Er fing damit grandios an, als der BRD-Nachrichtendienst Kofler um Hilfe bei der Bekämpfung der DDR und der Verherrlichung der BRD bat. Kofler antwortete ganz höflich:
"Meine Herren, vergessen Sie bitte nicht, ich bin Marxist!"
Kofler eckte dann auch bei diversen Dogmatikern und Bürokraten etwa in der SPD, den Gewerkschaften und an den Unis im Westen an. Auch deswegen konnte er in keiner dieser Organisationen richtig Fuß fassen. Vielmehr verbrachte er die meiste Zeit als eine Art sozialistischer Wanderprediger. 

Erst in den 70ern wurde er auf Drängen von Studierenden wieder Professor, diesmal aber in Bochum. Stets waren seine Vorlesungen extrem beliebt. Christoph Jünke, Vorsitzender der Leo Kofler-Gesellschaft e.V., schreibt in seinem Beitrag über Koflers Ausschluss aus den großen linken Institutionen im Westen:
"Als erneut heimatloser Linker schlägt sich Kofler im restaurativen Klima der Adenauer-Zeit mit Vortragsreisen zu Gewerkschaften, Volkshochschulen und dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) durch. Die westdeutschen Hochschulen bleiben ihm dabei ebenso verschlossen wie die größeren gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Bildungseinrichtungen."

Der Babo persönlich

Koflers Stalinismuskritik


Nach seiner Flucht aus der DDR entwickelte Kofler seine systematische marxistische Stalinismuskritik. Er führte die Entstehung des Stalinismus nicht auf angeblich totalitäre Ansätze in der marxistischen Theorie oder Praxis zurück, sondern auf die katastrophale Lage der Sowjetunion in den 20er Jahren. 

Nach dem ersten Weltkrieg, Invasion und Bürgerkrieg waren Arbeiterklasse und Demokratie in Russland so weit geschwächt, das sich die bürokratische Fraktion der Arbeiterpartei unter Stalin in eine “heillos terroristische Diktatur” verwandelte. Kofler selbst schrieb:
"Aber gerade in Rußland, wo unter der Voraussetzung der mangelnden demokratischen Tradition und des Fehlens einer entwickelten Industrie sich die bürokratische Selbstherrlichkeit mit der Sucht, ohne Rücksicht auf die menschlichen Bedürfnisse zu akkumulieren, verband, konnte die typisch stalinistische Bürokratie entstehen."
Damit wurde das anfangs noch humanistisch motivierte sozialistische Projekt in Russland zerstört und durch eine inhumane bürokatische Praxis und schablonenhafte Denkweise ersetzt. Kofler erkannte dies aber erst, nachdem er selbst 1950 vor seiner Flucht Opfer dieses stalinistischen Denkens und Tuns wurde. Seither war er von der notwendigen Einheit von Sozialismus und Demokratie überzeugt. Kofler dazu wörtlich:
"Ohne die direkte Anteilnahme der demokratischen Kräfte des Volkes an der Regierung und ohne direkte demokratische Kontrolle durch das Volk muß jede Planwirtschaft bürokratisch entarten; bei Vorhandensein dieser Kräfte und einer solchen Kontrolle kann die Planwirtschaft nicht bürokratisch entarten"

Freiheit für die Einzelnen


Oskar Negt führt in seinem Beitrag über Kofler aus, wie wichtig es ist, Humanismus und Marxismus zu verbinden und wie fatal die stalinistisch-bürokratische Praxis und Theorie auch heute noch sind. Sozialismus geht zwar nicht ohne sich kollektiv zu organisieren, aber auch nicht ohne sich individuell selbst zu verwirklichen. 

Das war einer der zentralen Unterschiede zwischen Kofler und den linken Bürokraten, die zwar Sozialismus im Kopf gehabt haben mögen und sich dafür aufopferten, aber darüber ganz vergaßen, dass die neue Gesellschaft vor allem mehr Freiheit für die Einzelnen bringen sollte! Kofler verteidigte dagegen immer die Freiheit und Integrität der Persönlichkeit.
"Und es ging ihm darum, [...] diejenigen Tendenzen in der Gesellschaft zu unterstützen, die in Richtung Freiheit, Gerechtigkeit und Aufhebung der Klassenherrschaft weisen."
Die Freiheit des Menschen war das zentrale Thema Koflers. Unzählige Publikationen widmen sich dem Thema explizit. Ursula Wendler schreibt in ihrem Beitrag über ihre Begegnung mit Leo Kofler an der Volkshochschule in Marl:
"Besonders beeindruckt haben mich die Freiheitsliebe und sein Eintreten dafür, dass jegliche Form politischer Orientierung von Menschen die Freiheit der Menschen nicht ausschließen darf, und das bezog er auch auf den Kommunismus. Diese Erinnerung ist für mich untrennbar mit Kofler verbunden."

Koflers marxistisches Menschenbild 


Er entwickelte eine sehr weit reichende anthropologische Theorie, in der das Wesen und die Geschichte des Menschen unmittelbar mit seinem Drang nach Freiheit verbunden werden. Die menschliche Arbeits- und Bewusstseinsfähigkeit ermöglicht es dem Menschen, sich für Ziele zu entscheiden und die Ziele in die Realität umzusetzen.

Unter den gegebenen Umständen zielt er damit auf die Verbesserung seiner Umstände, auf Fortschritt, auf mehr Freiheit. Und so macht der Mensch sich seine Geschichte selbst. Geschichte wird damit verständlich als Fortschritt der menschlichen Gesellschaft. Silvia Lange dazu:
"Leo Kofler begründet die Notwendigkeit einer marxistischen Anthropologie zum einen damit, dass jede kritische Gesellschaftstheorie ein spezifisches Bild vom Menschen voraussetzt, zum anderen fehlt, wenn man den Menschen nur historisch betrachtet, jeder Maßstab zur Beurteilung historischen Fortschritts."
Bernard Willms merkt in seinem Artikel “Marxismus und anthropologische Selbstverwirklichung” zur zentralen Rolle der Koflerschen Theorie an:
"Mit dieser anthropologischen Wende wurde dem Marxismus eine ursprüngliche Würde zurückgegeben, indem der Mensch wieder in den Mittelpunkt gerückt wurde, eine Würde, die in Ökonomismus, Bürokratismus und Dogmatismus – und in sehr viel Blut – ertränkt worden war."

Koflers Geschichtsauffassung 


Koflers unbeirrbarer Optimismus, der so charakteristisch für ihn war, speiste sich aus der Erkenntnis, dass die Geschichte bislang trotz aller Rückschläge tatsächlich immer höhere Stufen der Freiheit erreicht hat. Das zu leugnen kann sich nur jemand leisten, der sich darum aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung nicht kümmern brauch oder sich total deprimiert mit dem gegenwärtigen Zustand abfindet.

Der Kapitalismus hat z.B. mittlerweile enormen Wohlstand für viele Menschen ermöglicht und wird häufig immerhin von einer demokratischen Hülle verziert. Menschenrechte und soziale Rechte wurden seit dem zweiten Weltkrieg enorm gestärkt. Diskriminierungen wurden oft abgeschwächt. Das sind enorme Fortschritte schon im Vergleich zu den modernen westlichen Gesellschaften vor ein paar Jahrzehnten, geschweige denn im Vergleich zur Antike oder zum Mittelalter.

Dialektik bei Kofler


Kofler wusste aber auch ganz genau, dass Geschichte nicht geradlinig verläuft, sondern durchaus widersprüchlich ist. Seine Gesellschaftskritik speiste sich aus seiner Aneignung der Dialektik von Hegel, Marx und Lukacs. Für Kofler war Dialektik nicht bloß sophistisches Gerede, sondern ein mächtiges Werkzeug der Sozialisten, um die Welt nicht nur zu richtig interpretieren, sondern um sie auch zu verändern. 

Dialektik verstand er u.a. als Methode zum Verständnis von Geschichte. Anders als die Ökonomisten des Ostblocks, die alle gesellschaftlichen Phänomene direkt aus der Wirtschaft ableiten wollten und das als “Dialektik” verkauften, war Dialektik für Kofler eine wesentlich vielseitigere und buntere Angelegenheit. Die vielen widersprüchlichen und gegenläufigen geschichtlichen Entwicklungstendenzen können mit Hilfe von Koflers Dialektikkonzept besser verstanden werden. 

Dass etwa die Sowjetunion zunächst als Fortschritt für die Menschheit angefangen hatte, dann aber in einen Rückschritt umschlug, war für viele Marxisten nicht begreifbar. Sie hielten dogmatisch an der moralischen Sauberkeit der Sowjetunion fest. Kofler dagegen brach mit seinen anfänglichen Illusionen über den Ostblock, um sich sein kritisches marxistisches Denken zu bewahren. 

Genauso konnte Kofler die Entwicklung der westlichen Sozialdemokratie, der Grünen oder des “Marxo-Nihilismus” von Adorno ergründen. Grüne heute haben oft die Vorstellung, sie seien noch immer fortschrittlich, obwohl sie das Gegenteil dessen tun, was die Partei noch in ihrer Anfangsphase wollte. Erst wurden Frieden, Gerechtigkeit, Sozialismus und Umweltschutz gefordert. Nun unterstützen sie Krieg in anderen Ländern, wobei sie die dortige Umwelt verpesten und zugleich Menschen bombardieren lassen, und bauen in Deutschland den Sozialstaat ab. 

Ähnlich ist es mit der SPD und vielen nicht mehr allzu linken Anhängern Adornos. Das dialektische Denken à la Kofler aber versteht solche historischen Umschwünge und kann sie teils sogar vorhersehen, weil es sich auf die Widersprüche dieser Schulen und Bewegungen fokussiert. 

Dieter Matten schreibt in seinem “Mein Kofler” betitelten Artikel über Koflers Position zu Habermas und die Grünen:
"Kofler [...] formulierte die Vorhersage, dass in 20 Jahren kein fortschrittlicher Denker sich mehr ernsthaft auf Habermas beziehen würde und dessen Theorem stattdessen als neue Herrschaftsideologie etabliert würde. Wir alle sehen heute, wie sehr er damit Recht behalten hat. Habermas hat längst Popper als Lieblingsphilosophen der Herrschenden abgelöst. Schließlich wurden die Grünen und Alternativen zu den Hoffnungsträgern [...] Auch hier war sehr schnell Koflers Position überdeutlich. Die Vertreter dieser neuen Partei aus APO-Zeiten kannte er meist aus früheren Begegnungen und prangerte ihre theoretischen Defizite an. Dass dies alles zu Recht geschah und wieder den Scharfsinn Koflers beweist, der aus den Kriterien seiner Theorie abzuleiten ist, wissen wir doch heute alle. Kofler sagte im Jahr 1983 [...] voraus, dass in kürzester Zeit die Grünen verbürgerlichen würden und am Ende ganz sicher Koalitionen mit der CDU und anderen reaktionären Parteien eingehen würden."
Weitere Beiträge im Buch thematisieren Koflers Theorie der progressiven Elite (humanistisch orientierte Aktivisten und Intellektuelle), seine eigenartige Literaturtheorie, seine großartige Ideologiekritik und diverse andere seiner Themen. Jedenfalls zeigt die inhaltliche Auseinandersetzung mit Kofler, dass er das war, wofür er von einem der bedeutendsten Marxisten des 20. Jahrhunderts, Ernest Mandel, in seinem Brief an Kofler gelobt wurde: ein selbständiger, revolutionärer Denker.

Der bürgerliche Bürgerschreck Leo Kofler


Norbert Hruby und andere beschreiben in dem Lesebuch auch Koflers persönliche Seite. Hruby schreibt, man hätte Kofler für einen “Bürger im Sonntagskleid” halten können, wenn man seine Schriften nicht zuvor schon kannte und beschreibt Koflers scheinbaren Widerspruch zwischen sozialistischer Selbstdarstellung und bürgerlicher Wohnweise.

Er ließ sich, scheinbar wie ein professoraler CDU-Wähler, nie von seinen Studierenden duzen, trug gerne seinen Anzug mit Krawatte, pflegte wohl auch bürgerliche Tischmanieren, heiratete eine Frau aus gutbürgerlichem Hause und bestand entschieden darauf, dass auch ein Linker die Pflicht habe, eine Ehe ohne Trennung durchzuhalten.

Man könnte denken: wie spießig! But look who is talking! Gerade die selben Menschen, die einem gestandenen Sozialisten wie Kofler Spießertum vorwerfen (oder vorwarfen) sind in Wirklichkeit nicht selten gleichzeitig unfassbar unpolitisch oder befürworten vielleicht sogar Sozialabbau, antimuslimischen Rassismus und “humanitäre” Kriege!

Die westdeutsche Gesellschaft, in der solche wirklich nationalistischen und bürgerlichen Ideologen auch mal grün und rot gefärbt sein können, bezeichnete Kofler allerdings schon früher als “Saustallgesellschaft”. Außerdem stammt von ihm der Satz: “Auch ein Faschist kann für die Umwelt sein!” Man sollte sich daher merken: Lieber ein wirklich alternativer Spießer als ein pseudoalternativer Neokon!

Kofler selbst beschreibt in dem Lesebuch sein Treffen mit Ernst Bloch bei einem – wieder bürgerlich scheinenden – Abend-Dinner. Ernst Bloch stellte den Anwesenden beim Dinner die Frage: “Wo ist der Kofler?”, worauf Kofler gewitzt stichelte: “Ich stehe, wie immer, links von Ihnen”.

Wer also einen Einstieg in Biographie, Theorie und Charakter eines wirklich selbständigen, revolutionären Denkers und marxistischen Humanisten finden will, dem sei das Lesebuch “Begegnungen mit Leo Kofler” wärmstens empfohlen.

Alle Anderen, die nach Alternativen suchen, mögen sich überlegen, ob sie diese noch unbedingt bei den GrünenPiraten oder der AfD finden wollen oder ob sie nicht lieber nach Texten Koflers auf der Homepage der Leo Kofler-Gesellschaft e.V., bei Amazon oder in der lokalen Bibliothek stöbern sollten.

Dieser Artikel ist eine veränderte Spiegelung des Artikels "Ein marxistischer Einzelgänger, der durch Größe und Freiheitsliebe beeindruckte" auf freiheitsliebe.de.

Montag, 18. November 2013

Bei Dao: "Ramallah"


In Ramallah

(Leseprobe aus: Das Buch der Niederlage, Gedichte, 2009, Edition Lyrik Kabinett bei Hanser - Übertragung Wolfgang Kubin).

In Ramallah
spielen die Alten am Sternenhimmel Schach
Ihre letzten Züge sind mal hell, mal dunkel
Ein Vogel springt aus dem Uhrengehäuse
und kündet die Stunde 
In Ramallah
steigt die Sonne den Alten gleich über die Mauern
Sie durchstreift die Flohmärkte
und erhellt sich selbst
auf rostigen Kupfertellern 
In Ramallah
trinken die Götter Wasser aus Tonkrügen
Bögen befragen einzelne Saiten nach dem Weg
Ein Knabe geht zum Horizont
das Meer zu beerben 
In Ramallah
sät mittags der Tod
Vor meinem Fenster beginnt es zu blühen
Die Bäume trotzen dem Wirbelsturm
der ursprünglichen Form alles Ungestümen

Aktuelle Reformen in China, Teil 2: Laogai, der chinesische Gulag

Umfangreiche Reformen? Das Vorwort déjà vu

"Chinas kommunistische Führung hat bei einem Spitzentreffen überraschend umfangreiche gesellschaftliche Reformen in die Wege geleitet."
Das liest man in der Süddeutschen Zeitung. Das Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei (KP) hat eine Woche lang getagt und nun die seit letzter Woche bereits versprochenen Reformen konkretisiert.

Ich hatte vor wenigen Tagen im Artikel "Einschneidende Reformen in China und eine Bo Xilai-Partei?" einschneidende Reformen für unwahrscheinlich erklärt, weil sie solche Reformen gegen das Interesse der herrschenden Bürokraten und Oligarchen verstoßen würden. Dabei bleibe ich. Allerdings überrascht die Chinas Führung die Welt mit Reformen, die "verhältnismäßig weit gehen".

Es sind kluge Reformen, die auch einem großen Teil der riesigen chinesischen Bevölkerung helfen dürften. Man sollte die Reformen daher begrüßen. Sie gehen in die richtige Richtung und können als Fortschritt gelten. Die neue Führung um Xi Jinping und Li Keqiang, die seit einem Jahr die KP leitet, beweist damit, dass sie aus klugen Köpfen besteht. Man darf hoffen, dass sie auch mit der seit einer Woche bestehenden chinesischen Partei der Verfassungshoheit (Zhixiandang) klug umgehen werden. Die hat sich nämlich mit dem in Ungnade gefallenen Bo Xilai solidarisiert.

Die Reformen sollen so verschiedene Bereiche umfassen wie:
  1. die Arbeitslager 
  2. die Ein-Kind-Politik 
  3. die Marktwirtschaft 
  4. das soziale Sicherungssystem 
  5. weitere Maßnahmen, die noch unklar sind. 
Das geht viel weiter als viele der Kommentatoren in den Medien erwartet hatten. Aber es geht nicht so weit, dass man die Reformen als sonderlich einschneidend oder radikal bezeichnen sollte. Sie gehen nämlich nicht an die Substanz des existierenden Systems. Die Reformen sind staatstragende Reformen ganz im Interesse der herrschenden Klasse der Bürokraten und Oligarchen. Deren politische und ökonomische Vorteile gegenüber der unterdrückten Bevölkerung sollen offenbar nicht angetastet werden. Es sind Reformen zur Stabilisierung der "staatsbürokratischen Klassengesellschaft" Chinas. Aber es lohnt sich, den Charakter der angekündigten Reformen im Detail zu erfassen. Im folgenden wird die Abschaffung der Arbeitslager thematisiert.

Das chinesische System der Lager - Laogai (劳改) und Laojiao (劳教)


Der chinesische Gulag


Das System der Arbeitslager, das in der Sowjetunion unter dem Namen "Gulag" bekannt geworden ist, gab es bis jetzt auch in China. Das chinesische Arbeitslager bzw. Umerziehungslager wird als "laogai" (劳改) oder "laojiao" (劳教) bezeichnet, was so viel heißt wie "Reform durch Arbeit" und "Umerziehung durch Arbeit".

So wie das russische System in Solschenizyns Roman "Der Archipel Gulag" eine oppositionelle Anklageschrift fand, fand das chinesische Pendant einen Ankläger in Bao Ruowang. Als "Gefangener bei Mao", wie sein Buch heißt, hatte er zehn Jahre seines Lebens üble Erfahrungen machen müssen mit menschenunwürdiger Inhaftierung, Gehirnwäsche, Folter und Zwangsarbeit. Er erklärt die Besonderheit und Funktion des chinesischen Lagers mit folgender Beschreibung:
“In unserer sauberen und heiteren Welt besteht kein Mangel an Ländern, die ihre modernen Zivilisationen mit Hilfe von Deportationsgebieten, Konzentrationslagern und Gefängnissen aufgebaut haben. Vor allem die Sowjets haben es in dieser Hinsicht bemerkensweit weit gebracht. Aber verglichen mit dem Vorgehen der Chinesen nach ihrer siegreichen Revolutioin im Jahre 1949 waren die sowjetischen Maßnahmen [...] ganz und gar unzulänglich. Was die Russen nicht verstanden und was die chinesischen Kommunisten die ganze Zeit über gewußt haben, ist, daß Arbeit niemals produktiv oder gewinnbringend sein kann, wenn sie nur durch Gewalt oder Folter erzwungen wird. Die Chinesen haben als erste die Kunst beherrscht, Gefangene zu motivieren, und genau darum geht es bei Lao Gai.”
Die Lager dienen also der “Motivation” von Gefangenen. Aber sie dienen noch mehr der “Motivation” der Gesamtbevölkerung. Jedes Jahr sitzen über eine Million Häftlinge in chinesischen Lagern ein. Insgesamt sollen es über 50 Millionen gewesen sein. Der Großteil besteht aus Häftlingen, die als "kriminell" definiert wurden. Ein gewisser, wenn auch kleiner Teil der Häftlinge ist offiziell aufgrund politischer Gründe inhaftiert. Die Inhaftierung kann Jahre lang dauern, teils auch ohne ordentlichen Rechtsprozess. Jeder Chinese weiß, dass es derartige Lager gibt und dass jeder prinzipiell ein Opfer der Lager sein kann, wenn er den Herrschenden in China unangenehm auffällt. Chinesen sind daher “motiviert”, den Herrschenden nicht negativ aufzufallen.

Rechtsstaatlichkeit in China


Das Recht auf einen ordentlichen Prozess ist in China zwar vorgesehen, aber durchaus nicht Gang und Gäbe. Die Rechtsstaatlichkeit entwickelt sich in China erst mit der liberalen Marktwirtschaft und vertiefter Integration in den Weltmarkt - könnte man meinen. Tatsächlich ist Rechtsstaatlichkeit aber ein Resultat von politischen Kämpfen. Rechte sind in unserer “sauberen und heiteren Welt”, in Deutschland und den USA genauso wie in China, leider keine Selbstverständlichkeit. Sie müssen regelmäßig erkämpft und verteidigt werden von den aktiven Vertretern der unterdrückten Klassen. Rechte sind eine Art öffentlich garantierter Schutz vor der Willkür der Staatsmacht, die im Interesse der herrschenden Klassen agiert.

Bisher wurden alle rechtlichen Errungenschaften in der VR China von der ungehinderten Praxis des Lagersystems überschattet. Die rechtsstaatlichen Fortschritte in China werden also stets von der prinzipiellen Rückschrittlichkeit des Strafsystems relativiert. In China äußert sich diese Rückschrittlichkeit in noch größerem Maße als in Deutschland oder England im reaktionären Prinzip der Schreckensherrschaft.

Das Prinzip der Schreckensherrschaft


Eine Waffe der Herrschenden


Die Lager fungieren seit ihrer Gründung als Furcht einflößende Waffe der herrschenden KP-Bürokraten. Diese Waffe ist gegen die Bevölkerung gerichtet, die der Verfügungsgewalt der Herrschenden untersteht. Das ironische daran ist, dass die herrschenden Klassen aller Länder stets nichts mehr fürchten als eine Bevölkerung, die frei von Angst zu großen historischen Taten ermutigt ist. Daher war es stets die Aufgabe der Fürsten, Könige, Kaiser, Despoten, Präsidenten und ihrer Minister, die Bevölkerung ängstlich, demütig und klein zu halten. Seit der Spaltung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte werden daher allerhand ekelhafte Methoden erprobt und weiterentwickelt, um den zu mutigen Menschen Angst und Schrecken einzuflößen.

Zuckerbrot und Peitsche


Natürlich belohnen die staatlichen Herrschaften loyale Untertanen, die die Klassenherrschaft bereitwillig unterstützen oder zumindest hinnehmen. Genau dieses Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche der mächtigen Herren gegenüber der ohnmächtigen Masse wird in verschärfter Form in den chinesischen Lagern angewandt. Bao Ruowang beschrieb in "Gefangener bei Mao", wie dieses Prinzip sogar wörtlich auf Spruchbändern in den Lagern zu lesen war:
“Milde für die, die gestehen; Strenge für die, die Widerstand leisten; Vergebung für die, die sich verdient machen; Belohnung für die, die sich durch besondere Verdienste auszeichnen.”

Schreckensherrschaft und autoritäre Erziehung  


Das Spruchband ist in China noch immer ein beliebtes Mittel staatlicher Propaganda. Spruchbänder behandeln die Leser wie unartige Kinder, die an moralische Regeln immer wieder erinnert werden müssen. Man läuft an den Sprüchen immer wieder vorbei und lernt ihre Aussagen so auswendig wie ein fabelhaftes Kindergedicht. Aber man muss gar nicht nach China reisen, um solch einfache Methoden der Erziehung einer infantil gehaltenen Bevölkerung zu finden.

Grundsätzlich funktioniert autoritäre Erziehung von Kindern nach dem selben Prinzip wie ein Arbeits- oder Erziehungslager. Und es gibt kaum einen Unterschied zwischen autoritärer Erziehung in “westlichen”, “orientalischen” oder “asiatischen” Klassengesellschaften. Unartige Kinder werden von den artigen Kindern abgesondert, vielleicht in die Ecke gestellt, angeschrien, beleidigt oder sogar geschlagen. Der Drang aufmüpfiger Kinder nach Wirkmächtigkeit wird auf diese weise niedergehalten. Die Kinder werden künstlich kleiner gemacht als sie sind.

In subtileren Formen der autoritären Erziehung, wie sie nach vielen Kämpfen für Rechtsstaatlichkeit nun auch in Deutschland vorherrschen, werden aufmuckende Kinder bloß mit schlechten Noten in ihren Fächern, mit Kopfnoten für ihre Manieren, mit Sitzenbleiben oder sogar mit schlechteren Schulabschlüssen bestraft. Schulen mit solcher Erziehung dienen der Disziplinierung der heranwachsenden Unmündigen. Die noch unmündigen Kinder werden belohnt oder auf abschreckende Weise bestraft für ihre Haltung zur erziehenden Autorität, damit sie später in mündige und unmündige Erwachsene geteilt werden können. Dazu ist es notwendig, dass sie ihre ungewünschte Aktivität und unerwünschte Neugier unterlassen.

Mündige und Unmündige in der Klassengesellschaft


Die Heranwachsenden sollen ja loyale Untertanen werden, die bereitwillig die Arbeit für die Herrschenden unterstützen oder hinnehmen. Sie müssen die Mehrheit der Bevölkerung stellen, damit der Wohlstand der Herrschaften dauerhaft bestehen kann. Die Bevölkerung wird also in diese Unmündigen und in Mündige geteilt. Mündige Menschen, die sich ihres eigenen Verstandes bedienen und ihre Interessen klar erkennen, sollen in der Minderheit bleiben. Wenn sie herrschafskonform sind, werden sie üblicher Weise materiell und ideell belohnt, damit sie es auch bleiben.

Mündige Menschen, die sich nicht unterordnen, in diesem Sinne "undiszipliniert" sind,oder vielleicht sogar gegen die Ungerechtigkeit der Klassenherrschaft rebellieren, werden dagegen prinzipiell als Taugenichtse, weltfremde Aussteiger oder gar als gemeingefährliche Terroristen verunglimpft.

Auch da gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Deutschland, den USA oder China, sondern bloß einen graduellen. Sowohl der westliche Kern des globalen Kapitalismus wie auch die nicht-westliche Peripherie teilen ihre Bevölkerung in die große unmündige Masse und in die mündige Elite. Es gibt glücklicherweise Ausnahmen, etwa eine relativ antiautoritäre Erziehung in einigen deutschen Schulen oder die Erziehung in den skandinavischen Ländern im Allgemeinen.

Aber auch das verhindert die letztliche Einteilung der Bevölkerung in mündige Elite und unmündige Masse nicht. Antiautoritäre Erziehung ersetzt nun Mal keine revolutionäre Umwälzung der repressiven Klassenverhältnisse.

Gehirnwäsche ist keine Spezifik der chinesischen Arbeitslager. Gehirnwäsche wird auch durch die autoritäre Erziehung bei uns, durch unser Schulsystem, unser Strafsystem, unser Lohnsystem, unser politisches System und natürlich durch unsere Medien erreicht.

Natürlich sind es brave Bürger, die an die Ideale unserer Gesellschaft mehr oder weniger glauben und damit glaubwürdige Handlanger des Systems sind. Mit Kreide, Knüppel oder Lohnsteuerkarte in der einen Hand bewaffnet, waschen diese Handlanger unsere Gehirne mit der anderen Hand, ohne es unbedingt zu wollen. Denn die ganze Organisation der Klassengesellschaft dient dem Systemerhalt. Das chinesische Lager ist nur eine besonders abschreckende Form der Gehirnwäsche. Es ist seinem Wesen nach Abschreckung der Bevölkerung vor einem allzu rebellischen Auftreten.

Die Funktion des chinesischen Lagers


Unterwerfung des eigenen Willens unter die Autorität eines anderen


So kommen wir nach dem Exkurs über das allgemeine Prinzip der Schreckensherrschaft langsam zurück nach China, um die Spezifik der dortigen Herrschaft durch das Lagersystem herauszuarbeiten. Über die gehirngewaschenen Gefangenen, auf die Bao Ruowang im Lager traf, schrieb er:
"Als Chinese weiß und akzeptiere ich, daß ein Mensch den Wunsch hat, sich gut zu benehmen und Bereitwilligkeit und Loyalität zu zeigen; das ist ein typisch chinesischer Zug. Aber dieser Mann und anscheinend auch die anderen schienen das Bedürfnis zu haben, ihre Selbstlosigkeit und Treue ständig zu betonen. Und das ist schließlich das entscheidende Kriterium einer Gehirnwäsche: Unterwerfung des eigenen Willens unter die Autorität eines anderen."
Die Gehirnwäsche durch chinesische Lager ist der Inbegriff von staatlichem Terrorismus. Eine politisch motivierte Gruppierung, die herrschenden Bürokraten und Oligarchen Chinas, bringen die Bevölkerung in China durch Angst und Schrecken von politisch radikalem Auftreten ab oder mindern ihre Neugier nach Aufklärung.

Das funktioniert in Deutschland und im Großteil Europas prinzipiell auch ohne Lager vor allem durch den Medienterror. Der so genannte "War on Terror" ist nach dem Zerfall des großen roten Feindes im Ostblock die beliebteste Form des Terrorismus im Westen. In China hat die Masse weniger vor dem medial aufgebauschten Terrorismus kleiner Sekten Angst als vor dem Zerfall Chinas oder vor der Ausstoßung und Bestrafung durch das Lagersystem.

Da ins Lager nur "Kriminelle" und politisch auffällige Bürger kommen, ist es kein Wunder, dass die chinesische Bevölkerung trotz Interesses an Fortschritten keine sonderlich politische Bevölkerung ist. Die abschreckende Wirkung des Lagers ist so groß, dass die meisten Chinesen kaum Interesse an politischem Aktivismus zeigen. Die meisten nennenswerten Aktivisten sind es gezwungenermaßen, weil sie sonst nicht überleben können.

Gruppenzugehörigkeit und die Autorität des Staates


Es sind meist Industriearbeiter oder Vertreter von bäuerlichen Dorfbewohnern und selten Vertreter der städtischen Mittelschichten. Die "white collar"-Arbeiter, Angestellten, Kleinhändler oder -handwerker, Studierenden etc. sind äußerst selten offen politisch. Das Tiananmen-Massaker von 1989 und die nachfolgenden Inhaftierungen haben das chinesische Volk gedemütigt, demotiviert und in Apathie versetzt.

Die Herrschenden haben aufmuckende Individuen oder ganze Kollektive ins Lager gesperrt, um sie dort zu brechen oder zumindest von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit abzutrennen. Davon können radikale Arbeiterführer, Menschenrechtler, Demokraten, Trotzkisten, tibetische und uigurische Separatisten und Falun-Gong-Anhänger ein langes trauriges Lied singen. Die Schreckensherrschaft beruht nicht nur auf präventiver Abschreckung, sondern auch auf den schrecklichen Erfahrungen im Lager selbst.

Das Terrorregime im chinesischen Lager


Psychoterror 


Wie sieht das Innenleben eines Lagers aus? Unser Kronzeuge Bao Ruowang beschreibt es sehr plastisch. Aufgrund seiner beruflichen Vergangenheit in den USA wurde er zunächst als“imperialistischer Spion”diffamiert und dann in ein Lager verfrachtet. Sehr bald wurde er psychologisch terrorisiert, unerträglichen räumlichen Bedingungen und stupiden Lehren ausgesetzt, um seinen individuellen Willen zu brechen und ihn umzuerziehen zu einem unmündigen und loyalen Untertanen.

Das erinnert nicht umsonst an die autoritäre Erziehung in den Schulen, die ja den selben Zweck haben. Bao Ruowang wurde dafür bestraft, dass er tat, was man von ihm verlangte: seine Meinung frei aussprechen. Da es eine nicht genehme Meinung war, wurde er zur Einzelhaft in eine kleine Zelle gesteckt:
“Tief gebückt quetschte ich mich in das Loch. Die Entfernung zwischen der Türschwelle und dem oberen Ende der Öffnung zwischen der Türschwelle und dem oberen Ende der Öffnung betrug kaum mehr als 90 Zentimeter, die Zelle selbst war etwa 1,20 Meter lang. Die Zementwände lagen ungefähr 1 Meter hoch. Der Raum war gerade groß genug, daß ein Mensch darin sitzen oder hocken konnte, aber es war unmöglich, sich ganz aufzurichten oder ausgestreckt hinzulegen.”

Sadistische Willkür staatlicher Autoritäten 


Unter solchen Bedingungen, wie sie im Lager herrschen, werden der sadistischen Willkür der Autoritäten vor Ort Tür und Tor geöffnet. Ein besonders widerlicher Wärter goss dem eh schon gemarterten Häftling auf besonders zynische Weise durch ein Guckloch sein Essen in den Kerker:
“Eine Tülle wie bei einer Gießkanne fuhr durch die Öffnung und schüttete eine volle Ladung brühheißen Maisbrei herein, von dem ein Teil über meine Hände spritzte. Überrascht ließ ich die heiße Dose im ersten Schmerz fallen. Aber gerade darauf hatte das Schwein gewartet. Wahrscheinlich gehörte das zu den üblichen Schikanen, mit denen man einen neuen Gefangenen in Einzelhaft traktierte. 
‘Verdammter Idiot!’, bellte er. ‘Das ist Verschwendung von Nahrungsmitteln: Blut und Schweiß des Volkes. Dafür kannst du schwer bestraft werden. Ich werde dich melden.’ 
Du Hurensohn, dachte ich. Darauf könnte ich wetten, daß du das tust. Wütend, gedemütigt und vor Selbstmitleid zerfließend, aß ich, was in der Dose übriggeblieben war. Ganz so weit war es mit mir doch noch nicht gekommen, daß ich das Verschüttete vom Boden aufleckte.”

Der moralische Nullpunkt autoritärer Erziehung 


Nach vielen solcher Umerziehungsmaßnahmen kam es schließlich zu einem erpressten Geständnis unseres Häftlings. Die Methode ist die selbe wie bei der christlichen Inquisition vor wenigen Jahrhunderten oder in US-amerikanischen Häftlingslagern wie Abu Ghraib oder Guantanomo heute: Es wird solange gefoltert und gepeinigt bis die gequälte Seele schließlich ALLES sagt und ALLES tut, was die staatliche Autorität von ihr erwartet. Das geschah also auch mit Bao Ruowang, der dem ungläubigen Leser seiner Häftlingsautobiographie erklärt:
“Sollte der Leser das absurd oder übertrieben finden, dann liegt das einzig und allein daran, daß er nie in einem chinesischen Gefängnis eingesperrt war, worüber er froh sein kann. Denn auch heute noch ist dieses Beispiel typisch für die in China angewandten Praktiken.”
Ich zitiere einige Sätze aus Bao Ruowangs erpresstem Geständnis:
“Nach reiflicher Überlegung, unterstützt durch die Lehren der Volksregierung, ist mir bewußt geworden, wie ernst und schändlich die Verbrechen sind, die ich begangen habe. Sie haben der Regierung unabsehbare Verluste beigebracht [...] Sie haben auch dem Volk ernsten Schaden zugefügt. Und schließlich haben sie noch Unglück über meine Familie gebracht.” “Ich darf nie vergessen, daß ich nur esse, was man mir gibt, und daß es mir im Vergleich zu den Arbeitern und Bauern des alten Regimes ausgezeichnet geht. Das Gemüse und die Getreideerzeugnisse, die ich zu mir nehme, habe ich der Arbeit und dem Schweiß unserer Bauern zu verdanken. Wenn ich mich über mein Essen beklage, so ist das dasslebe, als begegnete ich den Bauern mit Verachtung. Da ich ein überführter und verurteilter Strafgefangener bin und der Umformung durch Arbeit unterliege, habe ich kein Recht, etwas Derartiges zu tun.” “Ich sollte mir stets vor Augen halten, daß persönliche Beziehungen verboten sind, und mich einzig von dem Prinzip leiten lassen, daß ‘nur die Arbeit zählt, nicht die Person’. Ob ich jemanden mag oder nicht mag, ist unwesentlich; ich sollte ihn nur als Schulkameraden sehen, der für den Staat arbeitet.” “Wir sind hier, um uns einer Umformung zu unterziehen, und dabei ist kein Platz für Sentimentalitäten. Die Regierung vertraut uns so sehr, daß sie uns diese Umformung zum großen Teil selbst überläßt”.
Ich will hier nicht viel weiter auf die sozialen Dynamiken im Lager selbst eingehen. Es reicht hoffentlich, wenn der Eindruck rüber gekommen ist, dass das Lagersystem in China zutiefst gegen die Würde des Menschen verstößt und eine Institution ist, die unbedingt abgeschafft werden muss.

Die Abschaffung der chinesischen Lager


Nun hat die neue chinesische Regierung mit Xi Jinping und Li Keqiang an der Spitze genau diese überfällige Abschaffung der Lager angekündigt. Wenn das kein leeres Versprechen bleibt, ist das ein gewaltiger Fortschritt für die 1,4 Milliarden Menschen in China und die gesamte Menschheit.

Die Schreckensherrschaft in China würde damit von der Entrechtung und Peinigung im nicht-öffentlichen Raum vermutlich auf die öffentliche Sphäre übertragen. Das würde der Polizei, der regulären Justiz, bekannten Partei- und Regierungsvertretern etc. eine größere Bedeutung verleihen. Die öffentlich bekannten Vertreter der Herrschenden in China müssten daher die Rechte der Bevölkerung stärken und ihre eigene Willkür weiter einschränken.

Das würde weniger Angst vor brutaler Unterdrückung und Demütigung bedeuten. Es würde auch weniger Abschreckung vor politischer Aktivität und Aufklärung bedeuten. Und es würde für die unterdrückten Klassen in China bessere Kampfbedingungen für mehr Rechtsstaatlichkeit bedeuten.

Allerdings kann das nur ein Schritt sein beim überfälligen Anlauf zum großen Sprung in eine Zukunft ohne Schreckensherrschaft wie sie in Ost und West, Nord und Süd - überall auf dem Globus - besteht, weil die globale Klassengesellschaft noch immer besteht.

Quellen


Handelsblatt, SZ, Spiegel, Stern, ksta.

Bao Ruo-wang: “Gefangener bei Mao”. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1977.