Mittwoch, 18. Dezember 2013

Gott und die Welt - eine Filmkritik zu "The Sunset Limited"

"Also, was soll ich jetzt mit Ihnen machen, Professor?" Mit dieser Frage beginnt der grandiose Film The Sunset Limited von Tommy Lee Jones. "Warum wollen Sie überhaupt irgendwas machen?" erwidert der Professor auf die anfängliche Frage. Der ganze Film läuft im Grunde über 80 Minuten lang so ähnlich weiter. Die Handlung, die auf einem Stück von Cormac MacCarthy basiert, ist entsprechend einfach und doch komplex.

Es gibt nur zwei Figuren, den Professor (Tommy Lee Jones) und seinen Retter (Samuel L. Jackson). Sie diskutieren die ganze Zeit über "Gott und die Welt". Denn der Professor wollte sich vor die "Sunset Limited", eine Bahn in Los Angeles, stürzen. In der Stadt der Engel wird er aber passender Weise von einem Schutzengel gerettet, einem schwarzen Ex-Knacki. Der Professor lässt sich in der Wohnung seines Retters auf eine tiefgehende Diskussion ein. Damit wird dem Zuschauer ein großartiges Panorama von Glaubens- und Wissensfragen dargeboten, das seines Gleichen sucht.


Unversöhnliche Gegensätze


Der gläubige Ex-Knacki ist empört über den gotteslästerlichen Selbstmordversuch des Professors. "Verdammt, Professor. Kein Glaube?" Um ihn von weiteren Selbstmordversuchen abzuhalten, fängt er an, dem Professor Moral einzuimpfen: 

"Die Person stand da. Ich hätte ihr jetzt in die Augen sehen können und ihr sagen, dass Sie nicht wie mein Bruder aussieht. Aber da stand sie. Da konnte ich nicht einfach wegsehen."

Der  unglückliche Professor antwortet halb-zynisch und halb-tugendhaft:

"Menschen, die auf Wildfremde aufpassen, sind ganz oft Menschen, die nicht auf die achten, auf die sie achten sollten. Meine Meinung ist: Wenn Sie nur das tun, was Sie tun sollen, können Sie nie ein Held werden."

Der schwarze Schutzengel erkennt also einen Funken Hoffnung in seinem verzweifelten Gegenüber. Durch Rhetorik und Dialog will er diesen Funken entzünden. Der Professor geht darauf ein und erklärt den Grund für seine Verzweiflung. Die heutige Welt ist für den Professor eine "moralische Lepra-Kolonie", in der auch der letzte Rest an Moral Stück für Stück auseinander fällt. Es ist ein schrecklicher Ort und das Leben ist nicht lebenswert. "Diese Menschen sind es nicht wert, gerettet zu werden", sagt er zynisch. Man kann sich seinen Weltschmerz vorstellen als er die folgenden Sätze ausspricht:

"Die Menschen haben die Wertschätzung aufgegeben. Ich habe sie auch aufgegeben... Diese Welt ist schon zum größten Teil untergegangen. Sie wird bald ganz verschwunden sein... Die Dinge, die ich liebte, waren sehr zart. Sehr zerbrechlich. Ich dachte, sie wären unzerstörbar. Doch das waren sie nicht."

Sein tiefgläubiger Schutzengel lässt sich davon nicht beeindrucken. Denn in seinem abgefahrenen Leben hat er trotz aller Sünden und Leidensgeschichten zu Gott gefunden. Im Grunde beichtet er dem Professor im Folgenden seine Verbrechen. Es ist zugleich ein Bekenntnis zu Gott und zur Heiligkeit des Lebens. Eine Knastgeschichte, die er dem Professor rasend und schreiend wiedergibt, dürfte jeden Zuschauer beeindrucken. Als reuiger Ex-Knacki hat er natürlich einige solcher Knastgeschichten auf Lager. Die Attacke eines anderen Häftlings hatte er äußerst brutal beantwortet. Der Professor fragt: "Ist der Mann gestorben?" Und die Antwort gruselt:

"Nein. Ist er nicht. Alle haben überlebt. Sie dachten, er wäre tot, aber das war er nicht. Bloß danach war er nicht mehr ganz richtig. Das heißt, der hat mir keinen Ärger mehr gemacht. Er lief dann rum, Kopf auf der Seite. Er hat ein Auge verloren. Der Arm hing runter, konnte nicht mehr richtig sprechen, wurde verlegt in 'ne andere Einrichtung."

Diese Killermaschine hat dennoch zu Gott gefunden. Nach dem Vorfall hörte er eine Stimme, die ihn ermahnte und auf den richtigen Weg brachte. Es mag ein Engel gewesen sein. Vielleicht hat er auch nur halluziniert. Jedenfalls wurde er gläubig. Den Professor lässt das kalt. Er weist darauf hin, dass der brutale Häftling erst durch die übelste Gewalt gehen musste, um zu Gott zu finden.

Abgesehen von der Theodizee-Debatte, in der sich die beiden Kontrahenten immer wieder gegenseitig übertreffen, diskutieren sie noch etliche andere Fragen. Sie diskutieren über Schmerz, Liebe, Glück und Unglück, Gut und Böse, Zweifel und Glauben, Kultur und Zivilisation, die antisemitischen Deutschen, den Holocaust, die Juden, Arm und Reich, die Erbsünde, Ketzerei, den Geschlechterkampf  usw. Das Gespräch scheint im Grunde ein Aufeinanderprallen von unversöhnlichen Gegensätzen zu sein. Alle diese Fragen führen aber immer wieder zum Kern der Geschichte. Das Gespräch ist eine Predigt.

Die Dialektik der Predigt


Das Gespräch verwandelt sich immer mehr in eine "Dialektik der Predigt", wie der Professor es ausdrückt. Beide Seiten wollen einander überzeugen von ihrem Standpunkt. Es sind Gegensätze, die von einander nicht loslassen können und sich dennoch streiten. Es ist fast wie eine typische Ehe. Das ist Dialektik.

Die Idee der Predigt wird ausgeführt. "Predigen ist für die Lebenden", sagt der Professor. Aber wo sind die Lebenden in dieser Welt? Sind die Menschen nicht schon lange lebende Tote, hirnlose Untote, blutrünstige Zombies geworden? Genau diese Frage stellt sich der Professor.

Er glaubt, dass die Untoten bereits herrschen, dass es keine Hoffnung mehr gibt, dass es keinen Fortschritt mehr geben kann. Deswegen beleidigt er sein Gegenüber auch mehrfach. Der jedoch hat als Ex-Knacki ein dickes Fell. Er verzweifelt nicht aufgrund von Zweifelei und leidet nicht unter Beleidigungen. Er akzeptiert die Sündhaftigkeit der Welt. Dadurch ist er mit sich und der Welt im Reinen.

Die Dialektik im Film geht noch tiefer. Tommy Lee Jones ist weiß. Samuel L. Jackson ist schwarz. Und wie schwarz er ist! Das ist kein Zufall, denn damit wird der Gegensatz zweier Menschen, die nicht mehr die jüngsten und männlich sind, bildlicher und nachvollziehbarer.

Tommy L. spielt den weißen Professor aus der besitzenden Mittelschicht. Samuel L. spielt den schwarzen Ex-Knacki aus der besitzlosen Unterschicht. Der Professor ist hochgebildet, aber ein verzweifelter Zweifler. Der Ex-Knacki dagegen ist kein Intellektueller, aber ein geläuterter, glaubender Mensch. Der besitzende Intellektuelle ist depressiv und schätzt seinen Besitz und seine Bildung nicht mehr. Der geläuterte Ex-Knacki ist vielleicht nicht unbedingt glücklich, aber er genießt das Leben und beweist großartigen Humor.

Der intellektuelle Atheist vertritt eine zutiefst kulturpessimistische Position. Er glaubt im Grunde mit Nietzsche, Gott sei tot und die Welt müsse untergehen. Und er kann Gottes Tod nicht bewältigen. Der weise Christ vertritt dagegen eine zutiefst optimistische Position. Er glaubt an Gott, den Menschen und die Zukunft.

Unüberwindbare Gegensätze?


Deswegen ist der Humanist sogar von diesem deprimierenden Zyniker beeindruckt: "Ach, Professor, Sie sind ein unglaublicher Mann!" Sicherlich kann man den Satz auch als Vorwurf eines Gläubigen gegen einen ungläubigen Mann verstehen. Jedenfalls werden uns im Verlauf des Films beide Figuren sympathisch.

Sowohl der deprimierte Atheist wie auch der gläubige Optimist sind Charaktere, die wir lieb gewinnen, weil sie so typisch menschlich sind. Zugleich erscheinen die beiden Seiten wie unversöhnliche Gegensätze, die sich einander annähern, aber nie so recht zusammenfinden können. Denn zwischen der christlichen Utopie des Einen und der Dystopie des Anderen liegt eine unfassbar tiefe Kluft. Der Professor erklärt zuletzt seine scheußliche Sicht auf die Welt, die sogar unseren Prediger beleidigt und quält:
"Ich sage, dass die Welt im Grunde ein Zwangsarbeitslager ist, aus dem jeden Tag Arbeiter völlig unschuldig per Zufall herausgeführt und hingerichtet werden. Ich glaube nicht, dass das nur meine Einschätzung ist, sondern dass es tatsächlich so ist. Gibt es alternative Sichtweisen? Ja. Hält eine von denen einer gründlichen Untersuchung stand? Nein."

Die Frage ist, ob die ferne Utopie und die reale Dystopie wirklich so weit auseinander liegen. Um das zu klären, habe ich den Film innerhalb weniger Tage ein halbes Dutzend Mal durchgesehen. Wenn das kein packender Film ist! Ich frage mich, ob die Gegensätze nicht auflösbar sind in einem kategorischen Imperativ, der nicht bloß moralisch ist, nicht bloße Idee bleibt, sondern die Idee zur Wirklichkeit macht. Können die zwei scheinbar unversöhnlichen Gegensätze nicht aufgelöst werden, wenn sich die Welt ändert?

Infos


The Sunset Limited auf IMDB.

Ein Trailer auf IMDB.

Eine Filmkritik auf nytimes.com