Montag, 5. Mai 2014

Geburt, Beerdigung und Schändung des Futurismus

Teil 6 der Serie über Marxismus und Kunst. In diesem Artikel geht es um den Leidensweg des Futurismus. In Italien und Russland geboren, verstarb er noch recht jung an Faschismus und Stalinismus. Heute wird er von postmodernen Ideologen und staubtrockenen Professoren geschändet. Der Futurismus ist tot. Es lebe der Futurismus!

Die Gründer des Futurismus: Majakowski, Krutschenych,
Burljuk und Chlebnikow, http://900igr.net

Geburt des Futurismus in Italien und Russland


Die Ursprünge des russischen Futurismus sind nicht allein in Russland zu finden, sondern unter anderem auch in Italien. Beide Länder waren im Vergleich zu den mächtigen Industrienationen England, Frankreich, USA und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg relativ rückständig. Zugleich wurden auch sie bereits von der kapitalistischen Industrialisierung und der bürgerlich-demokratischen Philosophie und Kultur erfasst. In Italien und Russland fand das statt, was "ungleiche und kombinierte Entwicklung" genannt wurde. Beide Länder waren zwar in vielerlei Hinsicht einige Jahrzehnte gegenüber den führenden Nationen im Rückstand, weshalb sie "ungleich" waren. Aber gerade diese Ungleichheit und Zurückgebliebenheit machte Investitionen und neue kulturelle Trends in beiden Ländern attraktiv und lukrativ. Damit sind bei scheinbar ungünstigen Umständen tatsächlich äußerst günstige Zustände geschaffen worden, um einerseits die kapitalistische Industrie und die modernen Klassen im Kapitalismus zu schaffen und um andererseits die neue bürgerlich-demokratische Ideen und moderne Kunst für die bürgerliche Gesellschaft aufblühen zu lassen.

Futuristische Stadtplanung, http://wikipedia.ru

Der Futurismus in Russland wie auch in Italien war eine künstlerische Antwort auf die Fragen der ungleichen und kombinierten Entwicklung beider Länder. Dennoch war der italienische Futurismus zeitlich gesehen dem russischen voraus. 1909 wurde von Filippo Marinetti das erste Manifest des Futurismus veröffentlicht, worauf der russische Futurismus natürlich mehr oder weniger reagiert hat. Schmidt-Bergmann schreibt in seinem Werk über den Futurismus:

denn der italienische Futurismus war zuallererst die ästhetische Manifestation der industriellen Zivilisationsdynamik, die das tradierte Wahrnehmungspotential und "Weltgefühl" zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollständig umzugestalten begann. Damit kam der Futurismus den sozialen Forderungen, die sich aus der Umgestaltung der Industriegesellschaft ergeben hatten, mit als erster entgegen: Die Apotheose von Beschleunigung und Bewegung ist auch ein unmittelbarer Reflex auf die notwendige Veränderung der tradierten Lebensgewohnheiten, das Verschwinden der gewohnten Lebensräume und die sich ankündigende universelle Mobilität. Das daraus sich entwickelnde "Weltgefühl" mußte sich aus dem kontinuierlichen Fluß der Zeit verabschieden und den Sprung aus der Geschichte propagieren. Erinnerung und Tradition sollten eliminiert werden, allein das "Neue" und die Zukunft relevant sein.

Wie drückte der italienische Futurismus dieses Weltgefühl aus? Das Futuristische Manifest von Marinetti erklärt:

... 
7. Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muß aufgefaßt werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor dem Menschen zu beugen. 
8. Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte!... Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen. 
9. Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt - den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes. 
10. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht. 
11. Wir werden die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolutionen in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrünstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge.

Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit in die Welt, mit dem wir heute den "Futurismus" gründen, denn wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien.
Schon zu lange ist Italien ein Markt von Trödlern. Wir wollen es von den unzähligen Museen befreien, die es wie zahllose Friedhöfe über und über bedecken.
... 

Die martialische und ungestüme Sprache der Futuristen entsprach ihrem Drang nach Umwälzung. Zerstörung des Alten und Schwachen und Aufbau des Neuen und Starken waren die tiefsten Bedürfnisse dieser extremen Künstler. Aber was ist alt und was ist schwach? Wieso sollte das Alte und Schwache zerstört werden? Das wird im Manifest nicht wirklich geklärt. Es ist keine tiefgehende philosophische Schrift, keine treffliche Analyse. Es ist bloß der Ausdruck eines Lebensgefühls und einer willkürlichen Zielsetzung. Die Tiraden gegen Akademiker, museale Kunst, Sitten und Gebräuche, Feminismus, Feigheit und Moralismus und die Verherrlichung der Gewalt, der Zerstörung, des Krieges im industriellen Zeitalter zeigen aber, in welche politische Richtung der italienische Futurismus tendierte. Der italienische Futurismus sollte bald ein Bündnis mit dem italienischen Faschismus eingehen.

Anders war die Lage in Russland. Trotzki schrieb über den Zusammenhang von Nation und Kunst:

Es ist kein Zufall und kein Mißverständnis, sondern völlig gesetzmäßig, daß der italienische Futurismus im Strom des Faschismus aufgegangen ist. Der russische Futurismus wurde in einer Gesellschaft geboren, die [...] sich auf die demokratische Februarrevolution vorbereitete. Schon dies brachte unserem Futurismus Vorteile. Er fing die noch unklaren Rhythmen der Aktivität, des Handelns, Ansturms und der Zerstörung ein. Den Kampf um seinen Platz an der Sonne führte er schärfer und entschiedener, vor allem aber lärmender als die ihm vorangegangenen Schulen in Übereinstimmung mit seinem aktivistischen Weltempfinden. Der junge Futurist ging natürlich nicht in die Werke und Fabriken, sondern polterte in den Cafés herum, trommelte mit der Faust auf Rednerpulte, zog sich eine gelbe Bluse an, färbte sich die Backen und drohte wer weiß wem mit der Faust.

Abgesehen von der gesellschaftlichen Lage Russlands und dem künstlerischen Einfluss aus Italien war die künstlerische Welt in Russland in eine Sackgasse geraten. Aber anders als im realen Leben ist eine einfache Rückkehr in der Kunst ausgeschlossen. Die Künstler Russlands vor dem Ersten Weltkrieg mussten einen Ausweg aus der ideologischen Sackgasse finden. Hinter ihnen lagen Puschkins romantischer Realismus ebenso wie Dostojewskis chrislicher Erlösungsutopismus. Links von den Futuristen führte eine Tür in die Richtung des sozialistischen Realismus eines Gorki. Rechts von ihnen gab es den Naturalismus eins Boborykin, den Akmeismus Achmatowas und Gumiljows, den Symbolismus Belys, Bloks und Balmonts, und den Neo-Primitivismus Gontscharowas, Rozanowas und Chlebnikows.

So innovativ die meisten Richtungen teils noch waren, so sinnfrei und dekadent mussten sie angesichts der anstehenden russischen Revolution bleiben. Ihre Sackgasse bestand nicht darin, dass sie keine kreativen Schöpfungen mehr vorweisen konnten. Das konnten sie durchaus. Die Sackgasse bestand darin, dass die Kunst in der revolutionären Situation des damaligen Russland entweder in einem Gulli verschwinden oder zu neuen Höhen aufsteigen musste. Im Gulli der Irrelevanz verschwand die Kunst der Feinde des Sozialismus. Ihre Kunst musste lächerlich und dekadent wirken in einer großartigen Epoche der sozialen Umwälzung.

Die Leiter aus der Gasse heraus roch einem Großteil der Futuristen aber besser. Mit der sozialistischen Leiter verließen die Futuristen die künstlerische Sackgasse. Auf den Dächern der Stadt gewannen sie eine neue Perspektive auf die Welt: Aus hohlen Ansagen wurde ein Programm mit reichem sozialem Gehalt. Aus der trockenen musealen Kunst wurde sozial orientierte Lebenskunst. Aus den russischen Futuristen wurden kommunistische Futuristen. Chlebnikow, Krutschonych, Majakowski, die Gebrüder Burljuk und einige weitere bunte Gestalten können zu dieser sozialistisch-futuristischen Avantgarde gezählt werden.

"Schlag die Weißen mit dem roten Keil!",
http://www.crestock.com/

Die Beerdigung des Futurismus


Die kommunistischen Futuristen, die die russische Revolution begrüßt hatten, machten sich für die bolschewistische Regierung nach 1917 nützlich. Allen voran war Majakowski ein lauter Schreihals der Revolution geworden und produzierte ein Werk nach dem anderen für die revolutionäre Sache. Auch die anderen Futuristen beteiligten sich an der ideologischen Arbeit. Sie nahmen ihre gesellschaftliche Aufgabe als fortschrittliche Künstler sehr ernst. Zu ernst. Als Lenin 1924 starb, verfasste Majakowski ein pompöses marxistisch-leninistisches Pamphlet zu Ehren Lenins. Damit wurde aber auch der Personenkult um Lenin unter seinen Nachfolgern eingeleitet.

Stalin stieg mehr und mehr zum Diktator auf und nutzte die Kunst aus, um seine Herrschaft zu sichern. Die kommunistischen Futuristen wurden so zu nützlichen Idioten der stalinistischen Herrschaft. Die Bürokraten, die nun regierten, interessierten sich zwar nicht für die futuristischen Utopien, aber sie nutzten sie aus, um ihre eigenen Interessen als herrschender Klasse zu verschleiern. Als Majakowski sich dessen bewusst wurde, beging er 1930 Selbstmord. Stalin erwirkte auch einen Personenkult um Majakowski.

Wie der Politiker Lenin wurde auch der Künstler Majakowski zum "marxistisch-leninistischen" Säulenheiligen. Damit endete im Grunde der russische Futurismus, auch wenn die Idee einer vollkommenen Umgestaltung und Ästhetisierung des gesellschaftlichen Lebens gerade von Stalin umgesetzt wurde. Die futuristische Utopie wurde von der stalinistischen Dystopie erdolcht. Ihr Kadaver wurde ausgestopft. Die lebendige Kraft des Futurismus war damit zum musealen Ausstellungsobjekt geworden - etwas, was die Futuristen über alles hassten.

Dass die sozialistischen und futuristischen Utopien in der stalinistischen Dystopie verschwanden, ist eines der tragischsten und komischsten Ereignisse der europäischen Geschichte. Denn einerseits sind die Ideale von Futuristen und Sozialisten im Stalinismus völlig vernichtet worden, was äußerst tragisch ist. Andererseits wurden Kernforderungen beider im Sinne des Stalinismus zur utopisch-dystopischen Karikatur weiterentwickelt. Nach Krieg, Invasion und Bürgerkrieg hatte zwar der sozialistische Staat überlebt, aber er war unter den Bürokraten unter Stalin nur noch ein Schatten seiner selbst und kein Stück mehr revolutionär, sondern wurde ein bloßes Instrument der Bürokraten.

"Vorwärts zur völligen Vernichtung des Feindes",
http://www.russianartandbooks.com/

In Italien hatte sich der Futurismus früh dem Faschismus zugewandt und Marinetti wurde einer der prominentesten Faschisten. Die Grundideen des italienischen Futurismus wurden unter Mussolinis Herrschaft zum ästhetisch-politischen Minimalprogramm der Faschisten. Wie auch der Stalinismus ästhetisierte der italienische Faschismus die Politik und das gesamte gesellschaftliche Leben. Auch der Hitlerismus in Deutschland ästhetisierte seine verbrecherische Politik in höchstem Maße. Allerdings war der Futurismus in Deutschland bedeutungslos.

Das zeigt auch, wie problematisch die These von einer prinzipiellen Seelenverwandtschaft von Futurismus und Totalitarismus ist. Boris Groys vertritt die These, dass Stalin die Utopie der russischen Futuristen umgesetzt habe. Das ist Blödsinn. Stalin hat bloß eine besonders euphorische und pompöse Darstellung seiner bürokratischen Politik betrieben. Die Farblosigkeit des Bürokraten sollte durch bunte Ausstaffierung verdeckt werden. Lebensfrohe Phrasendrescherei über die Revolution sollte die trockene Sprache des Bürokraten musikalischer machen. Die bornierten Interessen der Bürokratenklasse sollten mit der stalinistischen Hagiographie heilig gesprochen werden. Die Natur des ganzen stalinistischen Regimes war der absolute Gegensatz dessen, was die russische Revolution erreicht hatte. Die futuristische Utopie war in  Gegenteil verkehrt worden.

Der Fortschrittsoptimismus in architektonischer Form

Die Schändung des Futurismus


"Der Blick auf die Avantgarden hat sich verändert", scheibt Schmidt-Bergmann. In der Tat! Das großartige Projekt des Futurismus ist im postmodernen Zeitalter einerseits "dekonstruiert" und andererseits dem neoliberalen Zeitgeist einverleibt worden.

Werbung, Agitation, Design und allgemein die Einheit von Kunst und Leben - genuin futuristische Ideale - dienen heute den kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen, gegen die sich die kommunistischen Futuristen aufgelehnt hatten. In postmoderner Manier wird zudem der soziale Gehalt des Futurismus geleugnet und von seinem sozialen Entstehungshintergrund abgelöst.

Es wird so getan als wäre es Zufall, dass gerade in einer Phase der Revolution und Konterrevolution in Russland und in Italien die futuristische Ästhetik, der italienische Futurismus und der kommunistische Futurismus entstanden. Damit wird das futuristische Projekt nach seiner Ermordung und Beerdigung durch die Bürokraten auch noch von den Professoren geschändet.

Wie traurig! Wie komisch! Wie tragikomisch!

R.I.P. ФУТУРИЗМ.


Bilder von: Leyton Jay, Superpunch and Drawn!,
http://weburbanist.com/.