Dienstag, 25. März 2014

Radikalität zwischen Kleinbürgerin und Proletarierin (Serie: Klasse-is-muss, Teil 2)

Für die Anhängerin des Kapitalismus ist jede Form des praktischen Antikapialismus ein Unding, das nur von Untieren verfolgt werden kann. Für die liberale, konservative oder rechte Bürgerin ist Sozialismus immer Barbarei oder das selbe wie Faschismus. Radikalismus, ob links oder rechts, ist für die Dame von Hause das selbe wie Unordnung, Chaos, Zerstörung und Unsitte. Und was gibt es für die gnädige Frau Schlimmeres als die Unsitte?


Die Wurzel der Sache


Radikal sein heißt ja bekanntlich, die Sache an der Wurzel (lat. radix) zu greifen. Die kultivierte Herrin fasst grundsätzlich nichts an der Wurzel. Das ist Sache des arbeitenden Weibes, der Bäuerin oder Arbeiterin. Am Radikalismus macht Frau sich ja die Hände schmutzig und mit bäuerlichen und proletarischen Greifarmen lässt sich bekanntlich schlecht Klavier spielen und operieren. Radikalität ist also eine Sache der werktätigen Frau. Radikalismus ist die handwerkliche Arbeit, der die arbeitenden Klassen zuneigen und wogegen die ausbeutenden Klassen eine tiefe Abneigung hegen. Bekanntlich ist der Sozialismus eine Form des Radikalismus. Und bekanntlich gibt es auch Vertreterinnen eher bürgerlicher und gehobener Schichten der Bevölkerung im Umfeld des Sozialismus. Einige gehobene Damen und Herren - man oder frau nenne sie ruhig dominus und domina (lat. Herr bzw. Herrin) - nennen sich sogar Sozialist oder Sozialistin! Diese feinen Menschen beschmutzen ihre Hände natürlich meistens dennoch nicht mit Radikalismus. Das würde ihre Erhabenheit über die weltlichen Angelegenheiten in Frage stellen. Ihr "Sozialismus" ist daher ein bereinigter Sozialismus, ein Sozialismus, an dem man und frau sich die Hände nicht beschmutzt. Solch ein Sozialismus ist ein gehobener, erhabener, herrlicher Sozialismus, ein Sozialismus für die Damen und Herren. Dieser Sozialismus der Dominas ist daher nicht zufällig die dominierende Form des Sozialismus, der lange gereinigt werden musste, um so herrlich und herrisch zu werden wie man ihn heute kennt. Es ist ein bürgerlicher Sozialismus der bürgerlichen Damen und Herren, womit er sowohl herrisch als auch dämlich ist. Es ist ein Sozialismus, wie ihn die SPD-Jugend, die Jusos ("Jungsozialisten"), heute mehrheitlich vertreten, ein bürgerlich gesäuberter und damit völlig verkrüppelter Sozialismus, der daher auch kein Stück radikal ist. Mit diesem Vorwort kann zum eigentlichen Punkt übergegangen werden.


Radikalität zwischen Kleinbürgerin und Proletarierin


Für die utopische Sozialistin ist der Sozialismus oft genug eine rein ethische, allgemein-menschliche Frage und Konzeption, die der gedankliche Gegenentwurf zum Kapitalismus zu sein hat. Allgemein-menschliche Fragen sind für sie weniger Fragen des Klassenkampfes als Fragen der Philosophie. Aber: 

"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt darauf an, sie zu verändern." 

Die sozialistische Philosophin sieht das oft nur phrasenhaft ebenso. In Wirklichkeit hat sie Angst vor einer Veränderung, die über die Interpretation hinausgeht. Das ist die natürliche Angst des bürgerlichen Sozialismus. Er neigt zur Interpretation der Revolutionen, aber dünkt sich über denselben erhaben, so sehr er sich ihr auch verbal zurechnet. Denn nur selten vermag es die kleinbürgerliche Klasse, konsequent im Sinne der klassenlosen Gesellschaft zu handeln. Sie hat zumeist furchtbare Angst vor der revolutionären proletarischen "Diktatur", die den konsequenten Sozialistinnen zufolge den Übergang von Kapitalismus zu Kommunismus darstellen muss. Diese kleinbürgerliche Angst hat diverse Quellen, aber stets ist sie Ausdruck der Klassenverhältnisse und des Klassenkampfes.


Die proletarische Sozialistin kann sich sicher sein, dass die bürgerliche Sozialistin nur in begrenztem Maße ihre Gesinnungsgenossin sein kann. Denn das Kleinbürgertum muss mit den eigenen Klasseninteressen brechen, um sich dem Proletariat konsequent anzuschließen. Das ist in der Klassengesellschaft aber sehr viel verlangt und die proletarische Sozialistin ahnt daher, was Sache ist. Sie kann sich letztlich nur auf sich selbst verlassen. Von der kleinbürgerlichen Demokratie kann sie nur bedingt Hilfe erwarten. Diese kann die proletarische Demokratie motivieren, bilden, erziehen und fördern, aber sie kann die revolutionäre "Diktatur" des Proletariats offenbar nicht ersetzen. Die kleinbürgerliche Demokratie schreckt schon beim inflationär gebrauchten Wörtchen "Diktatur" entsetzt auf:

"Diktatur!? Und dann auch noch eine 'proletarische'!? Das kann doch nicht angehen! Das allein klingt schon nach Gewalt, Pöbeleien und Irrationalismus! Das stinkt zudem nach 'Volksgemeinschaft', 'volksfremden Parasiten', nationalistischem Mord und sozialistischem Totschlag!" 

Die Dame aus den gehobenen Klassen ahnt, dass es in der Frage der Diktatur dieser oder jener Klasse um die Wurst geht. Aber sie ernährt sich in diesem Sinne ja hauptsächlich von Bio-Gemüse und Soja-Schnitzel. Da wäre eine Party der Fleischeslust ja ein ethisch-moralischer Rückschritt und Statusverlust. Und was fürchtet die kleine Bourgeoisie mehr als die Gleichstellung mit der ungebildeten Masse an Proletarierinnen und Proleten? 


Immerhin bildet sich das Bildungsbürgertum doch seit jeher vor allem darum, um sich von der ungebildeten Masse abzuheben. Wenn diese Masse ähnlich oder noch gebildeter sein sollte wie die bürgerlichen Klassen, dann bleibt denen nichts anderes übrig als von der Bildung abzusehen und sich ein neues Feld der Abgrenzung zu suchen: Geschmack, Charme, Sitten und Gebräuche. Denn wenn Bildung für Teile der Masse leicht zu erreichen ist, dann sind kleinbürgerliche und großbürgerliche Verhaltensweisen noch immer sehr schwer zu kopieren. An der Sprechweise, an den Tischmanieren, an der Mode oder an Gewohnheiten lässt sich der "Pöbel" noch immer eindeutig von der geistigen und moralischen "Elite" abtrennen. 


Das wissen auch die kleinbürgerlichen Sozialistinnen, die politisch dem linken Spektrum zugeordnet werden könnten, aber kulturell eher den gehobenen Etagen angehören und sich vom proletarischen Mob abgrenzen. Bildung ist nicht mehr das zentrale Kriterium der Abgrenzung zwischen proletarischen und bürgerlichen Radikalen. Daher sind Sprechweise, Vokabular, Geschmack, Charme, die Sitten und Gebräuche entscheidend, um die kleinbürgerlichen von den proletarischen Sozialistinnen nach äußeren Merkmalen zu unterscheiden. Die ökonomischen Unterschiede erkennt man an den Konsumgewohnheiten, sozialen Perspektiven und Sicherheiten und Unsicherheiten. 

Mit den äußeren Merkmalen, die der Diskriminierung zwischen bürgerlichen und proletarischen Gruppen dienen, lassen sich neue politökonomische Klassenanalysen begründen, die auch Kultur und Einstellungen beinhalten. Klassenanalyse könnte ihre Einseitigkeiten verlieren, die bisher Gang und Gebe waren: trocken soziologische oder ökonomische Kategorisierungen, maoistische Gleichsetzung von politischem Duktus und Klassenzugehörigkeit, rein agitatorischer Slang von Flugblättern oder postmoderne Auflösung aller Klassenverhältnisse. Die neue Klassenanalyse muss Politische Ökonomie, Vergleichende Soziologien, Kulturwissenschaften, Religionswissenschaft, Diskursanalyse und Geschichtswissenschaft verbinden. Damit ließe sich die bisherige Geschichte ebenso wie die heutige Politik neu lesen: als Kampf der verschiedenen Klassen in den verschiedensten Zusammenhängen.

Damit ließe sich auch die merkwürdige Zwiespältigkeit des modernen Radikalismus besser verstehen. Die allergischen Reaktionen kleinbürgerlich sozialisierter Sozialistinnen auf Begriffe wie "Diktatur" "Diktatur des Proletariats", "Arbeiterstaat", "Klassenkampf", "die Herrschenden", "die Klasse der Kapitalisten", "Volk", "Antiimperialismus", "Antizionismus", "Internationalismus" etc. werden im Lichte der neuen, klassistischen Klassenanalyse leicht verständlich. 


Die Kleinbürgerinnen haben schlicht Angst vor den proletarischen Massen. Die Geschichte der proletarischen Kämpfe, die Erfahrung des proletenhaften Auftretens der Proletarierinnen und die unbekannte und fremd wirkende Zukunft dieser Klasse macht den bürgerlichen Klassen selbstverständlich zittrige Knie. Denn anders als die Proletarierinnen haben die Bürgerinnen im Klassenkampf viel mehr als ihre Ketten zu verlieren. Die Bürgerinnen haben ja ihre Bio-Burger, ihre Soja-Schnetzel, ihre Kolumbien-Urlaube und ihren gehobenen Status zu verlieren. Sie haben ihre Besonderheit, ihre Abgehobenheit, ihre gewohnte Ungleichheit zu verlieren. Deswegen betonen die bürgerlichen Sozialistinnen so gerne die "Transformation", den "Übergang", die "Umwandlung" und "Emanzipation", "Reform" und Partizipation". Denn diese Begriffe klingen nicht nur freundlicher und gehobener als "kommunistische Revolution", "proletarische Diktatur" und "Arbeiterstaat", sondern bewirken auch eine Verschmelzung von kleinbürgerlichem Radikalismus und dem kernigen Radikalismus der Arbeiterinnen. Lenin hatte vor dieser Gefahr gewarnt als er schrieb:

"Aber der ist kein Sozialist, der erwartet, daß der Sozialismus ohne soziale Revolution und Diktatur des Proletariats verwirklicht wird. Diktatur ist Staatsmacht, die sich unmittelbar auf Gewalt stützt."

Die kleinbürgerlich orientierten und aus dem Kleinbürgertum stammenden Sozialistinnen könnten sich angesprochen fühlen. Allerdings spricht Lenin ja hier von "Sozialisten" und nicht von Sozialistinnen. Für die kleinbürgerlichen Radikalen ist sowas oft genug Grund, um sich nicht angesprochen zu fühlen. Denn er redet ja nur von Männern, wie es scheint. Darüber können sich die Kleinbürgerinnen dann wochenlang, monatelang, jahrelang oder ein ganzes Leben lang empören. Proletarische Sozialistinnen kümmern solche völlig belanglosen Unvollkommenheiten eines im 19. Jahrhundert geborenen Russen meistens eher nicht. Sie wissen, dass Herrschaft nicht die reine Sache von Floskeln ist. Bürgerliche Sozialistinnen vergessen oder verdrängen das oft, wie es scheint. Denn, wie zuvor herausgearbeitet, haben sie ja Angst vor Veränderungen, die weit über Floskeln hinausgehen. Reine Theorie, reine Interpretation, reine Floskeln sind Sache der kleinbürgerlichen Philosophinnen. Praktische Theorie, praktisch wirksame Interpretation und Parolen, die Millionen von Proletarierinnen mobilisieren können, sind Sache der proletarischen Sozialistinnen.


Die Kleinbürgerin, die sich entschließt, konsequent Sozialistin zu sein, muss das Selbstbewusstsein der Proletarierin stärken, sie fördern und dazu ermächtigen, die Bäuerin, die Arbeitslose, die Sklavin, die Prostituierte, die Stripperin, die Mutter, die Oma, die heranwachsende Jugendliche, die Industriearbeiterin, die Malerin, die Lehrerin, die Professorin, die Politikerin und die Unternehmerin auf ihre Seite zu ziehen. Nicht-proletarische Frauen müssen die eigenen Klasseninteressen unter Umständen verraten, um die Interessen der proletarischen Sozialistin zu unterstützen. Aber damit verraten sie nicht sich selbst, sondern sie helfen sich damit, sich von den Klasseninteressen und der ganzen Unterdrückung, Diskriminierung und Unterentwicklung in der Klassengesellschaft überhaupt zu befreien. Indem man und frau sich auf die Seite des proletarischen Sozialismus stellt, stellt man und frau sich auf die Seite der Befreiung aller Menschen. Das und nichts Anderes ist echte "Emanzipation", echte "Umwälzung" und "Partizipation" für eine bessere Gesellschaft. Wenn man oder frau davon abweicht, dann muss man oder frau sich nicht wundern, wenn man oder frau enttäuschte, vorwurfsvolle oder wütende Blicke von proletarischen Sozialisten und Sozialistinnen zugeworfen bekommt.