Freitag, 8. November 2013

Rätekommunismus und Sozialdemokratie (Serie: Geschichte und Rätekommunismus, Teil 1)

Geschichte und Rätekommunismus


Hier geht es um die "rätekommunistische" Strömung unter den sozialistischen Theoretikern und um ihre Beziehung zur Geschichte. In verkürzter Form erschien dieser Artikel schon auf der Homepage des SDS Köln.

Eigentlich sollte eine Fortsetzung erfolgen. Dazu kam es aber bislang nicht. Man musste halt studieren, lohnarbeiten, demonstrieren und so. Nun aber soll das wieder gut gemacht werden. 

Der erste Teil erscheint in abgewandelter Form also erneut, um von mehreren Teilen ergänzt zu werden. Im ersten Artikel geht es um den Rätekommunismus als Reaktion auf die Sozialdemokratie.

Die Behandlung dieser Strömung ist deshalb interessant, weil sie Gelegenheit bietet, eine Kritik an den Ansichten der "Rätekommunisten" und heutigen Ultralinken zu formulieren, was der radikalen Linken in Deutschland vielleicht ein wenig helfen kann. Auch ist es eine Gelegenheit, die deutsche, russische und chinesische Geschichte aus revolutionsfreundlicher Perspektive darzustellen und zu einander in Beziehung zu setzen. Denn die Frage der Räte ist mit der weltweiten Revolution eng verwoben gewesen und ist es wohl noch immer.

Am Ende der Artikelreihe sollten sich die Leser und Leserinnen drei Fragen selbst beantworten können:
  1. Wieso ist die sozialistische Revolution so cool und Kapitalismus so verdammt uncool? 
  2. Sollten die Menschen mehr marxistische Klassiker lesen und sich über ihre eigene Geschichte richtig schlau machen? 
  3. Wer hat uns verraten? ;-) 

Der Rätekommunismus als ultralinke Reaktion auf Sozialdemokratie und Bolschewismus


Die Rätekommunisten waren als eigenständige Denkrichtung in den 20ern entstanden, nach der zunächst erfolgreichen Räterevolution in Russland 1917 und der gescheiterten Räterevolution in Deutschland ab 1918. Ihre Vertreter waren meist enttäuschte Mitglieder der Sozialdemokratie, ihrer Abspaltungen (USPD z.B.) oder der kommunistischen Parteien. Anfangs gründeten sie eigene Parteien (KAPD z.B.), später aber lehnten sie jede Parteiorganisation ab und gründeten Gewerkschaften (AAUD), nur um noch später sowohl parteiferne wie gewerkschaftsferne Organisationen (z.B. die AAUE) aufzubauen. 

Sie sahen weder in der Sozialdemokratie noch im Bolschewismus eine Lösung der Probleme im Kapitalismus. Andererseits sahen sie in beiden Richtungen gefährliche Verfälschungen des Marxismus, wie sie selbst ihn deuteten. Die größte Bedeutung erhielten sie in Mitteleuropa, vor allem in Deutschland und Holland. Zu den wichtigsten Vertretern gehörten Anton Pannekoek, Otto Rühle, Herman Gorter, Paul Mattick und Cajo Brendel. Von Brendel stammt das folgende Zitat, welches das zentrale Argument der Rätekommunisten beinhaltet:

Lenin versteht nicht, daß die strategischen Konstruktionen, die er in seiner historisch-paradiesischen Unschuld herstellt, auf die Kampfhandlungen der Arbeiterklasse und deren jeweiligen Ausgang nicht mehr zugeschnitten sind, sobald die Arbeiter die Früchte des Gartens Eden geprüft [...] sobald sie selbst den Inhalt ihrer Kämpfe und sodann auch deren Form, das heißt ihre Kampfmethoden zu bestimmen angefangen haben; sobald nicht länger die bürgerliche, sondern fortan die proletarische Revolution die gesellschaftliche Perspektive bildet.

Lenin spielt in der Argumentation der Rätekommunisten eine herausragende Rolle. Er wird in den folgenden Artikeln noch eine große Rolle spielen. Zunächst wird er aber nur kurz erwähnt, da es hier eher um die Revolution in Deutschland geht.

Der ökonomische Fatalismus der Rätekommunisten


Die Rätekommunisten waren grundsätzlich Ökonomisten und damit Fatalisten. Unter Ökonomismus kann man eine Konzentration und Überbetonung der Wirtschaft verstehen. In Russland wurden z.B. bis zur Oktoberrevolution 1917 Vertreter sozialistischer Theorien als Ökonomisten bezeichnet, die auf die fortschrittliche Entwicklung des russischen Kapitalismus hofften und zu radikale politische Kämpfe daher ablehnten. Sie waren daher Gegner der kommunistischen Fraktion um Lenin und Trotzki. Fatalisten glauben an ein unausweichliches Schicksal (lat. "fatum"), das unabhängig vom Willen der Menschen entweder zum Guten oder Schlechten führen wird.

Die Rätekommunisten sind als ökonomische Fatalisten in der kapitalistischen Gesellschaft Anhänger des Glaubens an die mehr oder weniger automatische Selbstzerstörung des Kapitalismus. Revolutionäres Handeln müsse nicht vorbereitet, nicht mühsam organisiert und erst Recht nicht von einer Partei angeführt werden. Rätekommunisten argumentieren mit der "Reife der Klassenverhältnisse", die unweigerlich zur sozialistischen Revolution führe. Die Reife der Klassenverhältnisse sei die Vollendung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, dessen Resultat nur die erfolgreiche sozialistische Revolution sein könne. Die Vollendung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit führe aber zwangsläufig zur Zertrümmerung der kapitalistischen Ordnung und zur Aufhebung dieses Gegensatzes. Am Ende stehe die klassenlose Gesellschaft, in der es den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit nicht mehr gebe. 

Der marxistische Standpunkt sei der der ökonomischen Gesetzmäßigkeit hin zur Selbstbefreiung der Arbeiterklasse in dem Moment, in dem die Arbeiterklasse nicht noch weiter ausgebeutet werden kann und somit gezwungen ist, die Revolution zu machen. Zwang zur Revolution ist das A und O der Rätekommunisten. Bis zu diesem Zeitpunkt sei jeder Revolutionsversuch ein verfrühter Willensakt, der den objektiven Verhältnissen nicht entspricht. Ohne die Vollendung der kapitalistischen Klassengesellschaft könne die Vollendung der wirklich menschlichen, klassenlosen Gesellschaft nicht erfolgen.

Erst die zahlenmäßige Überlegenheit der Arbeiterklasse und die ökonomische Unabwendbarkeit der Staatszertrümmerung durch die Arbeiterklasse ermöglichen die proletarische Revolution. Sie könne also nicht von einer Minderheit, auch nicht von einer proletarischen, gemacht werden. Sie könne nur von der ganzen Klasse in einem ziemlich kurzen Zeitraum gemacht werden, in dem die ganzen klassenkämpferischen Ausbrüche der Vergangenheit zusammenkommen und in eine revolutionäre Explosion münden.

Da die Revolution ein rein ökonomischer Prozess sei, sei der politische Überbau der Ökonomie unwichtig und gar störend für die Aufgabe der Arbeiterklasse, so könnte man die Argumentation der ultralinken Ökonomisten deuten. Die Aufgabe der Arbeiter sei eine vorwiegend ökonomische: Eroberung der Produktionsmittel in der bürgerlichen Gesellschaft und damit die Kontrolle über diese Gesellschaft.

Teilnahme an der bürgerlichen Demokratie, am Parteiensystem oder gar Regierungsbeteiligung, Mitarbeit in Gewerkschaften und dergleichen – das alles behindere ab einer gewissen Reife der Klassenverhältnisse die proletarische Revolution. Die politische Teilnahme an den Institutionen der bürgerlichen Ordnung sei nämlich reaktionär, sobald die neue und wirklich proletarische Kampfweise sich entwickelt habe: die Räte.

Die fatale Erfahrung mit der proletarischen Revolution und der Niederschlagung der Rätebewegung durch kapitalismusfreundliche Kräfte in Deutschland schien diese Schlussfolgerung zu bestätigen.

Die verratene deutsche Revolution ab 1918


Proletarische Revolution in Deutschland? Ja! Und was für eine! Sie stürzte im November 1918 den Kaiser, zerschlug das deutsche Kaiserreich, führte zum Waffenstillstand zwischen den Krieg führenden Staaten, beendete damit den Ersten Weltkrieg und erkämpfte die wichtigsten demokratischen Rechte in Deutschland. Wie kam es zu dieser Revolution?

Die SPD-Führung war bereits vor dem Ersten Weltkrieg durch und durch reaktionär geworden. Zu Anfang der Massenschlächterei hatte sie ihre internationalistische Maske abgelegt als sie 1914 im Reichstag den Kriegskrediten zustimmte und nationalistische Propaganda für das deutsche Reich machte. Sie führte die SPD-Mitgliedschaft in den Horror des Weltkriegs. Sie wollte keinen demokratischen Sozialismus und keine internationale Solidarität. Sie unterstützte lieber die Herrschenden im eigenen Land mit dem antisemitischen Kaiser Wilhelm II. an der Spitze. Das Elend der Weltbevölkerung war der SPD-Führung schon damals völlig egal geworden.

Heute, knapp 100 Jahre danach, sieht es nicht viel anders aus. Die SPD-Führung liebt den Krieg noch immer. Und sie hasst die internationale Solidarität und die Revolution noch immer. Sie hasst sie genauso wie es damals schon Friedrich Ebert tat. Ebert, der Vorsitzende der SPD, soll am Ende des Ersten Weltkrieges gesagt haben: „Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich will sie aber nicht, ja ich hasse sie wie die Pest.“ Entsprechend hat er den unverzeihlichen Verrat an der proletarischen Revolution seit November 1918 in Deutschland angeführt.

Es kam wie Ebert es voraussagte. "Die soziale Revolution", die er erklärtermaßen hasste, ließ die Verhältnisse im deutschen Reich wild tanzen. Die Oberste Heeresleitung des Kaiserreiches wollte die deutschen Matrosen am Ende des Krieges, der für Deutschland bereits aussichtslos geworden war, sinnlos in den Tod schicken. Die Matrosen meuterten, kehrten aufs Festland zurück und gaben damit eine Initialzündung für eine Revolte großer Teile der Matrosen, Soldaten und Arbeiter im ganzen Kaiserreich. Sie eroberten ganze Städte, da sie bewaffnet und entschlossen waren, gegen die damalige Ordnung anzukämpfen. Spontan organisierten sie sich in so genannten Räten (russisch: Sowjet), die an jedem Ort, an dem es sie gab, eine radikaldemokratische proletarische Staatsmacht bildeten.

Karl Liebknecht, ein Anführer der deutschen Kommunisten, rief am 9. November 1918 entsprechend eine „freie sozialistische Republik“ aus. Die bürgerlichen Politiker in den Parlamenten und lokalen Verwaltungen waren entsetzt, konnten aber zunächst nichts gegen diese sozialistische Republik in Deutschland ausrichten. Die deutschen Streitkräfte waren ja plötzlich auf der Seite des Sozialismus. Um etwas gegen dieses rote "Gespenst" zu unternehmen, vor dem die Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft so furchtbare Angst hatten, mussten sie mit anderen Methoden Gewalt anwenden.

Dazu verbündete sich der erzreaktionäre Verräter Ebert, der übrigens der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) noch immer ihren Namen gibt, ausgerechnet mit den faschistoiden "Freikorps", die die Vorläufer von Hitlers SA waren. Die Freikorps waren ehemalige Soldaten und fanatische Feinde des Sozialismus. Sie terrorisierten die Bevölkerung und töteten unzählige Kommunisten und Demokraten. Sie töteten auch die hervorragenden Anführer der Kommunistischen Partei Deutschlands, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, womit die kommunistische Bewegung in Deutschland geköpft wurde. Ebert soll auch persönlich verantwortlich gewesen sein für die Ermordung seiner ehemaligen Genossen, indem er ihrem Mörder Waldemar Pabst sein Einverständnis zu ihrer Tötung gab.

Das Bündnis der SPD-Führung mit den faschistoiden Freikorps führte aber noch nicht zur Errichtung einer faschistischen Diktatur, sondern zu einer scheinbar demokratischen Diktatur des Bürgertums unter Führung der SPD. Die Freikorps hatten gerade genug Kraft gehabt, um die Arbeiterbewegung zu besiegen, aber nicht genug, um eine eigene Diktatur aufrecht zu erhalten. Also einigten sie sich mit der SPD-Führung bzw. wurden von gemäßigteren Kräften unterdrückt, wo sie zu mächtig wurden. Als Lohn für seine Demokratie verachtende Haltung konnte Friedrich Ebert dann Präsident der Weimarer Republik werden, die auf den Gebeinen der deutschen Räterepublik errichtet wurde. Eine Diktatur des Bürgertums war diese Republik deswegen, weil jeder Versuch, die engen Schranken der bürgerlichen Eigentumsordnung zu überwinden, von Vertretern dieser Ordnung niedergeschlagen wurde. Die Wahl eines Reichtags oder eines Reichspräsidenten konnte dagegen toleriert werden.

Bürgerliche und proletarische Revolution in Deutschland


Die Rätekommunisten schlossen sehr richtige und sehr falsche Ideen aus der Erfahrung mit der deutschen Revolution. Sie betonten ganz zu Recht: Der Charakter der proletarischen Revolution ist ein völlig anderer als der der bürgerlichen Revolution. Die bürgerliche Revolution werde von einigen wenigen Vertretern der bürgerlichen Klasse, die in Parteien organisiert sind, gegen die Reaktion der Feudalherrscher durchgesetzt. Sie sei die Machtergreifung der bürgerlichen Klasse und der Sturz der feudalen Klasse. Das Resultat sei immer die Durchsetzung der bürgerlichen Ordnung mit all ihren Regeln, Gesetzen und Werten. Natürlich sei das Eigentum der Bürger, der Kapitalisten, dabei der höchste Wert. Der bürgerliche Staat nutze für die Aufrechterhaltung dieser Ordnung allerhand Herrschaftstechniken.

Zu diesen Techniken gehören die Anwendung von Polizei, Armee, Geheimdienst, aber auch von Parteien, Parlamenten und Gewerkschaften – allgemein: die bürgerlichen Institutionen. Außerdem gehören zu diesen Techniken noch alle Formen bürgerlicher Ideologie, die so unterschiedliche Bereiche wie Erziehung, Bildung, Wissenschaft, Religion, Kunst und Familienleben einbezieht. So weit sind die Ansichten der Rätekommunisten gar nicht falsch und bemerkenswert. Andere Schlussfolgerungen der Rätekommunisten sind jedoch nicht nur bemerkenswert, sondern bedenklich und geradezu irreführend.

Wie deuteten die Rätekommunisten die deutsche Revolution ab November 1918? Sie loben die Aufbäumung der proletarischen Klasse gegen das Kaiserreich und den Sturz des Kaisers. Sie feiern natürlich den Aufbau einer Rätemacht und die Ausrufung einer sozialistischen Räterepublik durch Liebknecht. Den Verrat der SPD an dieser Räterepublik verurteilen sie. Die Errichtung der Weimarer Republik war ihrer Argumentation zu Folge kein allzu großer Erfolg für die Arbeiterbewegung, sondern bloß die Ersetzung einer Form der Klassendiktatur durch eine ebenso schlechte. Das Kaiserreich wurde durch eine Republik ersetzt. Aber das Proletariat ist nicht an der Macht geblieben, sondern wurde entmachtet.

Luxemburg und Liebknecht werfen die Rätekommunisten vor, nicht weit genug gegangen zu sein. Sie hätten als Protest gegen den Verrat der SPD keine Kommunistische Partei gründen sollen, sondern eine Arbeiterorganisation, die von bürgerlichen Institutionen radikal verschieden hätte sein müssen. Parteien und Gewerkschaften müssen im Rahmen der bürgerlichen Ordnung bleiben, wie die Ultralinken seit jeher annehmen. Einzig die Räte können demnach die bürgerliche Ordnung herausfordern und stürzen. Einzig die Räte seien die Organisationsform einer sozialistischen Gesellschaft. Daran könne man im Grunde jede Revolution messen. Die SPD habe ja offenbar die Räterepublik und die Rätebewegung niedergeschlagen und die KPD habe schlicht versagt. Die SPD und die KPD seien nämlich von vornherein keine proletarischen Institutionen mit revolutionärem Potenzial gewesen.

Die Niederlage der Novemberrevolution in Deutschland könnte man daher als natürliches Resultat der Unreife der Klassenverhältnisse und als Übermacht der bürgerlichen Institutionen verstehen. Demnach wäre es kein Wunder, dass die Räterepublik schnell erschlagen wurde, da die Arbeiterbewegung von der SPD, einer sich sozialdemokratisch nennenden bürgerlichen Partei, und der KPD, einer sich kommunistisch nennenden bürgerlichen Partei, geführt wurde. Die bürgerliche Führung der proletarischen Bewegung habe also zur Niederlage des proletarischen Revolutionsversuches und zum Sieg der bürgerlichen Revolution geführt.

Da ist was dran, aber dazu später mehr. Kommen wir erstmal zum Ende dieses Artikels. Im nächsten Artikel gehe ich näher auf die russische Revolution und die Kritik der Rätekommunisten an den russischen Kommunisten, den Bolschewiken, unter Führung Lenins ein.

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