Sonntag, 9. August 2015

Interview mit Wiktor Schapinow: “Die meisten russischen Faschisten kämpfen auf der Seite Kiews”

Der Autor von ukraina.ru, Alexander Tschalenko, sprach am 21. Juli 2015 mit einem aktiven Teilnehmer des “russischen Frühlings” in Charkow und Odessa, dem Koordinator der “Borotba”-Bewegung, Wiktor Schapinow. Hier eine erste Übersetzung des russischen Textes ins Deutsche.

Interview mit Wiktor Schapinow: “Die meisten russischen Faschisten* kämpfen auf der Seite Kiews”


Tschalenko: Wiktor, du hast in Donezk und Lugansk Kontakt zu russischen Milizen, die zum Kämpfen ins Donez-Becken gekommen sind. Habt ihr im Gespräch das folgende Thema aufgegriffen: Als sie ins Donez-Becken kamen, stimmten da ihre Vorstellungen vom Aussehen der Russen in Donezk, Lugansk, Altschewsk und anderen Städten in der Region mit der Realität überein? Wie öffneten sie sich den Realitäten?

Ja, ich habe das Thema aufgegriffen. Wir lachten sogar darüber. Die russischen Milizionäre sagten zum Spaß: “Wir dachten, dass die Leute hier Russen sind, die von den Ukrainern unterdrückt werden, aber die hier im Donez-Becken sind richtige Ukrainer.” Tatsächlich stellt sich der durchschnittliche Russe den Ukrainer eher so vor wie einen Bewohner des Donez-Beckens und weniger wie einen Galizier. Viele kamen, um “die russische Welt” zu verteidigen, aber gerieten in einen Bürgerkrieg in der Ukraine, in dem es unter den Milizen Leute aus Iwano-Frankowsk gibt (solche habe ich selbst getroffen), während die Mehrheit im “Rechten Sektor” aus Russischsprachigen besteht, wobei viele sogar kaum Ukrainisch sprechen.

Weißt du, die heißblütigsten Feinde der DNR und LNR in der Ukraine sind Emigranten aus dem Donez-Becken, die den Maidan unterstützten und nach Kiew abgehauen sind. Es sind vor allem sie, die dazu auffordern, ihre Nachbarn umzubringen, welche sie als “Rindvieh” und “Schafsherde” ansehen. Dieser Bürgerkrieg ist also sozialer und politischer Natur. Die Fragen der Nationalität und der Sprache sind da zweitrangig.

Tschalenko: Du bist selbst Bürger Russlands. Du hast in Moskau gelebt. Und du hast lange in Kiew gelebt. Und nach dem Euromaidan hast du in Charkow und Odessa gelebt. Dann auf der Krim. Und nun im Donez-Becken, das sich im Krieg befindet. Welche Unterschiede gibt es zwischen Moskau, Kiew, Charkow, Odessa, der Krim und dem Donez-Becken? Kann man sagen, dass da überall ein und dasselbe Volk lebt: das russische Volk?

Wenn in all diesen Städten ein bestimmtes Volk lebt, dann ist es nicht das russische Volk, sondern das sowjetische. Der Kopf der DNR, Alexander Sachartschenko, sprach auf seine geradlinige Art im Fernsehen von der “sowjetischen Welt”, nicht von einer “russischen Welt”. Ja, diese “sowjetische Welt” stützte sich in vielem auf die russische Kultur und die russischen Sprache, die als internationale Sprache fungierte, und auf die Tradition der klassischen russischen Literatur und die russische Befreiungsbewegung - von den Dekabristen bis zu den Volkstümlern und Bolschewisten. Aber nicht nur das. Die sowjetische Welt vereinte in sich die besten progressiven Traditionen aller Völker der UdSSR.

Genau so war es mit der sowjetischen Küche, die unter der Anleitung des Volkskommissars Anastas Mikojan zu Zeiten Stalins begründet wurde, in der es den ukrainischen Borschtsch sowie den usbekischen Plow, den Schaschlik aus dem Kaukasus und die russische Suppe gab. Die Sowjetunion verfolgte eine gewaltige Modernisierungsmission. An die Stelle des spitzbärtigen Russen mit der Balalaika und russischer Tracht und des Ukrainers in ukrainischer Tracht traten der sowjetische Russe und der sowjetische Ukrainer.

Nun will man uns wieder in nationalistische Wildheit führen, den Einen ukrainische Hosen und den Anderen russisch-orthodoxe Gewänder anziehen. In der Ukraine hat solche Rohheit wirklich staatliche Formen angenommen, wogegen das Donez-Becken auch vielfach rebellierte. In Russland nimmt das leichtere Formen an, aber auch dort gibt es viele Kräfte, die sich etwas wie russisch-orthodoxe Taliban wünschen.

Unter den Menschen in Russland, die völlig zu Recht den ukrainischen Faschismus hassen, entwickelt sich zuweilen ein Hass auf alles Ukrainische. Sie leugnen die Existenz einer ukrainischen Sprache und fangen schon an, davon zu reden, die ukrainische Nation sei vom österreichischen Generalstab erfunden. Diese Leute verstehen nicht, dass sie damit den verhassten ukrainischen Faschisten gleichen. Solche Leute liegen absolut falsch.

Früher wurde Deutschland mit einer üblen Krankheit infiziert - dem Nazismus. Ein bedeutender Teil des deutschen Volkes stützte Hitler und ermordete die Völker Osteuropas. Aber als die Rote Armee diese neue Barbarei bis hinter die Grenze des Deutschen Reiches zurückdrängte, da sagten viele, dass man Deutschland als Staat völlig vernichten und die Deutschen anhand ihrer Nationalität erschlagen müsse.

1944 verfasste der berühmte sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg einen Artikel, in dem er die völlige Vernichtung Deutschlands forderte. Stalin antwortete ihm mit einem seither viel zitierten Ausspruch: “Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber, der deutsche Staat aber - bleibt.” Und genauso müssen wir, die Feinde der Kiewer Junta, sagen: “Die Poroschenko und Jarosch kommen und gehen, das ukrainische Volk aber - bleibt.”

Tschalenko: Kannst du zwischen einem Ukrainer und einem Russen den Unterschied benennen?

Das sind unterschiedliche, aber eng verwandte Völker. Aber sogar die ukrainische Variante der russischen Sprache unterscheidet sich gewissermaßen von der Variante, die in Russland gesprochen wird. Ich habe mich zwar in dieses Thema nicht sonderlich vertieft, aber man muss keine Schädel vermessen oder von “Blut und Boden” schwadronieren. Die Entwicklung in Form der Nation ist eine lange geschichtliche Epoche, aber sie nähert sich ihrem Ende. Früher oder später wird die Menschheit die Teilung in Nationen überwinden. Die Sowjetunion hat bedeutende Schritte in diese Richtung getätigt, indem sie ein “sowjetisches Volk” bildete. Ich meine, darin liegt die Zukunft und nicht in der Suche und Kultivierung nationaler Differenzen.

Tschalenko: Witja, noch einmal: Benenn doch die Unterschiede zwischen den Ukrainern und Russen. Komm, ich helfe dir. Benenn den Unterschied zwischen uns: Dir, dem gebürtigen Moskauer, und mir, dem gebürtigen aus Donezk, der 30 Jahre lang in Kiew gelebt hat und auf dessen Pass das Wort “Ukrainer” steht.

Der Unterschied liegt darin, dass du ein Ukrainer bist und ich ein Russe. Nochmal. Ich habe nicht vor, Schädel zu vermessen, aber hätte ich dich auf der Straße getroffen und nicht gekannt, dann hätte ich sofort gedacht, dass du Ukrainer bist. Mir scheint, man kann sich kaum einen typischeren Ukrainer - anhand des Aussehens, anhand des Charakters und anhand des Temperaments - vorstellen als dich.

Tschalenko: Verstehe ich das richtig: Ich spreche die “ukrainische Variante” der russischen Sprache und du sprichst die “russländische” Variante der russischen Sprache? Kannst du mir anhand meiner Worte oder meiner Artikel Beispiele dafür liefern, die du die “ukrainische Variante” der russischen Sprache nennst?

Ich habe bereits über 10 Jahre in der Ukraine gelebt und spreche selbst schon einen Mix aus beiden Varianten. Ich bin kein Linguist. Deswegen kann ich über dieses Thema nicht viel sagen, aber ich denke, dass alle, die in der Ukraine und in Russland gelebt haben, diesen Unterschied spüren. Ich verstehe schon, dass du aufzeigen willst, dass es keine Ukrainer gibt, aber so ist das nicht. Unter den Weißrussen z.B. Sprechen 90 Prozent und ihre Variante des Russischen ist näher an der Variante in Russland als es die ukrainische Variante ist. Allein, niemand leugnet die Existenz eines weißrussischen Volkes, aber die Ukrainer leugnet man.

Die Russischsprachigen im “Rechten Sektor”, die kaum Ukrainisch verstehen, von denen du sprachst - sind das deiner Meinung nach Ukrainer?

Unter ihnen befinden sich russischsprachige Ukrainer. Und im “Rechten Sektor” gibt es auch Russen. Nochmal: Ich glaube nicht, dass das in der Ukraine eine Auseinandersetzung zwischen Völkern ist. Diejenigen, die das meinen, müssen alle im “Rechten Sektor” zu den Ukrainern zählen und alle Milizen zu den Russen. In der Ukraine gibt es im Wesentlichen einen Bürgerkrieg, die alle Völker gespalten hat, die im Land leben.

Tschalenko: Du bist ein Marxist und Kommunist. Du glaubst an den Klassenkampf. Aber der Aufstand in Noworossija läuft hauptsächlich immer noch unter russischen Parolen, wie auch unter sowjetischen, die vielleicht nicht direkt, aber letztlich doch russische Parolen sind. Daher meine Frage: Warum unterstützt ihr Linken unter solchen Umständen den “russischen Frühling” und wertet diesen nicht als kleinbürlichen oder bürgerlichen, russischen Nationalismus?

Marxisten und Kommunisten unterstützen immer den Kampf gegen nationale Unterdrückung, weshalb wir auf der Seite des Donez-Beckens sind. Aber es gibt einen Kampf gegen nationale Unterdrückung und es gibt Nationalismus als Übermacht einer Nation und Unterdrückung anderer. Wir sind also auch gegen den russischen Nationalismus und wenn jemand im Donez-Becken Ukrainer unterdrücken sollte, oder Juden, Tataren oder irgendeine andere Nation, dann ist er ebenso unser Gegner, wie der ukrainische Faschist, der versucht, die russische Sprache und Kultur zu verbieten.

Aber soetwas habe ich im Donez-Becken nicht gesehen. Hingegen habe ich Tataren-Milizen und Aserbaidschaner gesehen und sogar Paschtunen-Milizen kennengelernt. Sie kämpfen dafür, dass ihr Gebiet so international und durchtränkt vom Geist der Völkerfreundschaft bleibt, wie das Donez-Becken immer schon war.

Diejenigen hingegen, die sich im Donez-Becken als russische Nationalisten verstehen - das sind eher Kämpfer gegen die nationale Unterdrückung wie etwa die irischen Republikaner oder nationale Befreiungsbewegungen der dritten Welt. Die meisten in die Ukraine gekommenen russischen Faschisten kämpfen jetzt auf der Seite Kiews, besonders nachdem man aus der DNR schließlich die Bande des Petersburger Faschisten Miltschakow vertrieben hat, welche die ganze Republik und die Milizen bedroht hatte.

Ich denke nicht, dass sowjetische Parolen in Wirklichkeit russische Parolen waren. Die sowjetischen Parolen tragen starke Züge sozialer Befreiung und Antikapitalismus in sich. Dieser Zug war im Verlauf des Aufstands im Donez-Becken von Anfang an stark. Wie der späte Alexej Mosgowoj sagte: “Der Hauptgegner - das ist der Oligarch und der Funktionär.” Dieses Testament des legendären Kommandeurs werden die Kämpfer nicht vergessen.

Schon die Bezeichnung “Volksrepublik” kommt aus der “sowjetischen Welt”, in der es die sozialistische Volksrepublik Polen, die Volksrepublik China und so weiter gegeben hat. Der Aufstand war nicht nur gegen Kiew gerichtet, sondern gegen die eigenen Oligarchen, gegen die Oligarchen von Donezk: Gegen Taruta, gegen Achmetow, der den Aufstand “mit Waffen ersticken” wollte und dann mit Kiew über die Übergabe von Donezk “vereinbaren” wollte.

Wir - die Linken, die Kommunisten - wir unterstützen diese anfängliche Ausrichtung des Aufstands und wir wollen, dass die Bezeichnung “Volksrepublik” nicht bloß zu einer Worthülse wird. Das Volk wird nicht für eine Wiedererrichtung des Imperiums der Romanows kämpfen. Dieser Schatten der Vergangenheit “bringt’s nicht”. Aber für die Errungenschaften, die dem Volk seit 1991 entrissen wurden, würde es kämpfen.

Tschalenko: Ihr Linken, was haltet ihr von Plünderungen, Kellergerichten und solchen Praktiken wie dem “Beinschuss”, die es unter den “Volkskommandeuren” gab, bevor sich die Exekutiven der DNR und LNR darum kümmern konnten?

Zu den Plünderungen. Es Marodeurtum, auf das Erschießen die Antwort ist. Es gibt aber auch Konfiszierungen des Eigentums von Überläufern auf die Seite Kiews unter den Bourgeois und Funktionären. Das ist etwas Anderes. Kellergerichte tauchten auf als die staatlichen Institutionen und das Rechtssystem zerfielen. Jeder Kommandeur wurde zum Richter, Ankläger, Milizionär und Gefängniswärter. Natürlich ist konnte so ein System, das spontan aus der Revolution erwuchs, nicht ohne Greuel und Exzesse sein. Und was “die Exekutiven in der DNR und LNR” angeht, die selbst aus den Volkskommandeuren kommen, so gab es unter ihnen nicht weniger Exzesse als unter anderen Miliztruppen. So weit ich weiß gibt es einen Kampf gegen diese Erscheinungen.

Tschalenko: In der Biographie von Alexej Borissowitsch Mosgowoj kamen solche Praktiken wie Plünderungen und Kellergerichte vor.

Das Kellergericht gab es überall. Wie soll man einen Delinquenten oder Kämpfer bestrafen, der auf seinem Posten betrinkt? Solche Leute hat man für eine gewisse Zeit “in den Keller” gesperrt, wo sie Sozialarbeit ableisten mussten wie z.B. Graben oder Müll wegbringen. Solch ein “Kellergericht” gab es bei Mosgowoj natürlich. Jetzt, wo ein Rechtssystem entsteht, entfällt die Notwendigkeit von solchen “Kellergerichten”. Alexej Mosgowoj selbst war, und meine Genossen in der “Geisterbrigade” bestätigten das, ein gedankenvoller und ehrlicher Mensch, unter dem es keinerlei Plünderungen gab.

Tschalenko: Was, meinst du, wollen die Leute im Donez-Becken: Die Überführung der DNR und LNR in die Struktur Russlands oder eigenständige sozialistische Republiken?

Schwer zu sagen. Aber ich denke, dass die Frage so nicht gestellt werden kann. Keiner hat vor, die DNR und LNR in die Struktur Russlands zu überführen, was schon letztes Jahr klar wurde. Den Sozialismus auf so kleinem Territorium bei einer exportabhängigen Wirtschaft aufzubauen ist praktisch unmöglich. Ich schätze, dass es hier bis zum Sturz des Kiewer Regimes unabhängige Regierungen mit gewissen Elementen des Sozialstaats, des staatlichen Sektors und der Verstaatlichung von Banken geben wird. Das ist das Höchste, auf das man hoffen kann. Wenn zumindest ganz Noworossija oder die ganze Ukraine befreit ist - dann kann man über den Austausch des kapitalistischen Modells durch ein weniger kannibalistisches nachdenken.

*In einer vorherigen Version wurde im Titel von russischen Nationalisten gesprochen, aber der russische Ausdruck war: Faschisten.