Montag, 7. Dezember 2015

Pjotr Werchowenskij und Stawrogin im Dialog über den Schigalewismus

Der Dialog entstammt Dostojewskijs Roman "Die Dämonen", der im 19. Jahrhundert im Zarenreich spielt. Die zwei jungen Verschwörer Werchowenskij und Stawrogin unterhalten sich über ihre dystopische Vision für Russland.

„Hören Sie, wir werden einen Aufstand erregen“, flüsterte jener schnell und wie im Fieber. „Sie glauben nicht, dass wir das können? Wir werden, sag’ ich Ihnen, einen Aufruhr zustande bringen, dass alles aus den Fugen geht. Karmasinoff hat recht, wenn er sagt, dass nichts da ist, woran man sich festhalten könnte. Karmasinoff ist sehr klug. Nur noch zehn solcher Gruppen in ganz Russland und ich bin nicht zu fangen.“

„Und lauter ebensolche Dummköpfe!“ entfuhr es Stawrogin wider Willen.

„Oh, seien Sie selbst etwas dümmer, Stawrogin, seien Sie selbst etwas dümmer! Wissen Sie, Sie sind doch auch gar nicht so klug, dass man Ihnen dies noch wünschen müsste. Sie fürchten sich nur, Sie glauben nicht, dass Ausmaß schreckt Sie. Und warum sollen sie Dummköpfe sein? Sie sind gar nicht mal solche Dummköpfe. Heutzutage hat niemand seinen eigenen Verstand. Heutzutage gibt es furchtbar wenig selbständig denkende Köpfe. Wirginskij ist ein außergewöhnlich reiner Mensch, zehnmal reiner als solche wie wir; übrigens, mag er dabei bleiben. Liputin ist ein Spitzbube, aber ich kenne an ihm einen bestimmten schwachen Punkt. Es gibt keinen Spitzbuben, der nicht seinen eigenen schwachen Punkt hätte. Nur Lämschin allein ist ohne solchen Punkt, aber dafür habe ich ihn ganz in der Hand. Noch ein paar solcher Gruppen, und ich habe überall Pässe und Geld – beachten Sie schon das allein! Was das allein schon ausmacht! Und dazu sichere Verstecke. Mögen Sie dann suchen! Die eine Gruppe reißen sie heraus, und auf die andere setzen sie sich ahnungslos. Wir wiegeln auf, wir bringen es zu Unruhen überall im Land … Glauben Sie denn wirklich nicht, dass wir zwei dazu vollkommen genügen?“

„Nehmen Sie sich dazu Schigaljoff, mich aber lassen Sie in Ruh …“

„Schigaljoff ist ein genialer Mensch! Wissen Sie auch, dass er ein Genie ist à la Fourier, aber kühner als Fourier, stärker als Fourier! Ich werde sein Werk noch studieren. Er hat die „Gleichheit“ erdacht!“

,Er hat offenbar Fieber und phantasiert. Es muss ihm etwas etwas ganz Besonderes widerfahren sein’, dachte Stawrogin, indem er ihn noch einmal ansah. Sie gingen, ohne stehen zu bleiben.

„In seinem Manuskript ist das wunderbar“, fuhr Werchowenskij fort, „ dass er die Spionage einbezieht. Bei ihm beaufsichtigt jedes Mitglied der Gesellschaft jedes andere und ist zur Anzeige verpflichtet. Jeder gehört allen und alle jedem. Alle sind Sklaven und in der Sklaverei einander gleich. In extremen Fällen wird mit falschen Aussagen und Mord vorgegangen, aber die Hauptsache ist die Gleichheit. Die erste Folge davon wird sein, dass das Niveau der Bildung, der Wissenschaften und der Talente sinkt. Ein hohes Niveau der Wissenschaften und Talente ist nur höher Begabten zugänglich, aber höher Begabte brauchen wir nicht! Höher Begabte haben immer die Macht an sich gerissen und sind Despoten gewesen. Höher Begabte können gar nicht umhin, Despoten zu sein, und stets haben sie mehr demoralisiert als Nutzen gebracht; man verjagt sie deshalb oder richtet sie hin. Cicero wird die Zunge ausgeschnitten, Kopernikus werden die Augen ausgestochen, Shakespeare wird gesteinigt, das ist Schigalewismus! Sklaven müssen gleich sein: ohne Despotismus hat es noch nie weder Freiheit noch Gleichheit gegeben, in einer Herde aber muss Gleichheit herrschen, und das ist eben Schigalewismus! Hahaha! Sie wundern sich? Ich bin für den Schigalewismus!“

Stawrogin bemühte sich, seinen Schritt zu beschleunigen, um schneller nach Haus zu kommen. ,Wenn dieser Mensch betrunken sein sollte, wo hat er sich dann inzwischen betrinken können?’ fuhr es ihm durch den Kopf. ,Sollte wirklich der Kognac dazu genügt haben?’

„Hören Sie, Stawrogin: Berge einzuebnen, das ist ein guter Gedanke, nicht etwa ein lächerlicher. Ich bin für Schigaljoff! Wir brauchen keine Bildung, wir haben genug Wissenschaft! Auch ohne Wissenschaft reicht das Material für tausend Jahre, aber was unbedingt eingeführt werden muss, dass ist Gehorsam. Nur an einem ist Mangel in der Welt, an Gehorsam. Durst nach Bildung ist bereits ein aristokratischer Trieb. Kaum ist Familie oder Liebe da, so stellt sich auch schon der Wunsch nach Eigentum ein. Wir bringen ihn um, diesen Wunsch: wir verbreiten Trunksucht, Klatsch, Anzeigerei; wir verbreiten unerhörte Demoralisation; jedes Genie wird schon in der Kindheit ausgelöscht. Alles wird auf einen Nenner gebracht, um der vollständigen Gleichheit willen. ,Wir haben ein Handwerk erlernt und sind ehrliche Leute, das genügt uns’, das war vor kurzem die Antwort englischer Arbeiter. ,Notwendig ist nur das Notwendige’, das wird von nun an der Wahlspruch des Erdballs sein. Aber ab und zu muss es auch so etwas wie einen Krampf geben; dafür werden wir schon sorgen, wir Regenten. Sklaven müssen Regenten haben. Vollkommener Gehorsam, vollkommene Unpersönlichkeit, aber alle dreißig Jahre einmal sieht Schigaljoff auch eine Konvulsion vor, eine Art Erschütterung, und dann fangen auf einmal alle an, einander aufzufressen, bis zu einer gewissen Grenze natürlich, einzig damit es ihnen nicht zu langweilig werde. Langeweile ist eine aristokratische Empfindung; im Schigalewismus wird es keine Wünsche geben. Wünsche und Leiden für uns, für die Sklaven aber Schigalewismus.

„Sich selbst schließen Sie aus?“ entschlüpfte es Stawrogin wieder ungewollt.

„Und Sie. Wissen Sie, anfangs dachte ich daran, die Welt dem Papst zu übergeben. Mag er allein zu Fuß und barfüßig herauskommen und sich dem Pöbel zeigen, sozusagen: ,Seht, wie weit man mich gebracht hat!“ – und alles wird ihm zuströmen, selbst das Heer. Der Papst oben, wir um ihn herum und unter uns die Schigaljoffsche Herde. Dazu wäre nur erforderlich, dass sich die Internationale mit dem Papst einverstanden erklärte; was sie auch tun wird. Das alte Männlein selbst wird natürlich sofort einverstanden sein. Es wird ihm ja auch gar kein anderer Ausweg übrig bleiben, behalten Sie meine Worte, hahaha! – Dumm etwa? Sagen Sie, ist das dumm oder nicht dumm?“

„Genug davon!“ brummte Stawrogin ärgerlich.

„Gut, genug davon! Hören Sie, ich habe den Papst fallen lassen! Zum Teufel mit dem Papst! Und der Teufel hole auch den Schigalewismus! Wir brauchen das, was heute die Gemüter erregt, die aktuelle Wut, und nicht den Schigalewismus, denn der ist eine Juwelierarbeit. Ist ein Ideal, kommt erst in der Zukunft in Frage. Schigaljoff ist ein feiner Juwelier und dumm wie jeder Philanthrop. Zunächst tut grobe Arbeit not, Schigaljoff aber verachtet die grobe Arbeit. Hören Sie: der Papst mag im Westen regieren, bei uns aber, bei uns – Sie!“

„Lassen Sie mich in Ruh, Sie sind ja betrunken!“ brummte Stawrogin und beschleunigte seine Schritte.

„Stawrogin, Sie sind schön!“ begann Pjotr Stepanowitsch wie in einem Rausch. „Wissen Sie es auch selbst, dass Sie schön sind? Das ist ja das Kostbarste an Ihnen, dass Sie sich manchmal gar nicht dessen bewusst sind. Oh, ich habe Sie studiert! Wie oft habe ich sie heimlich, aus einem Winkel, ganz unbemerkt beobachtet! In Ihnen ist sogar Aufrichtigkeit und ist echte Naivität vorhanden! Sie leiden gewiss unter dieser Aufrichtigkeit, und leiden aufrichtig. Und ich, ich liebe Schönheit. Ich bin Nihilist, aber ich liebe Schönheit. Ich bin Nihilist, aber ich liebe Schönheit. Lieben denn Nihilisten das Schöne etwa nicht? Die lieben doch bloß Abgötter nicht, ich aber, nun, ich liebe einen Abgott! Sie …Sie sind mein Abgott! Sie beleidigen keinen, und doch werden Sie von allen gehasst; Sie verhalten sich zu allen wie zu Standesgenossen, und doch werden Sie von allen gefürchtet, das ist gut. An Sie wird niemand herantreten, um Sie auf die Schulter zu klopfen. Sie sind ein unheimlicher Aristokrat. Wenn ein Aristokrat sich zu Demokraten gesellt, ist er bezaubernd! Ihnen macht es nichts aus, ein Leben zu opfern, sei es Ihr eigenes, sei es ein fremdes Leben. Sie sind genau die Gestalt, die nötig ist. Und ich, ich brauche gerade so eine, wie Sie sind. Außer Ihnen wüsste ich keinen. Sie sind der geborene Anführer, Sie sind die Sonne, und ich bin ihr Wurm …“

Und plötzlich küsste er ihm die Hand. Kalt lief es Stawrogin über den Rücken, und erschrocken entriss er ihm seine Hand. Sie blieben stehen.

„Wahnsinnniger!“ flüsterte Stawrogin.

„Vielleicht deliriere ich, vielleicht deliriere ich“, fiel dieser hastig ein, „aber ich habe den ersten Schritt ersonnen. Niemals wird ein Schigaljoff darauf verfallen, mit welchem ersten Schritt man anfangen muss. Es gibt viele Schigaljoffs! Aber nur ein Einziger, ein Einziger in Russland hat den ersten Schritt erfunden und weiß, wie er zu machen ist. Dieser Mensch bin ich. Warum sehen Sie mich so an? Ich brauche aber Sie dazu, Sie, ohne Sie bin ich eine Null. Ohne Sie bin ich eine Fliege, eine Idee in verkorkter Flasche, bin ein Kolumbus ohne Amerika!“

Stawrogin stand und sah unverwandt in Werchowenskijs irre Augen.

„Hören Sie zu, wir stiften zuerst nur Unruhen im Land“, redete dieser wie gehetzt weiter, während er immer wieder Stawrogins linken Ärmel anfasste. „Ich habe Ihnen schon gesagt: wir dringen unmittelbar ins Volk ein. Wissen Sie auch, dass wir auch jetzt schon furchtbar stark sind? Zu uns gehören nicht nur die, die da brandstiften und morden, oder klassische Schüsse abfeuern oder in Schultern beißen. Solche stören nur. Ohne Disziplin ist mir überhaupt nichts möglich. Ich bin doch ein Spitzbube, aber kein Sozialist, haha! Hören Sie zu, ich habe sie bereits alle zusammengezählt: der Lehrer, der sich mit den Schulkindern über ihren Gott und über ihre Wiege lustig macht, ist schon unser. Der Advokat, der den gebildeten Mörder damit verteidigt, dass dieser geistig entwickelter sei als seine Opfer und daher, um sich Geld zu verschaffen, nicht umhin konnte, zu morden, ist schon unser. Die Schuljungen, die einen Bauern totschlagen, nur um das Gefühl kennen zu lernen, das man dabei empfindet, sind unser. Die Geschworenen, die alle Verbrecher ohne Ausnahme freisprechen, sind unser. Der Staatsanwalt, der bei der Gerichtsverhandlung davor zittert, er könne nicht liberal genug erscheinen, ist unser, unser. Unser sind Beamte und Literaten, oh, unser sind viele, unglaublich viele, und sie wissen es selbst nicht einmal, dass sie unser sind. Auf der anderen Seite hat der Gehorsam der wenigen Schüler und Dummköpfe den höchsten Grad erreicht; bei denen aber, die sie leiten und belehren sollten, ist offenbar die Gallenblase geplatzt. Überall eine Hoffart von unvorstellbarem Ausmaß, tierische, unerhörte Begierde … Wissen Sie, wissen Sie auch, wie viele wir schon allein mit fertigen Ideechen einfangen? Als ich Russland verließ, wütete hier gerade die These Littrés, nach der Verbrechen Wahnsinn sei; ich kehre zurück, und schon ist Verbrechen nicht mehr Wahnsinn, sondern geradezu die gesunde Vernunft selbst, beinahe eine Pflicht oder zum mindesten ein edler Protest. Sozusagen: ,Wie soll denn ein geistig entwickelter Mensch nicht morden, wenn er doch Geld braucht?’ – Aber das sind vorerst nur so kleine Beeren. Der russische Gott hat vor dem billigen Fusel schon den Rückzug angetreten. Das Volk ist betrunken, die Mütter sind betrunken, die Kinder sind betrunken, die Kirchen sind leer, und an den Gerichtshöfen heißt es: ,Zweihundert Rutenhiebe, oder schlepp einen Eimer Schnaps herbei.’ Oh, lassen Sie nur diese Generation noch heranwachsen! Es ist nur schade, dass wir keine Zeit haben zu waren, sonst könnte man sie noch betrunkener werden lassen! Ach, und schade, dass es noch keine Proletarier gibt! Aber es wird, es wird sie schon geben, dazu trägt ja alles bei …“

„Schade ist es auch, dass wir zu verdummen anfangen“, brummte Stawrogin und setzte seinen Weg fort.

„Hören Sie, ich habe selbst ein sechsjähriges Kind gesehen, das seine betrunkene Mutter nach Hause führte, und die beschimpfte es dafür mit garstigen Worten. Glauben Sie, dass mich das gefreut hat? Bekommen wir es in die Hand, so werden wir es vielleicht auch gesund machen … falls nötig, treiben wir es auf vierzig Jahre in die Wüste hinaus … Aber eine oder zwei Generationen mit Sittenverderbnis sind vorerst unbedingt erforderlich, - mit unerhörter, niederträchtiger Sittenverderbnis, in der sich der Mensch in nichts als einen widerlichen, feigen, grausamen, selbstsüchtigen Abschaum verwandelt – gerade das ist es, was jetzt nötig ist! Und dann noch etwas ,frischvergossenes Blut’, damit er sich daran gewöhnt. Warum lachen Sie? Ich widerspreche mir durchaus nicht. Ich widerspreche nur den Philanthropen und dem Schigalewismus, nicht mir! Ich bin ein Spitzbube, aber kein Sozialist. Hahaha! Schade nur, dass wir so wenig Zeit haben. Ich habe Karmasinoff versprochen, im Mai zu beginnen und zu Mariä Fürbitte zu beenden. Schnell – wie? Haha! Wissen Sie, was ich Ihnen sagen werde, Stawrogin: im russischen Volk hat es bisher noch keinen Zynismus gegeben, obschon es mit schmutzigen Wörtern geschimpft hat. Wissen Sie auch, dass dieser leibeigene Sklave sich selbst mehr geachtet hat, als Karmasinoff sich achtet? Man hat ihn geprügelt, aber er hat seine Götter verteidigt, während Karmasinoff das nicht tut.“