Donnerstag, 24. April 2014

Zerrissen zwischen Yin und Yang - eine Filmkritik zu "Man of Tai Chi"

Man of Tai Chi (2014) ist endlich wieder ein innovativer Kampfkunst-Film mit bemerkenswerter Handlung und Besetzung.

Die Handlung


Die Handlung von Man of Tai Chi ist typisch für asiatische Kampfkunstfilme: der begabte, aber ungestüme Kampfkunst-Schüler hat einen weisen Meister, der dem Jüngling noch viel über das Leben und alles Gute beibringen muss. Der Bösewicht ist natürlich selbst ein Kampfkunst-Meister, der aber seine Kampfkunst für niedere Zwecke missbraucht. Das Gute und das Böse treffen im körperlichen und im mentalen Kampf auf einander und das Gute gewinnt. So weit so gut.

Tai Chi im Sog der modernen Gesellschaft


Aber Man of Tai Chi geht unendlich viel weiter über dieses typische Schema hinaus. Es bietet eine tiefere Einführung in die chinesische Philosophie ebenso wie in die modernsten Techniken des heutigen Action-Films. Es gibt eine höchst bemerkenswerte Moral von der Geschichte und eine ebenso erstaunliche filmische Umsetzung dieser Moral. 

Der talentierte Tiger Chen (Tiger Hu Chen) trainiert bei einem weisen Meister (Hai Yu) des Tai Chi. Abgesehen von seinen traditionellen Atemübungen zur Stärkung von Körper und Geist erprobt Tiger Chen sein Können auch in Kampfsport-Wettkämpfen. Auf diese Weise kommt er auch in Kontakt zum Bösewicht Donaka Mark (Keanu Reeves). Mark ist nicht nur ein extrem guter Kämpfer, sondern auch ein extrem böser Unternehmer. Als Kapitalist richtet er illegale Wettkämpfe aus, um durch die Schaulust der Konsumenten an brutalen Kämpfen möglichst viel Geld zu verdienen. Tiger Chen wird kurzerhand zum "Bewerbungsgespräch" beim Bösewicht eingeladen. Die finanziellen Probleme des Klosters, in dem er trainiert, sind der finale Anreiz für Tiger Chen, um sich auf die Kämpfe einzulassen. Denn wie in allen guten Filmen vermischen sich gute Motive mit schlechten Motiven. Tiger Chen will einerseits das Kloster seines Meisters mit den Kampfgewinnen retten. Andererseits will der ehrgeizige Kämpfer auch beweisen, dass sein Tai Chi mehr als Show ist.

Entsprechend begrüßt ihn ein Gegner mit den Worten: "Tai Chi ist nichts als Show". Tiger Chen beweist jedoch immer wieder, dass sein Tai Chi allen möglichen Kampfsportarten weit überlegen ist. Ob Judo, Ringen, Mixed Martial Arts oder hartes Kungfu - Tiger Chens Tai Chi erscheint immer überlegen. Was Tiger Chen nicht ahnt ist, dass die illegalen Kämpfe live übertragen werden, um auf ihm einen Star zu machen. "Und jetzt, Tiger, bist du ein Star!" sagt man ihm. "Ist es nicht das, wofür du gekämpft hast?", fragt ihn der Böse. 

Tiger Chens Erfolg führt ihn jedoch, wie in fast allen Filmen besseren Kampfkunstfilmen, auf den falschen Weg. Sein großes Talent wird so zum Mittel übler Tendenzen. Denn es wird deutlich, dass ihm der Erfolg zu Kopf steigt und er übermütig und überheblich wird. Er lässt sich immer mehr auf die zwielichtigen Machenschaften seines Kontrahenten Mark ein und wird dadurch zum Komplizen des Bösen. Gekämpft wird nun nicht mehr für die Rettung eines Klosters, sondern für Ruhm und Ehre. Tiger bleibt zwar gegenüber seinen ultrareichen "Fans" skeptisch, aber zugleich genießt er die Aufmerksamkeit der High Society.

Tiger gerät also in den Sog der modernen Gesellschaft. Der Kapitalismus verschlingt auch die größten Talente, um daraus letztlich Profit zu schlagen. Tiger und seine Fähigkeiten werden zur bloßen Ware degradiert, um zahlungskräftigen Kunden das Geld aus der Tasche zu ziehen. 

Die Deformierung von Tigers Persönlichkeit durch die Verführung "von oben" geht so weit, dass er seine Wurzeln vergisst. Der Schüler wendet sich, wie in so vielen Kampfkunstfilmen, gegen den Meister. Es kommt zum Kampf zwischen Altersweisheit und jugendlicher Explosivkraft. Tiger ist sogar versucht, seine Kontrahenten zu töten. Der gewissenlose Bösewicht Mark fragt ihn daher: "Hast du Angst davor, was du ihnen antun könntest? Das musst du nicht." Profit geht im Kapitalismus eben über Moral.

Natürlich wird Tiger Chen nicht einfach zum Bösewicht. Seine Begabung verhindert ein völliges Abdriften in die tiefsten Tiefen der menschlichen Moral. Es kommt, wie es kommen musste: die böse Seite des Schülers kämpft mit der guten Seite, indem es zum Kampf mit dem guten Meister und mit dem bösen Meister kommt. Genug gespoilert. Welche Moral steckt weiterhin im Film?

Extremitäten, Extreme und Exzentrik


Tai Chi bzw. Taiji (太极) bedeutet wörtlich übersetzt ungefähr "die höchsten Extreme", "die größten Gegensätze" oder "allerhöchste Polarität". Taijiquan (太极拳), die chinesische Kampfkunst, ist in der chinesischen Philosophie der Gegensätze im Grunde das körperliche und geistige Mittel des Menschen, um Harmonie zu erreichen. Harmonie wird durch das angemessene Verhältnis von körperlichen und geistigen Kräften erreicht. Die körperlichen Extreme, vor allem die "Extremitäten", d.h. die Gliedmaßen des Menschen, sind in diesem Sinne ebenso ein Teil der Harmonie wie die geistigen Extreme. Die geistigen Extreme, die Gefühle, Motive, Gedanken und unbewussten Prozesse im Körper sind der andere Teil der Harmonie. Taijiquan soll diese zwei sehr unterschiedlichen Seiten in Form von Meditation, Atemübung, Betätigung der Gliedmaßen und geistige Prozesse zusammenbringen. Die Harmonisierung der verschiedensten Kräfte ist das Ziel.

Im Film Man of Tai Chi geht es genau um das Thema der Harmonisierung der verschiedensten Kräfte, die im Gegensatz zu einander zu stehen scheinen. Körper und Geist, Gefühle und Intellekt, Ruhe und Bewegung, Moral und Interesse, Yin und Yang etc. sollen mit einander in Einklang gebracht werden - das lehrt der Meister von Tiger. Aber Tiger ist selbst noch kein Meister. Also begreift er diese tiefere Wahrheit des Tai Chi nicht und verstößt gegen die chinesische Philosophie.

Tiger lässt sich auf die westliche Ideologie, auf das Recht des Stärkeren, auf das Faustrecht und auf den Kapitalismus ein. Nicht die östliche Weisheit, sondern die westliche Arroganz treibt ihn an. Der Gegensatz von West und Ost spiegelt so auch den Gegensatz von jung und alt, von gut und böse wieder. Das Gute ist aus dieser Perspektive heraus aber nicht die Schwarz-Weiß-Sicht, die von den Predigern der "Achse des Guten" oder der "Achse des Bösen" gefeiert wird. Das Gute ist vielmehr die angemessene Behandlung der Gegensätze.

Die westliche Philosophie und Ideologie ist zum großen Teil analytisch, auf die Einzelheit, auf das Besondere und das Ego bezogen. Sie durchdringt die höchsten Ideen des Westens ebenso wie die Alltagsphilosophie der Menschen im Westen. Sie konzentriert sich auf Symptome, auf einzelne Krisenherde und Erscheinungen. Sie ist im Kern extremistisch und exzentrisch. Für alle Probleme der Welt scheint sie spezielle Wundermittel zu haben - ob für Krankheiten, Unglück oder gesellschaftliche Probleme.

Die östliche, namentlich die chinesische Philosophie ist im Gegensatz dazu tendenziell holistisch, auf die Gesamtheit, auf das Gemeinsame und gegen das Ego gerichtet. Sie durchdringt die höchsten Ideen des Ostens noch immer, während der Alltag der Menschen im Osten sich immer mehr dem des Westens annähert. Die chinesische Philosophie betont dennoch die Ursachen, die Zusammenhänge und Mechanismen von Mängeln, Krankheiten, Krisen und Erscheinungen.

Dieser Gegensatz von östlicher und westlicher Philosophie wird in wenigen Filmen so brillant dargestellt wie in Man of Tai Chi. Denn der Sog der modernen, kapitalistischen Konsumgesellschaft korrumpiert nicht nur in der Realität immer mehr das Denken in Zusammenhängen und die internationale Solidarität, sondern der Sog des Kapitalismus zerstört auch den Charakter, die Persönlichkeit und die Integrität des Einzelnen. Tiger Chen im Film Man of Tai Chi ist die individuelle Verkörperung dieses Verfallsprozesses, in dem der Kapitalismus auch den letzten Rest von Kultur seinem Gebot unterwirft.

Das Gebot der Stunde, das höchste Gebot des Kapitalismus ist der Kampf "jeder gegen jeden", der allgemeine Konkurrenzkampf, die kapitalistische Konkurrenz, die Akkumulation um der Akkumulation willen. Das Gebot des Taiji ist die Harmonie der Menschen untereinander, die allgemeine Liebe zu Mensch und Natur, die harmonische Gesellschaft, die "große Einheit" (大同).

"Die große Einheit" ist eine immer wiederkehrende Idee in der chinesischen Philosophie. So idealistisch und irrig sie sein mag, so viel besser ist sie im Vergleich zur katastrophalen neoliberalen Ideologie, die die gesamte Menschheit bedroht. Der Neoliberalismus ist unter Führung der westlichen, vor allem US-amerikanischen Hegemonie, zur mächtigsten und gefährlichsten Ideologie der Geschichte geworden. Der rücksichtslose Kampf der Nationen und Gesellschaften ist im Neoliberalismus zum Dogma erstarrt und verhindert nicht nur den Weltfrieden, sondern zerstört die Grundlage aller Harmonie auf dem Planeten. Insofern spiegelt der Film Man of Tai Chi viel mehr wieder als bloß den klischeehaften Kampf von Gut und Böse oder von West und Ost. Der epische Kampf des aufstrebenden chinesischen Tai Chi-Schülers gegen das niederträchtige amerikanische Kapitalistenschwein symbolisiert den Aufstieg Chinas im Verlauf des Abstiegs der USA im globalen Maßstab.

Allerdings sollte man den Westen auch nicht völlig einseitig schlecht reden. Die besten Ideen über die Einheit der Gegensätze kommen immerhin von Deutschen. Hegel, die Hegelianer, Marx und die Marxisten brachten "die Lehre von der Einheit der Gegensätze" auf das höchste Niveau. Auch die Einheit von Theorie und Praxis, von Körper und Geist und von Absicht und Tat wurden in dieser Tradition des Denken, im dialektischen Denken, aufs höchste Level gebracht. Hegel sagte nicht umsonst ganz im Sinne der Moral von Man of Tai Chi: Die Wahrheit einer Absicht ist die Tat.

Fazit


Man of Tai Chi vereint die typische trashige Story vom übermütigen Helden im Kampf mit dem weisen Meister und dem abgrundtief bösen Antihelden mit einer bemerkenswerten Moral und großartiger filmischer Umsetzung in Bild und Akkustik. Der Film ist also sehenswert und wird im Laufe der Jahre zweifellos immer wertvoller werden. Chinas globale Bedeutung steigt ebenso an wie die Aktualität der östlichen Philosophie in einer multipolaren Welt voller Konflikte.