Mittwoch, 2. März 2016

Leo Kofler über die "bürgerliche Bildung"

Der österreichisch-deutsche Marxist Leo Kofler (1907-1995) widmete sich in diversen Schriften und Vorträgen dem Thema der Bildung, wie sie die drei großen Klassen im Kapitalismus - Proletariat, Kleinbürgertum und Großbürgertum - mehr oder wenig selbstverständlich kultivieren. Seine Ideen verbreitete dieser Autodidakt und Pädagoge, der durch Größe beeindruckte, an Volkshochschulen, Universitäten, vor Gewerkschaftern, Studierenden und einfachen Arbeitern. Auch heute noch sind seine Ansichten beachtenswert.

Im Folgenden Auszüge, wie sie in Koflers fast völlig vergriffenen Publikationen immer wieder zu finden sind. In diesem Fall zitiert aus Leo Kofler: "Der asketische Eros", Wien/Frankfurt/Zürich 1967, S. 249-254. Teil 3 der Reihe zur Frage der Bildung bei Kofler und x-ter Teil von Klasse-is-muss.

Leo Kofler über die "bürgerliche Bildung"


Herrschaft als Monopolisierung des Genusses


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Leo Kofler im Interview.
Bild: www.zeitzeugen-tv.com
Spricht man vom Bürger, so muß gesagt werden, welchen Bürger man meint. Vom liberalen Bürger sind noch Reste übriggeblieben. Der moderne Bürger ist der Bürger der hochbürgerlichen Dekadenz. Seine schärfste und klarste Ausprägung erhält er in seiner großbürgerlichen Elite, die das inkarniert, was man unter dem Bürgerlichen im eigentlichen und engeren Sinne versteht. Verwischen sich die Grenzen vom Kleinbürgerlichen zum Bürgerlichen über das Mittelständische, so besagt das für die Analyse des eigentlichen Bürgers wenig, da er sich von beiden durch ideologische Besonderheiten scharf unterscheidet.

Zunächst unterscheidet sich das führende Bürgertum von allen übrigen Klassen und Schichten durch seine Beziehung zum Eros. Der erotische Lebensgenuß prägt wie bei allen herrschenden Klassen sein Wesen. Askese ist ihm unbekannt, er lebt außerhalb des asketischen Eros. Der Gegensatz zwischen dem asketischen und dem erfüllten Eros bildet die Scheidewand zwischen den herrschenden und den beherrschten Klassen in der hochbürgerlichen Gesellschaft. Das schließt nicht aus, daß das herrschende Bürgertum als Erscheinung einer antagonistisch geprägten Gesellschaft eine komplizierte und widerspruchsvolle Wesenheit aufweist.

Das Schicksalserleben des Bürgertums


Auch das Bürgertum kennt einen Schicksalsbegriff, der für es charakteristisch ist. Schicksal bedeutet ihm das völlig Äußere, das das Innere des Seelischen und des Intellekts in seinem eigentlichen Bereich nicht berührt. Es ist deshalb auch nicht das im unmittelbaren Leben Wesentliche, sondern das Profane, mit dem man wie mit einem Naturereignis rechnet. Genau besehen, ist das Schicksal hier keins, sondern der Inbegriff des Zufälligen, dem das geordnete Ich als der wahre Raum des Lebens unvermittelt einem gefährlichen Partner, mit dem man rechnet, den man aber klug zu übertölpeln vermag. Das Bürgertum kann sich ein solches Schicksalserlebnis erlauben, weil seine gesellschaftliche Stellung ihm einen großen Raum individueller Freiheit gewährt, in dem es sich der freien Lebensgestaltung und dem Genuß hingeben kann und demgegenüber die äußeren Einflüsse als allgemeine, gleichsam naturhafte Bedingungen des Lebens gelten, jedoch nicht als bestimmende Merkmale des Lebens selbst. Diese scharfe Entgegensetzung von innerem freiem und äußerem naturhaftem Geschehen hängt soziologisch mit der ideologischen Entwertung des realen geschichtlichen Prozesses infolge der tiefgehenden historischen und geistigen Krisenerscheinungen, des allgemeinen Einbruchs der Dekadenz seit Beginn der Epoche des Imperialismus, zusammen. Der Glaube an den historischen Fortschritt, von dem noch liberale Bürger des vorigen Jahrhunderts durchdrungen war, ist verlorengegangen. Die menschlich-geschichtliche Welt scheint nicht fähig, echte und den Menschen tragende Werte hervorzubringen. Wenn sie überhaupt noch zu finden sind, so reflektiert der moderne Bürger die heutige Situation bei gleichzeitiger Übertragung dieser Reflexion ins Weltanschauliche, dann nur im Inneren des einzelnen, im esoterischen Subjekt.

Großbürger-Idylle.
Foto: Bavaria Film/Falke

Dieser, als einer allgemein zu beobachtenden, gefühlsmäßigen und ideologischen Tendenz der Trennung von Objektivem und Subjektivem bei sehr verschiedener Einschätzung beider, bemächtigt sich nun das Bürgertum in der denkbar konsequentesten Weise, weil sie ihm in der Zeit seiner Dekadenz am besten entgegenkommt. Der Nihilismus in seiner neuartigen und gewisse innere Werte - besonders den Wert der subjektiven Freiheit - bejahenden, höchst widerspruchsvollen und schillernden Gestalt wird zur Ideologie dieses Bürgertums. Die nihilistische Entwertung der äußeren Welt bleibt aber nicht ohne Einfluß auf die subjektive innere. Diese erscheint trotz ihrer Entsprechung zur Freiheit hin als eine düstere und von Schuld erfüllte. Es ist dies die vom bürgerlichen Bewußtsein so erlebte unheimliche äußere Welt, die unbewußt die innere beherrscht und ihr selbst den Schein des Unheimlichen verleiht. Begegnet die bürgerliche Reflexion der äußeren Welt als einer von ihr bloß naturgesetzlich-schicksalhaft begriffenen, die es aber zu beherrschen und auszunützen gilt, so wird sie mit ihrer inneren Welt, die sie irrtümlich als von der äußeren völlig unabhängig wähnt, nicht fertig. Die äußeren Einflüsse formen die inneren Erlebnisse und drücken ihnen das Merkmal des Bedrohlichen auf. In Verbindung mit dem erotischen Genuß ziehen sie diesen ins Morbide. Die heitere und freie Sinnlichkeit, die ihm seiner Natur nach eigen ist, wird zerstört. Das mit dem Anspruch auf subtile Pflege der subjektiven Innenwelt, der auf sich gestellten "Persönlichkeit", eng zusammenhängende Bildungs- und Kulturbewußtsein wird von dieser Stimmung erfaßt und erhält gleichfalls einen Zug ins Morbide. Über verschiedene hier nicht weiter zu behandelnde Vermittlungen, aber auch schon seiner eigenen Wesenheit gemäß bleibt dieses Bewußtsein der zweiten Stufe der Bildung verhaftet. Die bürgerlich-elitäre Überzeugung, über eine "höhere" Geistigkeit zu verfügen, enthüllt sich als eine tiefe Selbsttäuschung.

Vergleicht man die faktische Fülle und Konkretheit der objektiven Realität mit ihrem verinnerlichten und abgeblaßten Spiegelbild im Reflexionsbereich des extrem subjektivistisch orientierten bürgerlichen Eliteindividuums, dann erscheint dieses Spiegelbild wegen seiner eigenwilligen Transformationen äußerer Erscheinungen zu abgründigen seelischen Erlebnissen als von aller objektiven Konkretheit gereinigt und völlig selbständig. In diesem Schein wurzelt die Einbildung von der Bezugslosigkeit der inneren zur äußeren Welt. Georg Lukacs spricht in einem ähnlichen Zusammenhang geradezu von einem "leer-abstrakten Fließen" der von "aller Gegenstandswelt befreiten Zeit". Treffend verweist er auf die Dialektik von leer-abstraktem Fließen und Starrheit - er sagt "Zuständlichkeit" - im rein inneren Zeiterleben, und er fügt hinzu, daß aus dieser Erstarrung das Schrekkenauslösende und Unheimlich-Weltlose der inneren Zeit sich erklärt. Wir würden eher sagen, daß diese Haltung der Leere und Reinheit von aller konkreten Beeinflussung durch die reale Außenwelt gerade die Voraussetzung bildet für das unbewußte und widerstandslose, weil nicht reflektierte Eindringen der Angst- und Schicksalserlebnisse, wie sie in der hochbürgerlichen Epoche die ganze Gesellschaft beunruhigen. Eine wirklich leer-abstrakte, eine wirklich von aller Objektivität gereinigte Erlebniswelt gibt es nicht, denn sie ist einfach nicht möglich. Aber die Illusion der reinen Verinnerlichung erfüllt die Aufgabe, eine gesellschaftlich wirkungsvolle Ideologie abzugeben im Sinne der unvermittelten Entgegensetzung von wertentleerter objektiver Welt und subtiler Höherwertigkeit der subjektiven Erlebniswelt, mit all den Folgen, die sich daraus für die Haltung, das Tun und die Kultur- wie Bildungsauffassung des heutigen Bürgers ergeben. Das Stehenbleiben auf der zweiten, dem falschen Bewußtsein der bürgerlichen Klassenordnung dienenden Stufe der Bildung hüllt sich hier entsprechend der abgewandelten Weltansicht und Erlebnisform in einen Ästhetizismus, wie er gleichfalls aus der extrem subjektivistisch-nihilistischen Richtung der ideologischen Reflexion erfließt.

Selbsttäuschung des Bürgers


Wir sagten, daß es eine wirklich leer-abstrakte, eine wirklich von aller objektiven Dinglichkeit gereinigte Innerlichkeit gar nicht geben kann, daß sie ausschließlich dem illusionären verinnerlichten Bewußtsein des dekadenten Bürgers angehört. Aber das Verblassen dieser objektiven Welt, die Abschwächung ihres Objektivitätscharakters bewirkt allein schon ein Verhalten, das sich nicht nur die Illusion der reinen Innerlichkeit erlaubt, sondern darüber hinaus noch weitere Folgen nach sich zieht. Eine solche Folge ist das genießerische und kontemplative Zeiterlebnis, das mit dem erwähnten Ästhetizismus zusammenfällt. Dieser Ästhetizismus erlaubt es dem Bürger zu glauben, daß er sich in der Verfügungsgewalt über die schöpferisch-erfüllte Zeit befindet, welcher Glaube unterstützt wird durch die Verfügbarkeit über fast unbegrenzte materielle Mittel. Daß er sich hier einer tiefen Täuschung hingibt, haben wir im Abschnitt Das Apollinische und das Dionysische gezeigt.

Im Bewußtsein seiner Vorrangstellung und in der Einbildung seiner menschlichen Besonderheit glaubt der Bürger, sich in der Verfügung über die schöpferische und lebendige Zeit zu befinden. Es entsteht so der Schein eines unendlichen Gegensatzes zur sterbenden Zeit des Arbeiters, die als eine unerfüllte gleichzeitig eine solche der mechanischen Hast und Ausgefülltheit ist, das heißt trotz der Trauer und der Langeweile dem Arbeiter keine Zeit zur Langweile läßt.

Bürgerliche Elite? Bild: SZ
Der Bürger hat nämlich Zeit zur Langeweile, was sich darin äußert, daß er - im Zusammenhang mit seiner subjektivistischen und ästhetizistischen Erlebniswelt - Zeit und Langweile, oder was für ihn dasselbe bedeutet, Tätigkeit und Langweile, Kultur und Langweile, Bildung und Langweile gleichsetzt. Im Gegensatz zum Arbeiter entspringt hier aber nicht die Langweile aus der Tätigkeit, sondern die Tätigkeit aus der Langweile. Hierbei wird das Bedürfnis von entscheidender Bedeutung, dem in der äußeren, als "naturgesetzlich" erlebten Zeit, der geschichtlichen, den Rücken zu kehren und sich einen nach rein subjektiven Maßstäben abgegrenzten Raum der Betätigung, subtiler Bildung und des genießerischen Ausschöpferns der gruselig-schönen Abgründe des Seelischen, worin ihm Kunst und Literatur Schützenhilfe leisten, zu reservieren. Freiheit bedeutet hier neben der ungebundenen äußeren als Voraussetzung dieser so viel wie Flucht in die verinnerlichte und ästhetische Kontemplation, in die scheintätig genießerische Untätigkeit. Die Langweile weicht daher auch nicht, wenn diese Untätigkeit irgendeine Form der hektischen Scheintätigkeit annimmt - es sei denn, daß sie sich am Rande auf das dem subjektiven und als dem eigentlichen erlebten Privatleben entgegengesetzten Gebiet der ökonomischen und rein der Nützlichkeit dienenden Praxis richtet, die der elitär-ideologisch entwerteten und daher ihrerseits nicht zur Erfüllung führenden Welt angehört. Der verfehlte Versuch der Aufhebung der Zeit in der Zeit, das Verbleiben im Bereich der ziellos-gelangweilten Kontemplation, vermag weder die aus der Außenwelt eindringenden Momente der Angst und der Bedrohung zu sistieren noch das Gefühl der Sinnlosigkeit und der Verzweiflung abzuwenden, das aus eben diesem verfehlten Versuch entsteht. Die Stimmung bleibt letztlich eine solche der sterbenden Zeit in der Gestalt einer gelangweilt-morbiden.

Das pessimistische Weltbild des dekadenten Bürgertums


Ist die zweite Stufe der Bildung, der auch das Bewußtsein des Bürgers angehört, gleichzeitig die Stufe der spekulativen Philosophie und der undialektischen Wissenschaften, so spiegelt sich in ihnen nicht nur das Sein der ganzen Gesellschaft scheinhaft-verkehrt wider, sondern in einer gewissen Verteilung der Gewichte zugunsten der herrschenden und kraft Herrschaft die allgemeine Ideologie stark prägenden Denkweise das spezielle Sein des Bürgers. Daß diese ideologische Widerspiegelung der bürgerlichen Existenz als eine allgemein gültige ausgegeben werden kann, erklärt sich daraus, daß bestimmte Züge der Entfremdung tatsächlich allgemeine, alle Schichten der Gesellschaft erfassende Geltung besitzen. Dies wird an dem folgenden Hinweis deutlich.

Wir haben gesehen, daß es ungeachtet der grundsätzlichen inhaltlichen Verschiedenheit zu einer überraschenden Annäherung zwischen dem Zeiterleben des Bürgers und des Arbeiters in der Gestalt der sterbenden unschöpferischen Zeit kommt. Denn auch für den Bürger ist die Zeit, zwar als genossene, so doch aus anderen Gründen eine unerfüllte, gejagt von Augenblick zu Augenblick, auf die (subjektive und nicht gesellschaftlich objektive) Zukunft gerichtet, dem Tode ausgeliefert. Sofern also unter dem Druck der entfremdeten Existenz in der antagonistischen und zudem heute dekadenten Gesellschaft eine Annäherung zwischen den verschiedenen Zeit- und damit Seinserlebnissen stattfindet, kann das herrschende Bewußtsein sich in der Philosophie dieser Erlebnisse bemächtigen und ohne Schwierigkeit als "überhaupt menschlich" wie das Leben im ganze als "existenziell dem Tode unterworfen" interpretieren. Nicht mehr die historisch gewordenen und daher auch historisch überwindbaren Herr-Knecht-Verhältnisse und ihre Konsequenzen erscheinen als die Wurzeln des entfremdeten Zeitbewußtseins, sondern in verinnerlicht-verjenseitigter Weise der Mensch schlechthin. Die sterbende Zeit der entfremdeten Arbeit und die sterbende Zeit der ebenso entfremdeten genießerischen Kontemplation erscheinen so unterschiedslos als allgemeine und ewige Ausdrucksformen des sterbenden Lebens. Die nihilistisch-morbide Dekadenz interpretiert das Leben nicht als Leben, sondern zieht es in ihre weltanschauliche Ideologie hinein, um es zu entwerten. Im Lichte dieser Entwertung erscheint dann jede historische und gesellschaftliche Veränderung als eine nichtige Äußerlichkeit und als irrelevant für das wirkliche Leben der Menschen. Die dekadente Philosophie - auch Wissenschaft und vornehmlich Literatur - hat ihr Ziel auf dem Wege des Auseinanderreißens von Subjektivität und Totalität, soziologisch betrachtet ermöglicht durch das Auseinanderreißen von Denken und Sein, erreicht; sie hat eine dem hochbürgerlichen Antagonismus angemessene philosophische Ideologie geschaffen, jedoch nicht ohne sich der eigenartigen Bewußtseinslage des herrschenden dekadenten Bürgertums zu akkommodieren und sich ihrer zu bedienen.

Das Bewußtsein des Bürgers erweist sich somit gleichfalls als ein falsches Bewußtsein. Nur der Arbeiter verfügt, wenn auch nur in den mittelbarsten Bereichen seiner Selbstreflexion, über ein richtiges Bewußtsein, über ein Klassenbewußtsein. Dieses nüchterne Ergebnis zeigt, daß nicht die "Radikalen" zu einer Idealisierung des Arbeiters neigen, sondern umgekehrt die Konservativen zu einer Idealisierung des Bürgers. An der Armseligkeit des Arbeiters gibt es nichts zu idealisieren. Das schließt nicht aus, daß gerade sie es ist, die ihm ideologisch einen gewissen Vorzug verleiht.