Mittwoch, 20. Januar 2016

Die unerwartete Mobilisierung des Russlanddeutschen durch Rechtspopulismus

Es passieren immer eigenartigere Dinge in Deutschland.

Gerüchte über eine durch die Berliner Polizei angeblich vertuschte Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens provozieren Protest von Russlanddeutschen im Netz und auf der Straße. Vielleicht zurecht. Bislang jedenfalls konnte der Fall noch nicht geklärt werden. Aber darum soll es hier gar nicht gehen. Das muss polizeilich und juristisch, d.h. professionell, aufgeklärt werden.


Aber ob das eine sonst völlig apathisch auf Politik reagierende Menschengruppe schaffen kann? Die Rede ist nicht von der Berliner Polizei, sondern von den russlanddeutschen Spätaussiedlern. Selbst wenn an den Anschuldigungen etwas dran sein sollte, sind die Umstände des russlanddeutschen Protests durchaus bedenklich. Die Gerüchte mobilisieren ihre alten rassistischen Vorurteile. Emotionen kochen hoch, das Hirn schmilzt weg, die Denkleistung verdampft. Urängste bestimmen das Reden und Handeln. Allein, das ist noch nicht alles. Die empörten Russlanddeutschen bezichtigen die Polizei der Komplizenschaft mit verdächtigten Flüchtlingen. Diese wollen sie eigenständig, extra-legal bestrafen. Selbstjustiz wird verlangt. Dafür tun sie sich teilweise auch mit rechtsextremen Ideologen zusammen. Merkwürdig? Absolut...

Denn nun werden Selbstjustiz und Rassenhass von Leuten eingefordert, die teils selbst nach 24 Jahren im Lande kaum Deutsch können; denn Hartz4, Reallohnverluste, Demokratieabbau, Überwachung und Medienkampagnen, Kriege, Welthunger und Klimawandel sind ihnen egal gewesen; denn die Beherrschung der deutschen Sprache war immer nachrangig für viele von ihnen; denn ie Befreiung der Frau und der Feminismus waren ihnen immer eher suspekt. Aber jetzt rasten sie aus. Merkwürdig? Absolut, aber erklärbar. Denn es geht gegen andere Ausländer, die kulturell noch weniger integriert und sozial noch schwächer sind.

Würde es den neuen Aktivisten um Gerechtigkeit gehen, hätten sie sich früher einer antikapitalistischen oder zumindest fortschrittlichen Bewegung angeschlossen. Sie hätten mit uns Linken und Friedensaktivisten gegen den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan oder in Syrien protestiert oder zumindest den europäischen Kriegskurs gegen Russland und den westlich gestützten Völkermord im Donbass kritisiert. Aber durch westliche Intervention im Ausland getötete Kinder sind dem Mob zunächst gleichgültig. Gerechtigkeit ist nicht ihr Motiv.

Es geht ihnen vielmehr um ihre teils romantischen, teils völlig surrealen Utopien von einem unberührten, spießigen Leben im Wahnsinn, den man Kapitalismus nennt. Die Verletzung der Menschenrechte überall auf der Welt durch die Großkonzerne und politischen Eliten ist ihnen eigentlich scheißegal. Hauptsache ihr Vorgarten oder Treppenflur bleibt sicher. Dieses Ideal hat den proletarischen, prekarisierten und kleinbürgerlichen Russlanddeutschen aber noch immer keine völlige Integration gewährt. Dafür ist das Erbe des Hitlerismus zu fest im staatlichen Gerüst verschraubt. Sie ahnen es zumindest, dass sie trotz deutschem Pass keine vollwertigen Deutschen sind.

Aber endlich hat der russlanddeutsche Kleingeist am Rande der deutschen Gesellschaft eine Gelegenheit gefunden, um sich selbst über andere Paria zu erheben. Alteingesessene Migranten hetzen zusammen mit den deutschen Rassisten gegen Neuankömmlinge. Die entstellte Fratze des Wohlstandschauvinismus vereint nun deutsche, russische (und vermutlich immer offener auch türkische) Nationalisten in Deutschland unter dem Banner der Asylkritik.

Vor allem die nationalistische oder völkische Selbstgerechtigkeit treibt sie an. Ihr deutschnationaler Narzissmus wurde gekränkt. Wieso sollten Neuankömmlinge auch die selben Vorrechte genießen wie die Alteingesessenen? Und dann kommen auch noch Übergriffe vor. Nun wird natürlich Blutrache eingeklagt. Und wenn man die wirklichen Täter nicht fassen kann, werden eben andere "Schwarze", wie nicht wenige Russen alle Dunkelhäutigeren nennen, an ihrer Stelle bestraft. In Russland erledigen das die Neonazis bereits mit großem Erfolg, indem sie wahllos "Schwarze" terrorisieren. Putin toleriert das mehr oder weniger, da er die Faschisten durchaus fürchten sollte und sie wie jeder konservative Staatsmann selbst noch als Schlägertrupp gegen Linke gebrauchen könnte.

Sogar bislang völlig unpolitische und äußerst pragmatisch eingestellte Halbdeutsche radikalisieren sich gerade als Reaktion auf die medialen Hetzkampagnen. In den sozialen Netzwerken und bei Whatsapp werden immer mehr Gerüchte verbreitet. Doch ihr Protest ist zunächst bloß die Mitleid erregende Verzweiflungstat der sonst ohnmächtigen Lumpen, Proleten und Kleinbürger, die verspätet aus ihrem politischen Koma erwachen.

"Achtung! Das heißt Krieg!",
Aufruf zum Protest überall im Land
Leider bringt dieses Erwachen keine Klarheit mit sich. Von geschärftem Klassenbewusstsein dürfte kaum die Rede sein. Die Dumpfheit der Klassenversöhnung unter rechtspopulistischen Parolen ist dagegen bereits Realität. Es sind dunkle Zeiten zu erwarten, in denen die "Moral" des Brutaleren und Unmenschlichen sich auch in Deutschland wieder durchsetzt. Es sei denn, der bürgerliche Rechtsstaat erobert sich mühsam sein Gewaltmonopol und seine Legitimation zurück oder wird durch den sozialistischen überwunden...

Die deutsche Linke sollte die Gefahren von rechts sehen, aber zugleich sollte sie sich auf einen Dialog mit den kürzlich erwachten Schichten einlassen. Denn nun dreht sich alles um die Köpfe solcher Menschen. Sie sehnen sich nach einer glaubwürdigen Perspektive für ein besseres Leben. Die Linke muss ihnen klar machen, dass die Antwort nicht im chauvinistischen Bündnis mit den Herrschenden, sondern allein in einer antikapitalistischen Bewegung gegen die Herrschenden liegen kann.