Teil 4 der Serie "Klasse-is-muss". Diesmal über den Kleinbürger und dessen problematische Zwischenstellung. Das Kleinbürgertum wird als gesellschaftliches Phänomen völlig vernachlässigt, geradezu verleugnet oder sogar für nicht mehr existent gehalten. Dass das eine "vollendete
Illusion" ist und dass es noch immer eine
politische Rolle spielt, soll im Folgenden ausgiebig erläutert werden.
"Des Kleinbürgers feuchter Traum", so die taz... Bild: dapd |
Die Frage der Klassenkämpfe und das verleugnete Kleinbürgertum
Die politische Linke in Deutschland hat sich früher mal um die Frage der Klassenanalyse gekümmert. Die Spaltung der Gesellschaft in Klassen wurde als ganz entscheidendes Problem der Geschichte angesehen. Marx und Engels hatten im Kommunistischen Manifest entsprechend festgestellt: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." Marx und Engels analysierten auch die Kämpfe verschiedener Klassen anhand bestimmter historischer Ereignisse.
Die deutschen Bauernkriege, die französische Revolution, die Zeit der Reaktion in Frankreich, die europäischen Revolutionen von 1848, der Bürgerkrieg in Frankreich 1871 und viele andere Beispiele lassen sich nennen. Es ging dabei nicht nur um den Kampf von Kapital und Arbeit oder Kapitalisten und Arbeitern, sondern um den Kampf weiterer Klassen wie der deklassierten Lumpenproletarier, der Bürokraten, der kleinbürgerlichen Bauern, der städtischen Kleinbürger, der Adeligen usw.
In Deutschland spielen die klassischen Bauern wie privilegierte Adelige heute kaum noch eine politische Rolle, da es sie kaum noch gibt, sie kaum Macht haben und kaum noch Ausstrahlung auf den Rest der Gesellschaft besitzen. Die Deklassierten werden politisch kaum mobilisiert und daher als "abgehängtes Prekariat" oder "Prekariat" für irrelevant erklärt. Die großen Kapitalisten werden abstrakt für alles Übel in der Welt verantwortlich gemacht, während die restlichen "99%" als mehr oder weniger gleichgestellte Gegner der Kapitalisten verstanden werden. Die 99% werden im Grunde als moderne Lohnarbeiter identifiziert.
Das städtische Kleinbürgertum hingegen wird völlig ignoriert. Für die linksgerichteten deutschen Kleinbürger gibt es keine Kleinbürger. Für sie gibt es vielleicht "kleinere" Kapitalisten, die aber eben Kapitalisten sind. Das hat sozialpsychologische Gründe. So können sich Kleinbürger mit der einzigen wirklich revolutionären Klasse, dem Proletariat, identifizieren und gleichsetzen. Diese Identifizierung ist aber politisch gesehen problematisch. Und es ist kein Zufall, dass es zu dieser Verleugnung und Identifizierung kommt. Der russische Marxist Trotzki betonte 1932 dagegen völlig zu Recht die herausragende Bedeutung der "kleinbürgerlichen Volksmassen":
"Die diese drei Etappen charakterisierenden politischen Programme: Jakobinertum, reformistische Demokratie (darunter auch: Sozialdemokratie) und Faschismus sind ihrem Wesen nach Programme kleinbürgerlicher Strömungen. Schon das beweist, welch große, richtiger, welch entscheidende Bedeutung die politische Selbstbestimmung der kleinbürgerlichen Volksmassen für das Schicksal der gesamten bürgerlichen Gesellschaft besitzt!"
Wenn heute die politischen Vertreter dieser kleinbürgerlichen Volksmassen über ihre Klassenherkunft schweigen und sich sogar proletarisch geben, verdunkelt das die realen Klassenverhältnisse und -interessen in der modernen Gesellschaft. Es gibt zwar durchaus Konvergenzen zwischen bürgerlichen und proletarischen Massen. Aber das heißt nicht, dass die beiden Seiten identisch geworden sind. Der soziale Widerspruch zwischen ihnen besteht weiterhin auf vielfältige Weise und muss von ehrlichen Linken unbedingt zur Sprache gebracht werden. Die Stellung des Kleinbürgers in der bürgerlichen Gesellschaft ist ein hochbrisantes und bedeutendes Thema, das viel zu lange ignoriert wurde.
Die Stellung des Kleinbürgers in der bürgerlichen Gesellschaft
Das Kleinbürgertum ist in der bürgerlichen Gesellschaft stets die "Mittelschicht" zwischen der großbürgerlichen "Oberschicht" und der proletarischen "Unterschicht". Die Zwischenstellung des Kleinbürgers ergibt sich aus seiner Nähe zum Großbürgertum "über ihm" und seiner Nähe zum Proletariat "unter ihm". Das Ausgeliefertsein gegenüber dem Großkapital, seine Bindung an mittelständische Privilegien und die Konkurrenz durch die billigeren Arbeiter macht die kleinbürgerlichen Schichten ökonomisch aus.
Ausgeliefert sind sie dem Großkapital, weil die großen Kapitalisten wesentlich mehr Kapital, mehr Arbeitskraft, mehr Macht, bessere Technik und bessere Verbindungen zum Staat ihr Eigentum nennen können. Von Schwankungen auf dem Markt sind die großen Konzerne weniger betroffen als kleine Eigentümer und Produzenten, deren Kundenschaft kleiner ist, die meist selbst auch anfälliger ist für Teuerungen auf dem Markt.
Andererseits sind sie an mittelständische Privilegien gebunden, die sie ihr "Eigentum" oder ihre "Selbsständigkeit" nennen. Der Begriff "Mittelstand" erinnert nicht zufällig an die ständische Feudalgesellschaft, in der die adelige Aristokratie den ersten Stand, der geistliche Klerus den zweiten Stand und die selbstständigen Bürger in den Städten und auf dem Land um die Städte herum den dritten Stand ausmachten. Der dritte Stand umfasste nicht nur alle bürgerlichen Schichten, sondern konnte später - mit der Entstehung des modernen Proletariats in den Manufakturen und Fabriken der Kapitalistenklasse - auch vom "vierten Stand", der Arbeiterklasse, unterschieden werden.
Dieser vierte Stand galt anders als der dritte Stand nicht als selbstständig und wurde mit Verachtung und Mitleid gestraft. Weil die Arbeiter kein nennenswertes Eigentum hatten, waren sie nicht "selbsständig", sondern abhängig. Sie waren abhängig vom Kapital eines Eigentümers aus dem dritten Stand, dem Bürgertum. Daher kommt auch der Begriff "Proletariat", der auf ihre Eigentumslosigkeit verweist. Auch ein kleiner Handwerksmeister war relativ selbstständig und unabhängig, während seine proletarischen Gesellen von ihm abhängig waren. Der "Mittelstand" ist heute im Grunde eine schwammige Bezeichnung für Mittelschicht, kleine Eigentümer, kleinere und mittlere Kapitalisten, Selbstständige aller Art und fest angestellte und damit privilegierte Arbeiter beim Staat und in Unternehmen. Sie alle eint, dass sie gewisse mittelständische Privilegien genießen, die die großen Kapitalisten nicht benötigen und die die Proletarier nicht besitzen.
Die proletarische Klasse hat im Gegensatz zu den bürgerlichen Klassen praktisch kein verwertbares Eigentum außer der eigenen Arbeitskraft. Proletarier sind daher "doppelt freie Arbeiter", frei von Kapitaleigentum und "frei" darin, ihre Arbeitskraft zu verkaufen oder zugrunde zu gehen. Ihre Arbeitskraft muss sie zu Marktpreisen an die groß- oder kleinbürgerliche Eigentümer von Produktionsmitteln verkaufen, um nicht weiter in die Armut abzurutschen. Sie hat daher traditionell geringere Ansprüche als etwa kleine Eigentümer, Handwerker, Händler, Buchgelehrte etc., die sich mit ihrem Eigentum gewisse Privilegien und die sich mit den Privilegien wiederum ein gewisses Eigentum sichern können, um sich damit über die Arbeiter zu stellen.
Die Arbeiterklasse stellt eine gefährliche Konkurrenz für das Kleinbürgertum dar. Die Arbeiter stellen für die Kleinbürger deswegen eine Konkurrenz dar, weil sie bei guter Ausbildung oder hoher Technik in großen Unternehmen ähnliche landwirtschaftliche, handwerkliche, handelsmännische und andere geistige Tätigkeiten verrichten können wie die kleinen Selbstständigen. Die Kombination von Kapital großer Kapitaleigentümer und billigen Arbeitskräften im Auftrag der Großkonzerne kann somit enormen Druck auf die kleinbürgerliche Klasse ausüben. Selbstständige fallen nicht selten aus ihrem Geschäft heraus und verlieren ihre gesamte Existenzgrundlage, sodass sie ins Proletariat oder ins deklassierte Subproletariat abrutschen. Ihr Eigentum ist oft zu klein, um mit den großen Eigentümern und ihre Arbeitskraft zu teuer, um mit den lohnabhängigen Arbeitern zu konkurrieren. Sie sind permanent in der Zange des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit.
Obwohl das Kleinbürgertum als "Mittelschicht" begriffen werden kann, sollte es nicht mit der Mittelschicht als Einkommensgruppe verwechselt werden. Zur Einkommensgruppe der Mittelschicht können verschiedene Klassen und Klassenfraktionen gehören, die einfach offiziell ein "mittleres" Einkommen besitzen. Aber nicht jeder in der Mittelschicht muss auch zum Kleinbürgertum gehören. Deklassierte, besser verdienende Lohnarbeiter, lohnabhängige Intellektuelle und schlecht bezahlte Manager mögen zur Mittelschicht gezählt werden, aber lassen sich besser unter Lumpenproletariat, Proletariat oder Großbourgeoisie einordnen. Die klassischen Bildungsbürger, Beamten, Angestellten, Verwaltungsbürokraten, kleineren Abgeordneten, Handwerker, Kleinhändler, Bauern und Ladenbesitzer sollten zum Kleinbürgertum gezählt werden. Sie alle können zur Mittelschicht gehören, sind aber in jedem Fall ein kleines Bürgertum, eine kleine Bourgeoisie, weil sie kleines Eigentum besitzen, mit dem sie ihre ansonsten unsichere Stellung in der Gesellschaft absichern.
Übrigens stellt sich die allgemeine Frage der Einteilung in Fraktionen oder Klassen sogar für das Bürgertum. Denn nicht umsonst wird von der bürgerlichen Staatsangehörigkeit, Einbürgerung, dem bürgerlichen Gesetzbuch, dem bürgerlichen Recht, deutschen Bürgern und so weiter in ganz egalitärer Manier geredet. Das bürgerliche Gleichheitspostulat unterscheidet nicht zwischen proletarischen, kleinbürgerlichen und großbürgerlichen Bürgern. Erst eine Kritik dieser rein formalen, fiktiven Gleichheitsauffassung ermöglicht ein Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft als Klassengesellschaft.
Es stellt sich also die Frage nach der Spaltung des Bürgertums, das man in Groß- und Kleinbourgeoisie einteilen kann. Das Kleinbürgertum selbst kann ebenso als eine einzige Klasse oder auch als Ansammlung von Mittelklassen verstanden werden. Die Marxisten zählten z.B. gelegentlich die Bauernschaft zum Kleinbürgertum, um bei anderer Gelegenheit Kleinbürgertum und Bauernklasse als verschiedene Klassen zu behandeln. In jedem Fall bleibt noch die Frage, in wie weit die Bauern in eher proletarische und in eher großbürgerliche Gruppen eingeteilt werden können.
Die Fraktionierung des Kleinbürgertums geht aber noch weiter. Kleinbürger lassen sich anhand von Berufszweigen und Tätigkeitsfeldern in Fraktionen teilen. Abgesehen von den landwirtschaftlich tätigen Kleinbürgern im "primären Sektor", wozu auch kleine Fischer und Viehjäger gezählt werden können, gibt es eher handwerklich tätige Kleinbürger, Handwerk kaufende und verkaufende Kleinbürger, Bildungsbürger verschiedenster intellektueller Berufe, fest angestellte Büroarbeiter mit mittelständischen Privilegien, staatliche Beamte, kleine und mittlere Manager und Mittelstandsunternehmer. Sie alle sind ganz eindeutig keine großen Kapitalisten, aber auch keine "doppelt freien Arbeiter" im Marxschen Sinne. Sie stehen irgendwo zwischen diesen zwei kämpfenden Seiten.
Die Sicherung von Privilegien, von Ämtern und Berufen, von Macht und Gewalt, von Ruf, Ehre, Status, von Differenz, von "feinen Unterschieden" - gegenüber anderen Schichten, Milieus, Klassen und ihren Fraktionen - ist in jedem Fall ganz entscheidend. Denn die Mitglieder irgendwelcher Klassen handeln nicht nach abstrakten Schemata oder Einstufungen von Soziologen, sondern gemäß den Interessen, die sie verfolgen. Diese Interessen mögen ganz bewusst verfolgt werden, können aber auch als unbewusste Einflüsse wirken. Jedenfalls bilden sich entlang von Klasseninteressen die kollektiven und individuellen Interessen, Ideen, Utopien, Vorurteile, Urteile, das Selbstverständnis und die Selbstverleugnung von Gesellschaftsgliedern. Eine Klasse kann aufgrund solcher Widersprüche auseinanderfallen in mehrere Fraktionen und Milieus, politische Parteien und Sekten oder gar ganz desintegrieren. Denn die Integration von Einzelnen in eine Klasse hängt auch von ihrem Handeln ab. Durch Handlungen und Schicksale können sich Einzelne oder ganze Fraktionen in veränderter Klassenlage wiederfinden.
Das Kleinbürgertum kann also in mehrere Fraktionen unterschieden werden, anhand der Stellung in der Mehrwertproduktion, anhand des konkreten Verhältnisses zu den anderen Klassen. Zum Verhältnis gegenüber den anderen Klassen gehört auch die ökonomische Nähe z.B. zu Bauernschaft, Deklassierten, Proletariat oder Großbürgertum. Um die Klassen zu definieren und zu unterscheiden, sollte wie bei den Klassikern des Marxismus die Stellung der Klassen(fraktionen) im Produktionsprozess und die Stellung im Klassenkampf herangezogen werden. Aber die Fraktionierung der kleinen Bourgeoisie geht bis in ihre Ideologie, Kultur und politische Haltung hinein, was auch einen Teil der Klassenspaltung und der Klassenkämpfe darstellt.
Das kleinbürgerliche Bewusstsein
Die verinnerlichte Fraktionierung der kleinen Bourgeoisie geht bis in ihre Ideologie, Kultur und politische Haltung hinein. Dennoch gibt es ein inneres, geistiges Band zwischen allen Kleinbürgern, das sie trotz aller Fraktionierung eint. Der Marxist Leo Kofler charakterisierte das Kleinbürgertum entsprechend idealtypisch:
"Auf die Frage, was der Kleinbürger eigentlich sei, läßt sich antworten: er ist die menschliche Inkarnation der vollendeten Illusion"
So abstrakt diese Charakterisierung scheinen mag, so treffend ist sie im konkreten Fall. Der Kleinbürger hat seine eigene klassenmäßige, eben kleinbürgerliche Psychologie und Ideologie. Man könnte böswillig auch von einer spießbürgerlichen Idiotie reden. Seine eigentümliche Geistesverfassung entspricht seiner geistigen Haltung zur Eigentumsfrage. Diese Geisteshaltung ist geprägt von seiner Haltung zu den drei großen Klassenpositionen in der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. vom Ausgeliefertsein gegenüber dem Großkapital, von seiner Bindung an seine mittelständischen Privilegien und von der Konkurrenz durch die billigeren Arbeiter.
Der kleine Bürger gilt gerne als ordentlicher Bürger, als ehrenwertes Mitglied der bürgerlichen Ordnung. Er würde liebend gern ökonomisch zum großen Bürger aufsteigen, das politische Amt eines großen Staatsmannes besetzen oder zumindest kulturell den Ruf eines großen Geistes erringen. Aber zugleich fällt es ihm aufgrund seiner ganzen Klassenlage und klassenmäßigen Situation schwer, diesen Wunschtraum zu verwirklichen. Er hat weder genug Kapital, noch genug Kontakte nach "ganz oben". Meist fehlt es ihm sogar an Geist. Entsprechend ist er getrieben; getrieben, zumindest den Schein der bürgerlichen Würde aufrecht zu erhalten - ob mit einem gewissen Lebensstandard, einem gewissem Verhalten ("Habitus") oder mit dem Wissen des "Bildungsbürgers", ist dabei nachrangig.
In jedem Fall ist er seinem Wesen nach vom Großbürger geschieden. Er ist diesem sozial immer unterlegen. Daraus folgt sein ewiges Minderwertigkeitsgefühl, sein Selbstbehauptungstrieb, seine Bildungsgeflissenheit. Und aus der eigentümlichen Psychologie des petit bourgeois folgt der Drang, sich zumindest gegenüber der "Unterschicht", dem "Volk", dem "Pöbel", den "Massen" abzugrenzen.
Es können daher fortschrittliche von rückschrittlichen Kleinbürgern, proletarisch gesinnte Kleinbürger von Spießbürgern usw. unterschieden werden. Zudem können Kleinbürger wie auch Großbürger gelegentlich ihre Klasse "verraten". Marx kam z.B. aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und obwohl er zeitweise unter enormer Armut leiden musste, nahm er den eigens entwickelten kommunistischen Standpunkt des Proletariats ein. Engels war nicht nur der Sohn eines Großfabrikanten, sondern als dessen Erbe auch selbst ein Großbourgeois und entwickelte mit Marx zusammen die Theorie von der Notwendigkeit der proletarischen Diktatur. Wenn das nicht Klassenverrat ist, was dann? Der russische Kommunist Trotzki bemerkte dazu:
"Marx und Engels sind aus der kleinbürgerlichen Demokratie hervorgegangen und sind selbstverständlich in deren Kultur und nicht in einer Kultur des Proletariats erzogen worden. Wenn es nicht die Arbeiterklasse mit ihren Streiks, ihrem Kampf, ihren Leiden und Aufständen gegeben hätte, dann hätte es natürlich auch keinen wissenschaftlichen Kommunismus gegeben, weil dann dazu keine historische Notwendigkeit bestanden hätte. Das zusammenfassende Denken der bourgeoisen Demokratie erhebt sich in Gestalt ihrer kühnsten, ehrlichsten und weitblickendsten Vertreter - getrieben von den kapitalistischen Widersprüchen - bis zur genialen Selbstverleugnung, ausgerüstet mit dem ganzen kritischen Arsenal, das dank der Entwicklung der bourgeoisen Wissenschaft zur Verfügung stand. Das ist die Herkunft des Marxismus."
Klein- und Großbürger haben sich demnach vereinzelt auf die Seite der Proletarier gestellt und den revolutionären Standpunkt des Proletariats eingenommen. Kühne, ehrliche und weitblickende Bourgeois können "bis zur genialen Selbstverleugnung" ihrer engstirnigen Klasseninteressen gelangen. Sie werden Unterstützer des Kommunismus oder einer anderen, kleinbürgerlichen Utopie, wie Leo Kofler erläuterte:
"Es ist nicht leicht, den äußerst verschwommenen und inkonsequenten kleinbürgerlichen Utopismus genau zu beschreiben. Wie der Kleinbürger zwischen allen Extremen hin- und herschwankt, ohne dem einen oder dem anderen eindeutig zugeordnet werden zu können, so schwankt auch sein Utopismus hin und her zwischen der Hoffnung auf eine ansehnliche materielle Sicherstellung und dem Bedürfnis nach Erhöhung seiner Individualität mit Hilfe aller Bildungsmöglichkeiten. Erreicht er beides nicht (und das ist zumeist der Fall), so wird er 'revolutionär'."
Das kleinbürgerliche Bewusstsein neigt zu einer individualistischen Utopie. Die vereinzelte Lage der Bourgeois erschwert eine kollektivistische Ideologie. Wenn sie eine Gesellschaftsutopie entwickeln, dann sind sie zwischen individuellem Eigentum und kollektivem Kampf zerrissen. Plattester Materialismus und höchster Utopismus müssen dann im Kopf des Bourgeois miteinander streiten. Anarchismus, grüner Bio-Kult, Spenden und Arbeit in teils unnützen NGOs sind typische Ausdrucksformen einer solchen individualistischen Utopie. Hinzu kommt ein oft rigoroser Moralismus, da ein wirkliches Verständnis für die Probleme der unteren Schichten meist fehlt.
Während unendliche postmoderne "Diskurse" über noch so kleine rein sprachliche oder theoretische Details für die vereinzelten Utopisten und Moralisten von aller größter Bedeutung sind, ist der Prolet sich genötigt, dazu nur auszuspucken. Solche "Probleme" sind für den Proleten keine realen Angelegenheiten, sondern nur eine der vielen Varianten intellektueller Selbstbeschäftigung. Nicht, dass Wissen allgemein abgelehnt wird, aber es muss praktischen Nutzen haben. Die aller meisten Debatten der Mittelschichten haben keinen praktischen Wert für die Mehrheit. Und selbst wenn die Privilegierten dieses Problem erkennen, können sie kaum anders, als ewig zu diesem Problem zurückzukehren. Die ewig wiederkommenden Debatten in der Linken sind eine Frage der Herkunft. Arbeiterkinder diskutieren ungerne ewig und wenn doch, dann vor allem, um die Professorenkinder zu ärgern...
Zumindest in solchen Fällen wie bei Marx, Engels, Lenin, Luxemburg, Lukacs etc. traf eine Parteinahme für die Seite der Arbeit zu. Was ist aber die typische Stellung des Kleinbürgers im Klassenkampf zwischen Bürgertum und Proletariat?
Die Stellung des Kleinbürgers im Klassenkampf zwischen Bürgertum und Proletariat
Der typische Kleinbürger will auf keinen Fall den Eindruck vermitteln, dass auch er zum Proleten oder deklassierten Pauper absteigen könnte. Das allein wäre schon ein enormer Statusverlust, den er oft mit allen Mitteln der Täuschungskunst vermeiden will. Doch genau dieser Abstieg in die "Unterschicht" ist die stets drohende Gefahr für das bürgerlich sozialisierte Mitglied der Mittelschicht. Selbst keineswegs wohlhabende Arbeiter verstehen sich gerne als "Mittelschicht" und nicht als "Arbeiter", weil solch ein Eingeständnis Statusverlust bedeutet. Tatsächlich ist die Lebenslage des kleinen Bürgers in Krisenzeiten von der des Proletariers kaum zu unterscheiden. Beide können verarmen, in prekäre Situationen geraten, ihre Existenzgrundlage (den Verleih ihrer Arbeitskraft) und ihre Reputation verlieren. Das macht aus ihnen das, was den "kleinen Mann" ausmacht, und was man früher "die werktätigen Massen" nannte. Das ist neben der Abhängigkeit von der eigenen Arbeit die größte Gemeinsamkeit der beiden Gruppen, was sie auch vom Großbürger scheidet.
Daher erhalten "die feinen Unterschiede", wie Bourdieu sie nannte, wiederum eine große Bedeutung. Sie trennen die unteren und mittleren Massen der bürgerlichen Gesellschaft von einander - nicht nur kulturell, sondern letztlich auch ökonomisch und politisch. Die "unkultivierten" Massen fühlen den feinen Unterschied zum "gebildeten" Kleinbürger ebenso wie die "gutbürgerlich" erzogenen Individuen den feinen Unterschied zum "Proll" intensiv wahrnehmen. Während der Proletarier kaum anders kann, als grobschlächtig, unkultiviert und nahezu barbarisch auf den Spießbürger aus dem Mittelstand zu wirken, kann der Spießbürger für den kernigen Proleten nur aufgetakelt, gekünstelt, falsch erscheinen. Die Manieriertheit des Kleinbürgers nervt den Proletarier ebenso wie die naive Plumpheit des Proletariers den Kleinbürger anekelt. Versuche der Auflösung dieses Widerspruchs sind meist nur zeitweise in Form eines taktischen Bündnisses erreichbar. Die sozialen Widersprüche brechen aber bestimmt aus dieser Hülle heraus.
Ein Kleinbürger kann noch immer verschiedenste politische Standpunkte einnehmen. Er kann rechtsradikal, konservativ, liberal, halblinks, radikaldemokratisch, linksradikal und voll auf der Seite des Proletariats sein. Die Wahl der politischen Gesinnung hängt von vielen Faktoren ab. Dennoch ist innerhalb der politischen Parteien und Identitäten wie auch sonst überall die Spaltung in Klassen zu bemerken.
Ein linker Proletarier unterscheidet sich noch immer von einem linken Kleinbürger. Wer das leugnet, ist kein Marxist, sondern ein bürgerlicher Idealist und höchst wahrscheinlich ein Kleinbürger... Die kleinbürgerliche Linke neigt dazu, andere Themen, Schwerpunkte, Ansätze und Methoden bei ihrer Behandlung zu wählen. In allem, was sie tut, bleibt sie kleinbürgerlich. Und sie merkt es meistens nicht einmal, eben weil sie "die Inkarnation der vollendeten Illusion" ist, wie Leo Kofler so prägnant formulierte. Sie kann aufgrund ihrer Stellung kaum anders.
Proletarische Linke merken den Unterschied und sind oft entweder genervt und wütend auf die kleinbürgerlichen Utopisten oder sie lassen sich abschrecken und bleiben auf Distanz. Es geht nicht nur in den Ghettos der Arbeitslosen, Pauperisierten und Deklassierten so weit, dass der mittelständische Habitus und das Bildungsbestreben der Mittelschichten völlig abgelehnt werden. Das völlig berechtigte Misstrauen gegenüber den privilegierten Bürgern ist auch unter nicht gerade armen Arbeitern verbreitet. Kofler hat auch diesen Zusammenhang sehr schön, wenn auch etwas gewunden, erklärt:
"Erscheint dem Arbeiter das Schicksal als objektive gesellschaftliche Macht, dann folgt für ihn daraus, daß Wissen und Bildung keine andere Aufgabe zu erfüllen haben als die, diesem Schicksal, das er als bedrückend empfindet, kritisch und verändernd gegenüberzutreten, was nichts anderes als eine praktische Aufgabe. Bildung ist ihm nichts anderes als ein praktisches Werkzeug. Daraus resultiert eine eigenartige Dialektik im Denken des Arbeiters, die als eine tragische zu erkennen ist. Dies äußert sich darin, daß der Arbeiter den Träger des Wissens und der Bildung, den Intellektuellen, hoch einschätzt und achtet, ihm gleichzeitig aber [...] mißtraut. Aber diese Dialektik geht weiter. Gerade weil der Arbeiter in der Bildung eine praktische Einrichtung erblickt, bekümmert er sich um sie nur so weit und nur zu jenen Zeiten, als er die Überzeugung gewinnen kann, sie praktisch-politisch auswerten zu können; er resigniert und wendet sich von ihr ab in Zeiten des Versagens seiner 'Bewegung', wobei sich das Mißtrauen gegen die sonst von ihm geschätzten Intellektuellen steigert. Einerseits ist er gerade wegen seiner praktischen Ausrichtung den andern Klassen insofern überlegen, als er in seiner naiven, ja primitiven Weltansicht und aus seinem unmittelbaren Erleben heraus das heutige gesellschaftliche Verhältnis als ein Herr-Knecht-Verhältnis durchschaut; dieses Durchschauen, das gleichfalls der ersten, unmittelbar empirischen Stufe der Bildung angehört, macht seine Bildung aus. Andererseits lehnt er wegen seiner praktischen Einschätzung aller Bildung im heutigen Zustand der resignierten Dekadenz die Bildung im gegebenen historischen Augenblick als für ihn irrelevant ab, zieht er ganz bewußt die Unbildung vor. Das ist die Lösung des vieldiskutierten Geheimnisses, weshalb der Arbeiter sich weigert, die bereitstehenden Bildungsinstitute auszunützen (z.B. die Volkshochschulen). Das bewußte Aufsichnehmen der Unbildung, so sehr sie die Tragik des Arbeiters kennzeichnet, hat eines für sich: Er gibt sich keiner Illusion hin. Das Wissen um die ideologische Gebundenheit des Wissens und das Wissen um die eigene Primitivität verleiht dem Arbeiter eine illusionslose Klarheit, die bewirkt, daß er, besonders im Gegensatz zum Kleinbürger, keine subjektiven Minderwertigkeitsgefühle kennt, sondern nur solche, die aus einer gesellschaftlichen Lage, seiner sozialen Inferiorität kommen, also durch die objektive Realität veranlaßt sind. Deshalb kennt der Arbeiter keine subjektiven Schuldgefühle, was ihm jenen eigenartigen Gleichmut verleiht, der oft beobachtet worden ist."
Die Herausforderung für die Kommunisten aus dem Kleinbürgertum ist es vor allem, für die Führung durch die Arbeiterklasse einzutreten, obwohl sie durch noch so feine Unterschiede dieser Arbeiterklasse fern stehen. Abgesehen von der Theoretisierung der Klassen und ihrer Kämpfe müssen sie endlich auch ihre eigenen Klassenlagen und Klasseninteressen problematisieren. Das ist politisch von größter Bedeutung, denn es ist ein absurdes Trauerspiel, dass ein Großteil der Linken auf die zentrale Frage der Hegemonie des Proletariats keine ernsthafte Antwort geben kann; es ist traurig, dass ein Großteil der Linken kaum über die eigene Klassenlage und die eigenen Klasseninteressen und entsprechenden Befangenheiten und Vorurteile reflektiert; es ist traurig, dass ein Großteil der Linken gar nicht realisiert, wie idealistisch ihr eigener Standpunkt tatsächlich ist; es ist traurig, dass ein Großteil der Linken trotz aller Idealisierung der Arbeiterschaft gar nicht anders kann als einen "bürgerlichen Sozialismus" zu praktizieren. Proletarischer Sozialismus kann nur vom Proletariat durchgeführt werden und nicht von höheren Wesen, adeligen Kaisern oder kleinbürgerlichen Tribunen.
Die Mehrheit der Radikalen in den westlichen Ländern ist gar nicht "radikal" und gelangt gar nicht an die Wurzel der Dinge. Das liegt unter anderem an ihrer Stellung in den Klassenverhältnissen. Sie täuschen sich oft darüber, welche Lage und welchen Standpunkt sie einnehmen. Sie begreifen oft nicht, dass sie eben radikalisierte Kleinbürger sind, dass sie mit dem (Industrie-)Proletariat politisch, ideologisch und vom Lebensgefühl her kaum Berührung hatten. Sie, die kleinbürgerlichen Radikalen, fühlen sich mit Vorliebe wie ausgebeutete Proleten und proletarische Revolutionäre, während sie zugleich allein schon an der Sprechweise, am Äußeren, an ihrer Gangweise und ihren Blicken vom einfachen Arbeiter allzu oft allzu leicht zu unterscheiden sind. Nicht, dass äußerliche Unterschiede allein entscheidend wären. Teilnehmer einer sozialistischen Revolution können in allen Formen und Farben auftauchen. Aber die "feinen Unterschiede" machen faktisch einen Unterschied und erklären die Abneigungen zwischen den Klassen teilweise.
Die Bürgersöhne und -töchter wären gerne Großbürger, während die Arbeiterkinder genötigt sind, ihrer Klasse treu zu bleiben. Die Kinder des Kleinbürgertums können ihr Eigentum vergrößern und so aufsteigen. Die Arbeiterkinder können sich dagegen nur gegen das Kapital zusammentun. "Das eingestandene Ideal der Mehrheit des Klein- und Mittelbürgertums ist die esoterisch 'gebildete' bürgerliche Elite", so Kofler. Damit sind sich auch proletarischer und kleinbürgerlicher Habitus spinnefeind, gerade weil die zwei Seiten ökonomisch gar nicht so weit auseinander liegen. Und wenn die Kleinbürger sich proletarisch geben, wirkt es ohnehin unecht.
"Die Inkarnation der vollendeten Illusion", der Kleinbürger, kann politisch nicht anders, als sich bewusst oder unbewusst den Herrschenden oder mit viel Mühe der proletarischen Bewegung zu unterwerfen. "Ist das Kleinbürgertum unfähig zu selbständiger Politik (weshalb sich insbesondere auch die kleinbürgerliche 'demokratische Diktatur' nicht verwirklichen lässt), so bleibt ihm nur die Wahl zwischen Bourgeoisie und Proletariat", sagt Trotzki. Zugleich kann sie ihre charakteristischen Merkmale nicht loswerden bis sie völlig in einer der beiden Klassen aufgeht. Das ist das Schicksal des Kleinbürgertums, ob es städtisch oder ländlich ist, ob es landwirtschaftlich, handwerklich-industriell, handelnd oder geistig arbeitet.
Es kann zwar durchaus eine kleinbürgerliche Partei, Regierung und Herrschaft geben, wenn sich Fraktionen des Kleinbürgertums zu einer Macht zusammentun, die die anderen Klassen politisch unterwirft. Aber eine dauerhafte Herrschaft der Kleinbürger, die auch ökonomisch herrschen, ist heute nicht denkbar. Entweder sie bleiben nur auf politischer Ebene mächtig, aber bleiben ökonomisch schwach, oder werden entmachtet, oder sie steigen ins Großbürgertum auf. Sie müssen daher letztlich den mächtigeren Klassen, dem Proletariat oder der Großbourgeoisie, die ökonomische Herrschaft überlassen.
Trotzki über den Kleinbürger. |
Zur vollendeten Illusion der Kleinbürger gehört auch ihr Bemühen um eine Bereinigung ihrer Geschichte. Das Kleinbürgertum wird in Krisenzeiten zwischen den Klassen teilweise zerrieben und radikalisiert sich entsprechend auf verzweifelte Weise. Es kann auf die Seite des Kommunismus stellen oder auch dem Faschismus frönen. Trotzki bemerkte über die deutschen Kleinbürger vor Hitlers Aufstieg:
"Aber während sie sich zahlenmäßig hielten – das alte und das neue Kleinbürgertum umfaßt nicht viel weniger als die Hälfte des deutschen Volkes -, büßten die Mittelklassen den letzten Schatten von Selbständigkeit ein: sie lebten am Rande der Schwerindustrie und des Bankensystems, sie aßen die Brosamen vom Tisch der Kartelle, sie lebten von den geistigen Almosen ihrer alten Theoretiker und Politiker. [...] Das Nachkriegschaos traf die Handwerker, Krämer und Angestellten nicht weniger heftig als die Arbeiter. Die Landwirtschaftskrise richtete die Bauern zugrunde. Der Verfall der Mittelschichten konnte nicht ihre Proletarisierung bedeuten, da ja im Proletariat selbst ein riesiges Heer chronisch Arbeitsloser entstand. Die Pauperisierung der Mittelschichten – mit Mühe durch Halstuch und Strümpfe aus Kunstseide verhüllt – fraß allen offiziellen Glauben und vor allem die Lehren vom demokratischen Parlamentarismus. Die Vielzahl der Parteien, das kalte Fieber der Wahlen, der fortwährende Wechsel der Ministerien komplizierten die soziale Krise (durch das Kaleidoskop unfruchtbarer politischer Kombinationen. In der durch Krieg, Niederlage, Reparationen, Inflation, Ruhrbesetzung, Krise, Not und Erbitterung überhitzten Atmosphäre erhob sich das Kleinbürgertum gegen alle alten Parteien, die es betrogen hatten. Die schweren Frustrationen der Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht herauskamen, ihrer studierten Söhne ohne Stellung und Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier, verlangten nach Ordnung und nach einer eisernen Hand."
"Die Pauperisierung der Mittelschichten" und das Leben " am Rande der Schwerindustrie" unter Verlust der Selbstständigkeit trieb nicht wenige verzweifelte Kleinbürger in die Arme des Hitlerismus. Nicht durch die proletarischen Massen ist Hitler aufgestiegen, sondern als Vertreter des verarmten, rasenden Kleinbürgertums mit guten Kontakten zu den Reaktionären des Adels und finanziert vom kleinen und großen Kapital. Trotzki kommentierte:
"Die Erörterungen über die Persönlichkeit Hitlers sind um so hitziger, je mehr man das Geheimnis seines Erfolges in ihm selbst sucht. Doch ist es schwer, eine andere politische Gestalt zu finden, die in einem solchen Maße Knoten unpersönlicher geschichtlicher Kräfte wäre. Nicht jeder erbitterte Kleinbürger könnte ein Hitler werden, aber ein Stückchen Hitler steckt in jedem von ihnen."
Wenn heute liberale und konservative Historiker und Feinde der Arbeiterklasse behaupten, die proletarischen Massen oder alle Deutschen hätten Hitler zur Macht verholfen, dann ist das schlicht ein Versuch, die bürgerliche Klassenbasis des Faschismus zu verschleiern und zugleich die proletarische Klasse zu dämonisieren. Die den Arbeitern aufgezwungene Unbildung wird auch noch von plumper Verteufelung ergänzt. Der verängstigte Spießbürger diskriminiert so das Proletariat auf mehrfache Weise. Unterdrückung der billigen Konkurrenz durch die Arbeiterschaft dient den Privilegien.
Wenn aus dem Spießbürgertum ein radikaler Flügel herauswächst und sich angeblich auf die Seite der Arbeiter stellt, muss diese prekäre Krisentendenz des petit bougeois bedacht werden. Er will zwar so links sein wie möglich und sich mit marxistischer Bildung die Führung über revolutionäre Arbeitermassen sichern. Aber das geschieht prinzipiell vom kleinbürgerlichen Standpunkt aus. Man soll im kommunistisch redenden Bürger keinen Proletarier sehen, denn er ist und bleibt kein Proletarier. Er bleibt ein Teil der bürgerlichen Klassen in der bürgerlichen Gesellschaft und hat entsprechende Interessen.
Wohl wahr. |
Die Verbürgerlichung des Proletariats und die Proletarisierung des Kleinbürgertums
Es gibt einerseits eine gewisse Annäherung, andererseits eine unüberbrückbare Kluft zwischen der "Mittelschicht" und der "Unterschicht" im Kapitalismus. Die kleinbürgerliche Linke versteht sich als Proletariat, um die eigene Stellung im linken Selbstverständnis auf die Ebene der revolutionären Klasse anzuheben. Zugleich haben die bewussteren Teile dieser Linken bemerkt, dass es unter ihnen allzu oft nur sehr wenige Industriearbeiter, Handwerker aus Manufakturen, Arbeiterkinder, Mitglieder bildungsferner Schichten, deklassierte und diskriminierte Migranten und von Armut zutiefst bedrückte Menschen gibt.
Natürlich gibt es mehr Arbeiterkinder mit Abitur und an den Hochschulen als je zuvor. Das ist richtig. Und das könnte auch als Verbürgerlichung der Arbeiterschaft zumindest in den Kernländern des Kapitalismus verstanden werden. In Deutschland z.B. protestieren und streiken diese verbürgerlichten Fraktionen wenig. Auch in anderen Ländern gibt es derartige Integrationstendenzen. Lenin nannte das die Schaffung einer "Arbeiteraristokratie" und deren politische Tendenz "Opportunismus". Dieser sei "Zusammenarbeit der Klassen, Verzicht auf die Diktatur des Proletariats, Verzicht auf die revolutionäre Aktion, rücksichtslose Anerkennung der bürgerlichen Legalität, Misstrauen dem Proletariat, Vertrauen der Bourgeoisie gegenüber". Arbeiter der Bourgeoisie vertrauen, haben resigniert oder wurden mit dem Bisschen an Wohlstand, der ihnen gewährt wurde, ruhig gestellt. Zufrieden sind sie damit eher selten.
Andererseits gibt es seit langem starke Proletarisierungstendenzen in der "Mittelschicht", die früher rein kleinbürgerlich war. Heute gehören ihr viele Arbeiter an. Und die petit bourgeois, die sich früher ein stabiles bürgerliches Heim, mit einer einzigen, unglücklichen Ehe, mit einem einzigen, langweiligen Job und einer festen Rente leisten konnten, leben heute zunehmend unter fast proletarischen Verhältnissen. Ihre Lage und ihr Lebensweg ist oft prekär. Ihr Verdienst ist selten beglückend. Der Unterschied zum gebildeten oder wohlsituierten Arbeiter schwindet. Die Distanz zur großen Bourgeoisie ist schmerzlich fühlbar. Ein gewisser Teil dieser prekarisierten, pauperisierten und proletarisierten Kleinbürger wurde allein schon durch diese Verschlechterungen rasend. Manche von ihnen wurden zu Rechtspopulisten und Rassisten. Andere wurden zu bürgerlichen Sozialisten mit Sympathien für die Arbeiter-"Unterschicht". Trotzdem gibt es noch eine spürbare Kluft zu letzteren.
Ein trauriges Symbol. |
Die sogenannten Wertkritiker der Gruppe "Krisis" behaupten sogar eine völlige Verbürgerlichung der Arbeiterklasse. Es gäbe demnach eine Verwandlung der Arbeiter zu einer verbürgerlichten Klasse, eine Verwandlung von Arbeitern in Bürger, eine Verschmelzung beider:
"Kommunismus und Arbeiterklasse passen nicht nur nicht zusammen, sie gehören ganz entschieden und bewußt auseinandergehalten! Das strategische Einlassen auf die positiven Sonderinteressen irgendeiner Klasse ist antikommunistisch. Mit den Interessen der Arbeiterbewegung, mit Klasse, Klassenbewußtsein und Klassenkampf ist kein Kommunismus machbar."
Das zutiefst problematischer an dieser Position ist, dass die Wertkritiker zwar einen "Abgesang auf die Marktwirtschaft" und die Arbeiterklasse jodeln, dass sie sich zugleich aber noch als Kommunisten verstehen. Es bleibt nichts anderes übrig als dass sie in der "frei schwebenden Intelligenz", d.h. in kleinbürgerlichen Intellektuellen und sonstigen Individualisten die revolutionäre Kraft sehen, die die Staatsapparate der USA, der BRD, der russischen Föderation, der VR China und so weiter zerschlagen und eine klassenlose Gesellschaft aufbauen. Vielleicht etwas vermessen? Sicher. Die Intellektuellen von "Krisis" sind ein hervorragendes Beispiel für eine kleinbürgerliche Interpretation dessen, was sie Marxismus oder Kommunismus nennen.
Tatsächlich sollte eine Verbürgerlichung der Arbeiterklasse zwar festgestellt werden. Die sozialdemokratischen Arbeiterverterter aller Länder sind durchgehend verbürgerlichte Opportunisten. Sie verkaufen die Interessen ihrer Wähler und Gewerkschaftsmitglieder routinemäßig für ein paar Almosen von mehr oder weniger sozialdemokratischen Großkapitalisten. Ähnliches gilt auch für viele kommunistische Parteien und ihre Bürokratien. Sie sind vielleicht keine großen Freunde des Großkapitals, aber sie sind von ihrer sozialen Zusammensetzung und Massenbasis verbürgerlicht. Proletarische Arbeiterparteien mit sozialistischer Zielsetzung sind selten und schwach geworden.
Dennoch sollte man die Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung nicht mit einer völligen Verbürgerlichung der Arbeiterklasse verwechseln. Leo Kofler erklärt:
"Spricht man, wie oft zu hören, von der Verbürgerlichung der heutigen Arbeiter, so steckt zumeist die Verwechslung mit der fortschreitenden Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung dahinter; wobei die Tatsache zur täuschenden Beurteilung beiträgt, daß tatsächlich im unvermeidlichen Anpassungsprozeß an verschiedene Lebensformen der heutigen Gesellschaft gewisse äußerliche Züge der Verbürgerlichung den Habitus des Arbeiters mitformen." Und: "Bei der Einschätzung der Mentalität des Arbeiters wird diese oft mit der Mentalität der Arbeiterbewegung verwechselt. Beide sind keinesfalls identisch."
Noch immer identifiziert die kleinbürgerliche Linke ihre eigene Bewegung und Bürokratie mit der Lage des Arbeiters. Tatsächlich hat der Arbeiter mit deren bürgerlichem Utopismus und ihren Bürokratien nicht viel am Hut. Oft kümmert er sich kaum noch um Politik, weil sie heute fast völlig von Kleinbürgern beherrscht wird... Nach vielen Niederlagen der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert nahmen immer mehr Resignation und Hoffnungslosigkeit der Arbeiter gegenüber ihren Organisationen überhand. Kofler bemerkt auch dazu:
"Das Ergebnis war die Bürokratisierung der Arbeiterbewegung. An die Stelle der Bewußtseinsbildung trat der Praktizismus, an die Stelle der Theorie, die zu befragen war, die Bürokratie, die ungefragt entschied. [...] Auf dieser Basis wird selbst jenes Maß an Bildung überflüssig, das früher unabdingbare Voraussetzung der Gefolgschaft der Arbeiter gewesen ist. [...] Und da aus dem kollektiven, objektivistischen Bewußtsein der Arbeiter heraus Bildung nur Sinn gewinnt, wenn sie praktisch relevant wird, so lehnt er auch aus diesem zusätzlichen Grunde der Bedeutungslosigkeit der Bildung in den bürokratischen Organisationen sie ab."
Dieser Zustand muss einen nicht wundern. Anarchistische Illusionen kommen nicht nur bei den Mittelklassen, sondern gerade auch bei enttäuschten und hoffnungslosen Arbeitern vor, als "eine Art Strafe für die opportunistischen Sünden der Arbeiterbewegung. Beide Auswüchse ergänzten einander", um Lenin zu zitieren. Denn die "wirtschaftlich mächtige Großbourgeoisie stellt an sich eine verschwindende Minderheit der Nation dar. Um ihre Herrschaft zu befestigen, muss sie bestimmte Beziehungen zum Kleinbürgertum sichern und – durch dessen Vermittlung – mit dem Proletariat", so Trotzki. Und weiter:
"Aber die Wechselbeziehungen zwischen der Bourgeoisie und ihrer grundlegenden sozialen Stütze, dem Kleinbürgertum, beruhen keineswegs auf gegenseitigem Vertrauen und friedlicher Zusammenarbeit. In seiner Masse ist das Kleinbürgertum eine ausgebeutete und benachteiligte Klasse. Es steht der Großbourgeoisie mit Neid und oft mit Hass gegenüber. Die Bourgeoisie ihrerseits misstraut dem Kleinbürgertum, während sie sich seiner Unterstützung bedient, denn sie fürchtet ganz zu Recht, es sei stets geneigt, die ihm von oben gesetzten Schranken zu überschreiten. [...] Die Bourgeoisie hatte tödliche Furcht vor dem allgemeinen Wahlrecht. Letzten Endes aber gelang es ihr, sich durch eine Kombination von Gewaltmaßnahmen und Zugeständnissen, von Hungerpeitsche und Reformen, im Rahmen der formalen Demokratie nicht nur das alte Kleinbürgertum unterzuordnen, sondern in bedeutendem Maße auch das Proletariat, mit Hilfe des neuen Kleinbürgertums – der Arbeiterbürokratie.
Die Arbeiterbürokratie ist in der Tat nur zu oft eine verbürgerlichte Fraktion der Arbeiterklasse gewesen. Mittlerweile ist diese Bürokratie noch viel bürgerlicher und opportunistischer geworden als jemals zuvor. Die sozialdemokratischen und pseudosozialistischen Bürokratien haben mit proletarischem Sozialismus überhaupt gar nichts zu tun. Deswegen gibt es praktisch keine Arbeiter in ihren Reihen. Und solche Arbeiterkinder, die doch in solche Organisationen finden, werden selbstverständlich auf ihren untergeordneten Platz in der bürgerlichen Bürokratie verwiesen, was auch noch verleugnet wird. Bürokratie und Kleinbürgertum werden ja als Teil der neuen Arbeiterklasse begriffen. Ein proletarischer Sozialist und noch mehr eine proletarische Sozialistin, am besten mit migrantischem Hintergrund, hat in solchen Gruppen daher alle Entscheidungen von oben abzunicken oder zu schweigen. Von proletarischer Hegemonie kann da natürlich nicht die geringste Rede sein. Das ganze utopische Geschwätz darüber ist schlicht intellektuelle Masturbation. Selbst die arbeiternahen Fraktionen des linken Bürgertums haben enorme Probleme, diese Diskriminierung nicht zu stützen. Genau so funktioniert eine Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung und die Herrschaft der Großbourgeoisie mit Hilfe des Kleinbürgertums. Ganz genau so. Und so lange sich das nicht ändert, wird der Kapitalismus weiterhin Bestand haben...
Lektürehinweise
Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, F.a.M 1987.
Leo Kofler: Zur Theorie der modernen Literatur. Der Avantgardismus in soziologischer Sicht, Düsseldorf 1974.
Leo Kofler: Soziologie des Ideologischen, Stuttgart 1975.
Michael Schäfer: Geschichte des Bürgertums, Köln 2009.
Werner Seppmann: Die verleugnete Klasse. Zur Arbeiterklasse heute, Berlin 2011.
http://archiv2.randzone-online.de/mewerke/meonline/me120.htm
http://www.krisis.org/1997/kommunismus-oder-klassenkampf
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1932/09/02-bourg.htm
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1920/linksrad/kap04.html
http://www.marx-engels-stiftung.de/arbeiteraristokratie.html
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen