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Bürgerliche Werte, bürgerliche Bildung, bürgerliche Kultur wurden das Leitbild der Nachkriegsdeutschen, aber der soziale Träger dieser Leitkultur war das Kleinbürgertum, jene geheimnisvolle gesellschaftliche Kraft, die auch Mittelschicht genannt wird und zu der sich Gewerbetreibende, Selbständige, Handwerker, Manager, höhere und mittlere Angestellte, Beamte, Intellektuelle, Künstler zählen. Ursprünglich war das Kleinbürgertum jene schmale Klasse zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der Karl Marx den Untergang prophezeit hatte, sie werde zerrieben zwischen den beiden Hauptklassen; aber es kam alles ganz anders, sie wuchs unaufhaltsam und wurde zur meinungsführenden Klasse, besonders in Deutschland.
"Nivellierende Mittelstandsgesellschaft" nannten Soziologen diese deutsche Herrschaft des Kleinbürgertums, und die Mehr-heit der Deutschen (über 70 Prozent) sah sich in der Mittelschicht, egal, wo sie in der sozialen Hierarchie tatsächlich hingehören.
Ökonomische Grundlage dieser Selbsteinordnung war der langanhaltende Wohlstandszuwachs der Nachkriegsjahrzehnte. Das Bewusstsein der Bourgeoisie war geprägt vom Besitz an Produktionsmitteln, dem Kleinbürger diente der langanschwellende Besitz an Konsumtionsmitteln als Bestätigung seines sozialen Aufstiegs.
Bürgerlich zu leben hieß: ein Häuschen zu haben und ein Auto, ins Ausland zu reisen, sich gut zu kleiden, und diese Leitkultur der Mitte strahlte bis in die Unterschichten.
Die politischen Parteien wetteiferten mit Programmen ("Wohlstand für alle"), die den Wohlfahrtsstaat zu einem Instrument der sozialen Absicherung der Mittelschichten machten und die mit Bildungsreformen den Aufstieg von unten nach oben erleichterten.
In den sechziger und siebziger Jahren war die Kleinbürgerrepublik auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung, zumal der Deutsche sich auch vom Untertan zum Staatsbürger entfaltete, in die Parteien strebte, auf die Straße ging, zum Citoyen wurde, der sich beteiligte am Gemeinwesen, der Bürgerinitiativen gründete und mehr Demokratie wagte. "Wir sind alle Bürger dieser Bundesrepublik", schmetterte damals der Sozialdemokrat Herbert Wehner den Bürgerlichen entgegen, die immer noch glaubten, sie seien eine kleine Oberschicht, "die müssen schon einen besonderen Begriff von Bürgerlichkeit konstruieren, um uns auszuschließen". Und Helmut Schmidt sprach von sich - im Kanzleramt angekommen - als "leitendem Angestellten der Bundesrepublik", schöner konnte man die Macht im Mittelschichtenparadies nicht definieren.
Die Kinolüge von der klassenlosen Kleinbürgerrepublik fing allerdings an zu verblassen, seit das Wirtschaftswachstum zurückging, sich die Einkommensschere zwischen oben und unten wieder mehr öffnete und die bürgerlich konsumierenden Mittel- und Unterschichten vom Lebensziel des chronischen Aufstiegs abfielen. Das bürgerliche Leben und die bürgerlichen Werte verloren in diesen Kreisen an Anziehungskraft, zudem gewann die antibürgerliche Haltung vieler Bürgerkinder an Reiz.
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Die Furcht in der Mittelschicht, arbeitslos zu werden, hat sich in den letzten 16 Jahren mehr als verdreifacht, auch in den oberen Mittelschichten, ermittelten die Sozialforscher des Wohlfahrtssurvey. Der Kleinbürger ist von Natur aus ein sehr ängstlicher Mensch, ihm fehlt - im Gegensatz zum Bürger - die Sicherheit des verlässlichen Besitzes, ihm fehlt - im Unterschied zum Proletariat - der Schutz der Solidarität. Hans Magnus Enzensberger hat in den siebziger Jahren den deutschen Kleinbürger massenpsychologisch als schwankendes Wesen beschrieben, das überall ist und doch nirgends, das kulturell dominiert, aber unsichtbar ist, das den Spießer als Abziehbild und den Bohemien als Zwillingsbruder erfunden hat, das sich für den Bürger hält und nie für den Arbeiter, das schreckhaft ist und nervös und leicht zu haben für Katastrophenphantasien.
Das schrieb Enzensberger, als Deutschland dem Kleinbürger zu Füßen lag, im Westen wie im Osten, und nun, seit dem Kleinbürger wirklich Gefahr droht, ist die Sehnsucht nach Angst in Panik umgeschlagen. Der weltweite islamistische Terror setzt ihm zu, die Globalisierung, die billige Konkurrenz, der Strom der Migranten; vor allem aber setzt ihm der Staat zu, sein Staat, der immer eine Einrichtung zur Absicherung der Mittelschicht war, dieser Staat hat begonnen, sich zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik gegen ihn zu wenden. Die Eigenheimzulage wurde gestrichen, die Pendlerpauschale gekürzt, und Hartz hat ihm die Sicherheit genommen, auch noch als Arbeitsloser bessergestellt zu sein als der Arbeitslose aus der Unterschicht.
In Deutschland, von der Mitte aus betrachtet, herrschen nun oben die Heuschrecken und unten die Sozialschmarotzer, der Kleinbürger sieht oben und unten Gefahren, er sieht die ganze Gesellschaft als Feind. Er ist für grundsätzliche Reformen, spricht sich im Umfragen zu 70 Prozent dafür aus, um in der nächsten Umfrage mit 70 Prozent gegen Reformen zu entscheiden, die seine soziale Sicherheit ein bisschen reduzieren.
Einst war "der Traum vom kleinbürgerlichen Glück" (Udo Di Fabio) der Motor des Wirtschaftswunders und des deutschen Aufstiegs, nun ist die Angst des Kleinbürgertums der lähmende Brei der Republik, viele der über 1900 Lobbyistenverbände arbeiten zum Wohle des Kleinbürgertums daran, es zu schützen vor Zumutungen und Unbill.
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Cordt Schnibben: "Der seufzende Kleinbürger", in: DER SPIEGEL 24/2006, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-47209111.html, 12.06.2006
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