Ein Buch mit bestechender Argumentation
Was auf den ersten Blick wie eine merkwürdige Mischung aus entfesseltem Raubtier-Kapitalismus und kommunistischer Parteidiktatur aussieht, ist in Wirklichkeit eine Form des „staatlich durchdrungenen Kapitalismus“. So charakterisiert Tobias ten Brink das gegenwärtige System Chinas, das sich seit der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 entwickelt habe.Der Politologe untersuchte Chinas Wirtschaft am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und im Rahmen mehrerer Forschungsreisen. Hauptziel seiner Untersuchung war Analyse und historische Rekonstruktion der wesentlichen Triebkräfte der chinesischen Gesellschaft.
Das Ergebnis seiner Forschung klärt über verbreitete Missverständnisse auf und schließt Lücken in der bisherigen Chinaforschung. Das Buch gehört zweifellos zum Besten, was in den letzten Jahren über den Aufstieg Chinas erschienen ist. Die Argumentation des Autors besticht.
China als „staatsbürokratische Klassengesellschaft“
Demnach war China nie kommunistisch, obwohl es von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) regiert wird. Die KPCh kam zwar im Jahre 1949 mit Hilfe von unzähligen Millionen Bauernsoldaten an die Macht. Im Grunde entwickelte sich seither aber unter der nationalistisch gesinnten Entwicklungsdiktatur Mao Zedongs bis zu dessen Tod 1976 eine „staatsbürokratische Klassengesellschaft“. Das war keineswegs die „Demokratisierung der Macht“ oder die „Auflösung von Herrschaft“, die sich die Kommunisten anfangs erhofften.Stattdessen blieb China weiterhin eine ungleiche Gesellschaft mit systematischer Unterdrückung und einer eigenartigen herrschenden Klasse in Mao-Anzügen. Es habe sich zunächst also einerseits ein staatlich durchdrungener „Proto-Kapitalismus“ herausgebildet, in dem typisch kapitalistische Zwänge und Triebkräfte wirkten. Andererseits war die maoistische politische Ökonomie bei weitem nicht so zentralisiert wie bis heute oft unterstellt wird. Vielmehr habe eine „Plan-Anarchie“ bestanden, in der zwischen bürokratischen Machtzentren ähnliche Konkurrenzverhältnisse um Ressourcen und immaterielle Vorteile bestanden wie in Marktwirtschaften.
Weiterhin räumt ten Brink mit der Vorstellung auf, China habe sich zu irgendeinem Zeitpunkt vom Rest der Welt isoliert entwickelt. Schon das chinesische Kaiserreich war in das globale Staaten- und Wirtschaftssystem integriert und konnte sich aus ihm nie mehr herauslösen. Selbst nach dem Bruch mit der Sowjetunion in den 50ern und in der Kulturrevolution war China nicht von den typischen Zwängen der kapitalistischen Umwelt abgekoppelt.
Eindrucksvoll weist ten Brink sodann nach, dass der Reform- und Öffnungsprozess, der nach Maos Tod 1976 von seinem Nachfolger Deng Xiaoping eingeleitet wurde, nicht allein aufgrund einer innerchinesischen Krise aufkam. Dengs Reformen waren vielmehr Teil der weltweiten Umstrukturierung des Kapitalismus im Gefolge der Weltwirtschaftskrise in den 70ern.
China als Resultat einer einmaligen historischen Konstellation
Anders als einseitige Ansichten über die Reform-Ära stellt ten Brink weitere wichtige Punkte heraus: Die Reformen waren kein völliger Bruch mit der maoistischen Planwirtschaft hin zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft, sondern bloß eine graduelle, wenn auch tiefgreifende Transformation.Auch die Vorstellung, wonach die Liberalisierung der Wirtschaft mit einer Fortdauer der KP-Herrschaft unvereinbar sei, entkräftet er. Die KPCh sitzt noch immer trotz aller Stolpersteine auf dem eingeschlagenen Reformpfad fest im Sattel. Sie vermochte es sogar, die neue private Unternehmerschaft als Fraktion der herrschenden Klasse zu absorbieren und die Mittelschichten zufrieden zu stellen. Eine marktförmige Organisation der Wirtschaft lässt sich also durchaus zumindest über mehrere Jahrzehnte mit einer Einparteiendiktatur vereinbaren. Das gegenwärtige Regime sichert sich unter anderem durch “privat-öffentliche Beziehungsnetzwerke” hinter den Kulissen die Loyalität seiner Politkader ebenso wie die der Privatwirtschaft. Die Privatwirtschaft führt in China demnach keineswegs zu einer Demokratisierung.
Andererseits widerlegt ten Brink die in Presse und Populärwissenschaft häufige Verherrlichung des chinesischen Entwicklungsmodells. Er stellt heraus, dass der sagenhafte Erfolg Chinas mit einem jahrzehntelangen BIP-Wachstum von knapp 10% nicht die alleinige Leistung einer genialen Machtelite, sondern vor allem das Resultat einer einmaligen historischen Konstellation war. Die Überakkumulation von Kapital machte es für die westlichen Kapitalisten notwendig, Investitionen in Länder mit günstigen Akkumulationsbedingungen zu tätigen. „Mehr als in anderen Schwellenländern wie Indien, Brasilien, Mexiko oder Russland boten entwickelte Infrastrukturen und prosperierende ‚supply chain cities‘ politische Stabilität und die guten Erfahrungen der Überseechinesen Gründe dafür, in China zu investieren.“ China wurde seit den 1980ern mehr und mehr zur Goldgrube für westliche Investoren. Das förderte die Exportorientierung Chinas, sodass es mittlerweile den Exportweltmeister Deutschland überholt und die Welt mit Produkten „made in China“ überschwemmt hat.
Aber Chinas Exportismus erforderte zugleich eine arbeitsintensive und billige Produktion, was wiederum zu zentralen Widersprüchen der chinesischen Wirtschaft führen musste. Neben seiner globalen Perspektive, die den methodischen Nationalismus anderer Analyserahmen überwindet, ist gerade die Betrachtung der Widersprüche der politischen Ökonomie Chinas eine Hauptstärke ten Brinks.
Zugleich weist er auf eine besondere Problematik der Arbeitsbeziehungen in China hin. Denn die staatliche Einheitsgewerkschaft repräsentiert die Interessen der Arbeiter weniger als die des Staates und der Unternehmer. So könne von einem „Tripartismus mit vier Parteien“ gesprochen werden, wobei staatlichen, unternehmerischen und gewerkschaftlichen Akteuren institutionalisierte Kanäle der Interessenartikulation zur Verfügung stehen, den Arbeitern dagegen kaum.
Dieser Mangel ist einer der Gründe, weshalb die Interessen der Arbeiter sich jährlich in über 200.000 eruptiven Massenprotesten niederschlagen müssen. Die teils gewalttätigen Arbeiterproteste verweisen auf “die Grenzen der Subordination” und der Integration in das gegenwärtige System. Denn das Wachstum der Volksrepublik lässt sich nur mit dem Niederdrücken der Arbeiterlöhne und der Unterdrückung der Arbeiterproteste aufrechterhalten. Die Arbeiter hingegen fordern immer drängender und erfolgreicher ihre Rechte ein. Auch weitergehende Forderungen nach Lohnsteigerungen und Demokratisierung werden lauter.
Der obige, leicht veränderte Text ist hier zuerst erschienen:
http://diefreiheitsliebe.de/allgemein/chinas-eigentuemlicher-kapitalismus
Tobias ten Brink: Chinas Kapitalismus. Entstehung, Verlauf, Paradoxien, Frankfurt/New York: Campus 2013. http://www.campus.de/wissenschaft/soziologie/Chinas+Kapitalismus.101716.html
Aber Chinas Exportismus erforderte zugleich eine arbeitsintensive und billige Produktion, was wiederum zu zentralen Widersprüchen der chinesischen Wirtschaft führen musste. Neben seiner globalen Perspektive, die den methodischen Nationalismus anderer Analyserahmen überwindet, ist gerade die Betrachtung der Widersprüche der politischen Ökonomie Chinas eine Hauptstärke ten Brinks.
Die Widersprüche der politischen Ökonomie Chinas
Er stellt überzeugend dar, wie die drei zentralen Akteure der politischen Ökonomie – Unternehmen, staatliche Agenten und Industriearbeiter – ihre Gesellschaft in sozialen Konflikten umformen. Vor allem der Einfluss der Arbeiter auf Staat und Wirtschaft wird bei anderen Autoren oft vernachlässigt. Ten Brink dagegen zeigt, wie die Arbeiter im Konflikt mit staatlichen und privaten Akteuren für ihre Rechte kämpften.Zugleich weist er auf eine besondere Problematik der Arbeitsbeziehungen in China hin. Denn die staatliche Einheitsgewerkschaft repräsentiert die Interessen der Arbeiter weniger als die des Staates und der Unternehmer. So könne von einem „Tripartismus mit vier Parteien“ gesprochen werden, wobei staatlichen, unternehmerischen und gewerkschaftlichen Akteuren institutionalisierte Kanäle der Interessenartikulation zur Verfügung stehen, den Arbeitern dagegen kaum.
Dieser Mangel ist einer der Gründe, weshalb die Interessen der Arbeiter sich jährlich in über 200.000 eruptiven Massenprotesten niederschlagen müssen. Die teils gewalttätigen Arbeiterproteste verweisen auf “die Grenzen der Subordination” und der Integration in das gegenwärtige System. Denn das Wachstum der Volksrepublik lässt sich nur mit dem Niederdrücken der Arbeiterlöhne und der Unterdrückung der Arbeiterproteste aufrechterhalten. Die Arbeiter hingegen fordern immer drängender und erfolgreicher ihre Rechte ein. Auch weitergehende Forderungen nach Lohnsteigerungen und Demokratisierung werden lauter.
Eine Alternative für die demokratische Marktwirtschaft?
Chinas kapitalistische Entwicklung stellt die Welt vor neue Probleme. Nicht nur bricht sie mit gängigen Vorstellungen davon, was Kapitalismus sei, sondern sie droht auch die wohlfahrtsstaatlichen und demokratischen Formen des Kapitalismus selbst zu verdrängen. Das chinesische Modell erscheint sicherlich nicht wenigen Vertretern der Eliten im krisengeschüttelten Westen als Alternative für das eigene wohlfahrsstaatliche Modell des Kapitalismus. Das chinesische Modell ist das eines weitgehend krisenresistenten Kapitalismus, der den Eliten saftige Profite sichert, den Mittelschichten Stabilität und Aufstiegschancen verspricht und die Forderungen von unzufriedenen Arbeitern mit autoritären Mitteln eindämmen kann. Chinas Kapitalismus ist daher ein integraler Bestandteil der Weltgesellschaft, der uns alle betrifft.Der obige, leicht veränderte Text ist hier zuerst erschienen:
http://diefreiheitsliebe.de/allgemein/chinas-eigentuemlicher-kapitalismus
Tobias ten Brink: Chinas Kapitalismus. Entstehung, Verlauf, Paradoxien, Frankfurt/New York: Campus 2013. http://www.campus.de/wissenschaft/soziologie/Chinas+Kapitalismus.101716.html
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