Freitag, 8. November 2013

Marxistische Anthropologie als Vortheorie kritischer Wissenschaften

Vereinbarkeit von Marxismus und Anthropologie


„Alle kritische Theorie setzt letztlich einen exakt definierten Begriff des Menschen, eine exakte Definition seines ‚eigentlichen‘ Wesens voraus.“ [1] „Ohne eine marxistische Anthropologie kommen wir nicht weiter“ [2]

Das schrieb der 1995 verstorbene marxistische Theoretiker Leo Kofler provokant. Was genau meinte der selbst unter Linken viel zu wenig bekannte Marxist damit? Wie kommt ein Marxist darauf, die Anthropologie zu verteidigen? Kann man überhaupt von der Anthropologie reden? Und sind Anthropologie und Marxismus miteinander vereinbar?

Koflers relative Unbekanntheit hat zum Teil damit zu tun, dass er diese Vereinbarkeit von anthropologischem Menschenbild und Marxismus verteidigte. [3] Das war Mitte des 20. Jahrhunderts für einen Marxisten äußerst ungewöhnlich und fand keine breite Akzeptanz. Damals verbanden die meisten Marxisten nämlich Anthropologie, die „Lehre vom Menschen“, nicht mit marxistischer Theorie oder kritischen Wissenschaften, sondern eher mit bürgerlicher Scheinwissenschaft oder gar mit reaktionärer, rassistischer und biologistischer Ideologie.

Verständlich, denn Hauptvertreter der Anthropologie wie Arnold Gehlen und Helmut Schelsky waren für ihre politische Nähe zum Nazi-Faschismus und zum autoritären Konservatismus bekannt. Und nicht vermeintlich ewige Eigenschaften der menschlichen Natur wollten die Linken ausarbeiten – das taten genannte Anthropologen ja schon. Vielmehr wollten die Linken die Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit der Menschen herausstellen, um so eine Kritik an Missständen in Gesellschaft und Geschichte formulieren zu können. Denn wenn gesellschaftliche Missstände wie etwa Unterdrückung, Herrschaft, Ausbeutung und Krieg nicht der menschlichen Natur entspringen und damit nicht unvermeidlich sind, dann können sie als geschichtlich veränderbar und damit auch als prinzipiell lösbar betrachtet werden.

Kritisches Potenzial marxistischer Anthropologie?


Anthropologie erscheint entsprechend aus gesellschaftskritischer Sicht als unkritisch, da sie die Verhältnisse als „ganz natürlich“ oder „menschlich“ verewige bzw. anthropologisiere. Sie sei somit bürgerliche Ideologie. Kritische Wissenschaft erscheint dagegen als grundsätzlich „fortschrittliche“ Theorie und Praxis, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse historisiert, sie aufgrund ihrer geschichtlichen Bedingtheit kritisiert und sie so „zum Tanzen“ bringen soll.

Eine klare Unvereinbarkeit von Anthropologie und kritischer Wissenschaft also? Dass dies eine Täuschung ist und dass Koflers eingangs zitierter Satz im Bezug auf kritische Wissenschaften noch immer zutrifft, das ist die Hauptthese dieses Textes. In einem Satz: kritische Wissenschaften dürfen auf eine explizite Anthropologie als „Vortheorie“ nicht mehr verzichten. [4]

Aber: die Diskussion um Anthropologie wird nicht geführt. Ist es nicht völlig überflüssig, eine irgendwie „humanistische“ Anthropologie auszuarbeiten? Gibt es für kritische Köpfe nichts Besseres zu tun? Und klingt „humanistisch“ nicht ohnehin nach bürgerlicher Aufklärung und somit nach der frühkapitalistischen Utopie, welche im Kapitalismus die der menschlichen Natur entsprechende Gesellschaftsform sah? Was sollen denn die Gründe für die Notwendigkeit einer solchen humanistischen bzw. marxistischen Anthropologie heute sein?

Pessimistisches und humanistisches Menschenbild


Das Thema der humanistischen Anthropologie bleibt aktuell, wenn es auch nicht breit diskutiert wird. Wenn heutzutage die konservativen Ideologen, d.h. die Sarrazins, die Sloterdijks, die Westerwellen, die Rüttgers und ihre rot gefärbten „sozialdemokratischen“ Kollegen ihre Vorstellungen medienwirksam machen, so verbreiten sie bewusst oder unbewusst ein Menschenbild, und zwar ein menschenfeindliches, pessimistisches, repressives. 

Es ist ein Menschenbild, das in gewissen Bevölkerungsgruppen wie Migranten, Arbeitslosen, Chinesen, Moslems und in allen ungehorsamen Bürgern von Grund auf faule, integrationsunfähige und daher zu disziplinierende „Schmarotzer“ sieht.

Auch wenn sie die Faulheit, die Weltfremdheit und das Schmarotzertum angeblicher „Leistungsträger“ gerne übersehen, verschweigen und leugnen - somit also nur einem Teil der Menschen diese quasi anthropologischen Eigenschaften unterstellen - betreiben diese Ideologen doch eine Art vulgärer „Lehre vom Menschen“. 

Die mediale Wirkung dieses pessimistischen Menschenbildes ist, dass die Menschen aller Schichten und Klassen allmählich davon überzeugt werden und theoretische wie praktische Konsequenzen daraus ziehen. Da die Menschen „von Grund auf“ faul, integrationsunwillig und parasitär seien, aber zugleich das Ideal des fleißigen, braven und genügsamen Leistungsträgers propagiert und für (fast) jeden Menschen als gültig erachtet wird, so müssen die Menschen entsprechend streng behandelt werden.

Da hilft also nur der negative Anreiz: Missbilligung, Verachtung, materielle und physische Strafen, Zwang oder die Ausweisung sind damit gerechtfertigt. Hier vermischt sich die anthropologisch-konservative Argumentation mit dem Klassenkampfdenken von oben. 

Konkret heißt das oft, dass Lohnkürzungen für Arbeitslose, Entrechtung von Asylanten, rassistische Pauschalisierungen von Ethnien und Verleumdung unliebsamer Bürger durch die Politik betrieben werden kann, ohne dass großer Widerstand zu erwarten ist. Schließlich erscheint dem pessimistischen Menschenbild zufolge Widerstand gegen Repression als unsinnig und „idealistisch“.

Das Menschenbild als Maßstab für menschliche Geschichte


Manch kritischer Kopf wird nun zwar meinen, dies alles sei zwar richtig, aber sogleich rhetorisch fragen: „wozu brauchen wir kritischen Wissenschaftler, Sozialisten und alle mit dem Bestehenden Unzufriedenen in diesem Zusammenhang denn nun eine so genannte marxistische Anthropologie? Geht es nicht ohne?“

Zum einen dürfen sich kritische Wissenschaftler_innen von der politischen Instrumentalisierung von wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Theorien nicht abhalten lassen, zu fragen, ob es anthropologische Grundlagen des Menschen und seiner Gesellschaftsformen gibt. Zum anderen müssten speziell Linke sogar ein besonderes Interesse an einer solchen Fragestellung haben, denn Leo Kofler fragt bspw. rhetorisch zurück:

"Warum sollen von der positivistischen oder bürgerlich-anthropologischen Warte aus besehen Klassengesellschaft und Herrschaft des Menschen über den Menschen einen geringeren Geltungswert besitzen als klassenlose Gesellschaft und Selbstverwirklichung?" [5]

Kofler selbst beantwortet diese Fragen so:


„Eine von der marxistischen Theorie erstrebte humanistische Definition des Menschen ist auf der bloßen Grundlage einer nur historischen Betrachtung nicht möglich, weil auf dieser Grundlage sowohl jeglicher feste Maßstab dafür fehlt, zu beurteilen, was historischer Fortschritt (…) eigentlich ist, wie auch dasjenige unbestimmt und unbegriffen bleibt, was in der Theorie von Marx die ,Selbstverwirklichung des Menschen‘ ausmacht.“ [6]

Kofler verweist hier auf die zwei sich völlig entgegengesetzten Anthropologien und die damit jeweils einhergehenden Menschenbilder, die je einen Maßstab liefern dafür, welche Gesellschaft und Politik der menschlichen Natur entspricht. 

Es ist dieser anthropologische Maßstab, der die Bedeutung der Anthropologie ausmacht. Ohne ihn lässt sich nicht plausibel erklären, weshalb etwa Unterdrückung, Herrschaft, Ausbeutung und Krieg abgeschafft werden müssen. Zyniker denken sich hier sicherlich: „Na und? Lass sie doch Krieg führen etc., wenn sie nicht anders können oder wollen! Menschen sind eben so!“ - Aber das zeigt nur, dass diese Zyniker selbst dem repressiven Menschenbild verfallen sind und nicht sehen, dass ihre Gleichgültigkeit prinzipiell ein Hindernis auch für ihre eigene „Selbstverwirklichung“ ist.

Das pessimistische Menschenbild im Kapitalismus


Das Menschenbild liefert also einen Maßstab für Gesellschaft und Geschichte. Worin besteht aber genau der Unterschied zwischen repressivem und humanistischem Menschenbild? Die in bürgerlichen Ideologien inbegriffene Anthropologie geht davon aus, dass die menschliche Natur bereits alle Missstände der bürgerlichen Gesellschaft erklärt, womit diese als „ganz natürlich“ oder „menschlich“ erscheinen. 

Die bürgerliche Anthropologie versucht aus allerhand empirischem Material, aus dem alltäglichen Verhalten der Menschen in der Konkurrenzgesellschaft und aus ihren großen gesamtgesellschaftlichen Missständen, bestimmte „Triebe“ der Menschen herauszufiltern, um wiederum die schlechten und angeblich unvermeidbaren Seiten der Gesellschaft zu erklären.

Im Grunde entwickelt die bürgerliche Anthropologie ihr Menschenbild unvermittelt aus der kapitalistischen Klassengesellschaft. Ihr menschlicher Maßstab verbleibt daher immer in den beschränkten Möglichkeiten, die den Menschen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ausmachen. 

Wenn sie Lösungen für gesellschaftliche Probleme anbietet, kommt sie daher nur zu temporären und oberflächlichen Scheinlösungen, da sie die eigentlichen Ursachen ja im Menschen „an sich“ und nicht in den gesellschaftlichen Verhältnissen sieht. Meist sind diese Scheinlösungen dann auch noch repressiver Natur, da Repression sowohl der bürgerlichen Staatsmacht wie dem bürgerlichen Menschenbild entspricht.

Das Menschenbild von Leo Kofler

Die marxistische Anthropologie Koflers hingegen geht umgekehrt davon aus, dass die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse mit all ihren Missständen erst das oberflächliche Menschenbild der anthropologischen Pessimisten erzeugen und rechtfertigen. 

Für Kofler ist der Mensch keineswegs immer identisch mit dem Menschen der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft – sein Menschenbild ist weltoffen und konkret: der Mensch (als einzelner wie als kollektiver) kann „gut“ oder „schlecht“ sein, je nach den gesellschaftlichen Umständen. Ebenso ist für ihn die Gesellschaft nicht immer identisch mit der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft. Sowohl der heutige Mensch wie die heutige Gesellschaft sind für Kofler nur konkrete Verwirklichungen der menschlichen bzw. gesellschaftlichen Möglichkeiten.

Diese menschlichen Möglichkeiten gewinnt Kofler nicht aus dem empirischen Material und dem Alltag, was er als oberflächlich ablehnt. Er gewinnt sie vielmehr aus der analytischen Abstraktion von konkreter Empirie und Alltag. Das Ergebnis ist die Erkenntnis des menschlichen „Wesens“. 

Dieses menschliche „Wesen“ bleibt bei Kofler jedoch – und das ist ein entscheidender Unterschied zur bürgerlichen Anthropologie - rein formal. Formal heißt hier, dass das „Wesen“ nur als Voraussetzung der konkreten Empirie und des Alltags aufzufassen ist. Es wird für die Möglichkeit von konkreter Gesellschaft bloß vorausgesetzt. 

Es kann daher die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse nicht erklären oder bestimmen, sondern nur der Aufdeckung ihrer Möglichkeit überhaupt und ihrer Möglichkeiten in Zukunft dienen und die Aufdeckung der menschlichen Möglichkeiten ist zugleich das Maß für die „Selbstverwirklichung“ des Menschen. Entsprechend definiert Kofler die Anthropologie: „sie ist die Wissenschaft von den unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderlichkeit.“ [7]

Kofler begründet damit zwei von einander abhängige Teil-Wissenschaften: die marxistische Anthropologie und die marxistische Geschichtsauffassung. Die Anthropologie ist abstrakt und formal, die Geschichtsauffassung ist konkret und inhaltlich. 

Der formale Charakter ist jedoch nicht zu vernachlässigen, denn erst er ermöglicht die reale, konkrete Geschichte; erst eine solche Anthropologie gibt der kritischen Geschichtsauffassung den Maßstab, wie umgekehrt die Geschichtsbetrachtung der kritischen Anthropologie die Konkretisierung gibt. Beide hängen voneinander existenziell ab. Wird eine von der anderen abgetrennt, verlieren beide ihren ausformulierten Sinn.

Der humanistische Maßstab für linke Kapitalismuskritik


Im Anschluss an die linke Kritik der Wissenschaften kann man sagen: kritische Wissenschaften müssen historisch vorgehen. Sie sind damit Teil der kritischen Geschichtsauffassung. Die kritischen Wissenschaften müssen zynische Moral und Verewigung von Missständen wie etwa bei Sarrazin oder Sloterdijk kritisieren, da sie sonst auf das unkritische Niveau bürgerlicher Wissenschaften fallen. Aber: sie können es nur auf Grundlage eines Maßstabes tun. Dieser fehlt der linken Kritik, wenn sie kein Menschenbild formuliert. 

Der Maßstab, den die marxistische Anthropologie liefert, ist gerade dafür bestens geeignet. Er schützt die Geschichtsauffassung wie alle anderen Wissenschaften sowohl vor der Verewigung historisch-gesellschaftlicher Verhältnisse als auch vor zynischer Moral. Ohne diesen Maßstab ist kritische Wissenschaft letztlich unbegründet und steht bloß in beliebiger und unverständlicher Opposition zur traditionellen Wissenschaft. [8]
Der bürgerlich-pessimistische Zynismus muss und kann nur durch einen anthropologischen Optimismus abgewehrt werden. Die Verabsolutierung der inhumanen gesellschaftlichen Verhältnisse muss durch die Geschichtsauffassung des historischen Materialismus relativiert werden. 

Der Maßstab der Anthropologie sollte daher ausformuliert und konkretisiert werden und zur letztlichen Begründung humanistischer Kritik an Kapitalismus, an repressiven Menschenbildern und an traditioneller Wissenschaft herangezogen werden.

Und nur durch die Abwehr des repressiven Menschenbildes können kritische Köpfe die pessimistischen und resignativen Köpfe von der Richtigkeit und Notwendigkeit der humanistischen Gesellschaftskritik, der kritischen Wissenschaften wie auch des Sozialismus überzeugen. Darin besteht die Bedeutung marxistischer Anthropologie.

Das Wesen des Menschen


Die kritischen Köpfe werden sich nun eine Konkretisierung dieses humanistischen Maßstabes wünschen. Wie genau sieht denn nun dieses „Wesen“ des Menschen aus? Wodurch ist der Mensch definiert?

Erinnern wir uns dafür nochmal an Koflers Definition der Anthropologie: „die Wissenschaft von den unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderlichkeit.“ Mit der menschlichen Veränderlichkeit befassen sich ja die konkreten geschichtlichen Wissenschaften. Die Anthropologie spezialisiert sich auf die unveränderlichen Voraussetzungen. 

In Koflers Schriften finden sich einige dieser Voraussetzungen, die hier weiter nicht interessieren. [9] Die wesentliche, den Menschen wirklich definierende Voraussetzung seiner Veränderlichkeit aber ist für ihn: „die Identität von Bewusstsein und Arbeit, des weiteren von Bewusstsein, Telos, Arbeit, Vergesellschaftung, Begriff und Sprache“ [10].

Diese Begriffe kennzeichnen laut Kofler bloß verschiedene Ausprägungen ein und derselben menschlichen Eigenart. Sie sind losgelöst von einander unmöglich und undenkbar, sie bedingen einander. Sie machen daher zusammen den qualitativen Unterschied zu allen bloß tierischen Wesen aus. [11] Zugleich räumt Kofler scheinbar im Gegensatz dazu ein: „wenn überhaupt von etwas Gleichbleibendem im Menschen die Rede sein kann, dann ist es seine Veränderlichkeit im historischen Raum.“ [12] 

Das bestätigt aber nur die Bestimmung des menschlichen Wesens als einer bloß formalen Voraussetzung von Geschichte, die angenommen werden muss, die aber für sich genommen die konkreten Inhalte der Geschichte nicht erklärt und daher auch kein abstrakt-ahistorisches Prinzip oder dergleichen ist, welches die Geschichte mache, wie es bei Idealisten angenommen wird.

Aber diese Definition des Menschen als eines bewussten, arbeitenden etc. für sich genommen rechtfertigt noch nicht Gesellschaftskritik, kritische Wissenschaften und Sozialismus.

Der "spielende Mensch"


Erst die weiteren theoretischen Ableitungen aus dieser marxistischen Definition des Menschen, die schließlich zum „spielenden Menschen“ als der eigentlichen sonderbaren Anlage des Menschen führen, rechtfertigen jegliche kritische Abwehr gesellschaftlicher Missstände. Hier ist allerdings nicht genug Raum, die genauen Ableitungen wiederzugeben. [13] 

Aber man kann diskutable Andeutungen machen: Arbeit, Bewusstsein, Zielsetzung, Sprache etc. wären leere Mittel ohne den Zweck der Bedürfnisbefriedigung, des Genusses, der Lust, des Erotischen. Die Erkenntnis der Beziehung von Mittel und Zweck, von Anstrengung und Belohnung, von Askese des Mittels einerseits und Erotik des Zwecks andererseits liefert zugleich die Erkenntnis dafür, was der Mensch sein kann und sein soll: spielender Mensch. 

Aus der Anlage, aus der Möglichkeit wird eine Bestimmung abgeleitet: der Mensch soll ein spielender Mensch sein, weil er es sein kann und durch jede seiner Handlungen sein will. [14] „Spiel“ heißt bei Kofler wie bei Marx so viel wie freies Betätigen der menschlichen Kräfte.

So kindisch es klingen mag: des Spiels wegen gibt es überhaupt Klassenherrschaft und Klassenkampf. Die herrschenden Klassen und ihre korrumpierten Anhängsel existieren nur, weil sie durch Ausbeutung prinzipiell mehr Spiel, mehr Freiheit, mehr Genuss haben. Die ausgebeuteten Klassen lehnen sich dagegen nur deswegen auf, weil sie für sich selbst mehr Spiel, mehr Freiheit, mehr Genuss beanspruchen. 

Wird das Streben nach freiem Spiel und nach Erreichen immer höherer Stufen von Freiheit ausgeblendet, dann erscheint nicht nur jegliche Klassenherrschaft ohne Sinn, sondern auch jegliche Geschichte. Was ist historischer Fortschritt, wenn nicht das Erreichen immer höherer Stufen der Freiheit, des Spiels und der Selbstverwirklichung des Menschen? Mit Kofler lässt sich schließen:

„Die anthropologische Bestimmung des ‚eigentlichen Menschen‘ als eines mit dem Eros identischen steht nicht für sich, sondern wird maßgeblich für alle Wissenschaften, in denen sich ausdrücklich oder auf vermittelte Weise die Frage nach dem richtigen Handeln stellt.“ [15]

Fußnoten


[1] Leo Kofler: Der asketische Eros. Industriekultur und Ideologie, Wien 1967, S. 23.

[2] Leo Kofler: „Die Bewusstseinsanthropologie im Materialismus von Karl Marx“, in: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers, Hamburg 2000, S. 214.

[3] Auch andere Marxisten haben die Bedeutung der Anthropologie und des Menschenbildes für den Marxismus herausgestellt. Kofler steht keineswegs auf verlorenem Posten. Er ragt im Gegenteil als Systematiker und Vorläufer neuerer Ansätze heraus. Genannt seien z. B. E. Fromm, H. Lefebvre, A. Honneth, C. Jünke.

[4] Kofler selbst bezeichnet die Anthropologie u.a. als „Vortheorie“ des Marxismus. Vgl. Leo Kofler: „Die Bewusstseinsanthropologie im Materialismus von Karl Marx“, in: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers, Hamburg 2000, S. 219.

[5] Ebenda, S. 214.

[6] Leo Kofler: Aggression und Gewissen. Grundlegung einer anthropologischen Erkenntnistheorie, München 1973, S. 18.

[7] Leo Kofler: Der asketische Eros. Industriekultur und Ideologie, Wien 1967, S. 28.

[8] Übrigens ist auch die traditionelle Wissenschaft unbegründet, wenn ihr Ziel nicht menschliche Fortschritte sind.

[9] Im Allgemeinen macht er insgesamt acht dieser anthropologisch-formalen Bedingungen menschlicher Existenz aus: die menschliche Vernunft, die menschliche Tätigkeit, die Geschichtlichkeit des Menschen und seine Entäußerung, seine physische und seine psychische Organisation, seine Vergesellschaftung, sowie die Subjekt-Objekt-Dialektik.

[10] Leo Kofler: „Die Bewusstseinsanthropologie im Materialismus von Karl Marx“, in: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers, Hamburg 2000, S. 219.

[11] Könnte man etwa Affen auch nur eine dieser Eigenarten nachweisen, dann müsste man diese konsequent zur menschlichen Gattung zählen. Da aber Kofler eine qualitative anthropologische Setzung vornimmt, die etwaige „Anfänge“ von Bewusstsein, Arbeit, Zielsetzung, Vergesellschaftung bei Tieren als bloß instinkthaft und in absehbarer Zeit als unveränderbar annimmt, würden wohl keinem Affen die Menschen- oder Bürgerrechte zustehen. Würde aber jemand mit dem Äußeren eines Affen nicht nur ein einteiliges Holz- oder Steinwerkzeug nutzen, sondern sich einen Vorrat davon zulegen oder gar Ackerbau und Viehzucht betreiben, Deutsch oder Chinesisch sprechen, Puschkin lesen oder ein Buch beliebigen Inhalts schreiben, dann müsste man ihn zweifellos zur menschlichen Gattung zählen.

[12] Leo Kofler: Der asketische Eros. Industriekultur und Ideologie, Wien 1967, S. 25.

[13] Siehe z.B. Koflers hier zitierte anthropologische Schriften, die Homepage der Leo-Kofler-Gesellschaft (www.leo-kofler.de) oder für eine kurze Zusammenfassung der Anthropologie Koflers: Christoph Jünke: „Wann ist der Mensch ein Mensch? Leo Koflers anthropologische Utopie“, zuerst in: Sozialismus, Heft Nr. 306, Januar 2007 (http://www.linksnet.de/de/artikel/20294).

[14] „Der Mensch handelte nicht, wenn er nicht gleichzeitig nach glückhafter Befriedigung des Eros strebte.“, in: Leo Kofler: Der asketische Eros. Industriekultur und Ideologie, Wien 1967, S. 34.

[15] Ebenda, S. 327. Kursivsetzung erfolgt durch mich.

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