Montag, 18. November 2013

Aktuelle Reformen in China, Teil 2: Laogai, der chinesische Gulag

Umfangreiche Reformen? Das Vorwort déjà vu

"Chinas kommunistische Führung hat bei einem Spitzentreffen überraschend umfangreiche gesellschaftliche Reformen in die Wege geleitet."
Das liest man in der Süddeutschen Zeitung. Das Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei (KP) hat eine Woche lang getagt und nun die seit letzter Woche bereits versprochenen Reformen konkretisiert.

Ich hatte vor wenigen Tagen im Artikel "Einschneidende Reformen in China und eine Bo Xilai-Partei?" einschneidende Reformen für unwahrscheinlich erklärt, weil sie solche Reformen gegen das Interesse der herrschenden Bürokraten und Oligarchen verstoßen würden. Dabei bleibe ich. Allerdings überrascht die Chinas Führung die Welt mit Reformen, die "verhältnismäßig weit gehen".

Es sind kluge Reformen, die auch einem großen Teil der riesigen chinesischen Bevölkerung helfen dürften. Man sollte die Reformen daher begrüßen. Sie gehen in die richtige Richtung und können als Fortschritt gelten. Die neue Führung um Xi Jinping und Li Keqiang, die seit einem Jahr die KP leitet, beweist damit, dass sie aus klugen Köpfen besteht. Man darf hoffen, dass sie auch mit der seit einer Woche bestehenden chinesischen Partei der Verfassungshoheit (Zhixiandang) klug umgehen werden. Die hat sich nämlich mit dem in Ungnade gefallenen Bo Xilai solidarisiert.

Die Reformen sollen so verschiedene Bereiche umfassen wie:
  1. die Arbeitslager 
  2. die Ein-Kind-Politik 
  3. die Marktwirtschaft 
  4. das soziale Sicherungssystem 
  5. weitere Maßnahmen, die noch unklar sind. 
Das geht viel weiter als viele der Kommentatoren in den Medien erwartet hatten. Aber es geht nicht so weit, dass man die Reformen als sonderlich einschneidend oder radikal bezeichnen sollte. Sie gehen nämlich nicht an die Substanz des existierenden Systems. Die Reformen sind staatstragende Reformen ganz im Interesse der herrschenden Klasse der Bürokraten und Oligarchen. Deren politische und ökonomische Vorteile gegenüber der unterdrückten Bevölkerung sollen offenbar nicht angetastet werden. Es sind Reformen zur Stabilisierung der "staatsbürokratischen Klassengesellschaft" Chinas. Aber es lohnt sich, den Charakter der angekündigten Reformen im Detail zu erfassen. Im folgenden wird die Abschaffung der Arbeitslager thematisiert.

Das chinesische System der Lager - Laogai (劳改) und Laojiao (劳教)


Der chinesische Gulag


Das System der Arbeitslager, das in der Sowjetunion unter dem Namen "Gulag" bekannt geworden ist, gab es bis jetzt auch in China. Das chinesische Arbeitslager bzw. Umerziehungslager wird als "laogai" (劳改) oder "laojiao" (劳教) bezeichnet, was so viel heißt wie "Reform durch Arbeit" und "Umerziehung durch Arbeit".

So wie das russische System in Solschenizyns Roman "Der Archipel Gulag" eine oppositionelle Anklageschrift fand, fand das chinesische Pendant einen Ankläger in Bao Ruowang. Als "Gefangener bei Mao", wie sein Buch heißt, hatte er zehn Jahre seines Lebens üble Erfahrungen machen müssen mit menschenunwürdiger Inhaftierung, Gehirnwäsche, Folter und Zwangsarbeit. Er erklärt die Besonderheit und Funktion des chinesischen Lagers mit folgender Beschreibung:
“In unserer sauberen und heiteren Welt besteht kein Mangel an Ländern, die ihre modernen Zivilisationen mit Hilfe von Deportationsgebieten, Konzentrationslagern und Gefängnissen aufgebaut haben. Vor allem die Sowjets haben es in dieser Hinsicht bemerkensweit weit gebracht. Aber verglichen mit dem Vorgehen der Chinesen nach ihrer siegreichen Revolutioin im Jahre 1949 waren die sowjetischen Maßnahmen [...] ganz und gar unzulänglich. Was die Russen nicht verstanden und was die chinesischen Kommunisten die ganze Zeit über gewußt haben, ist, daß Arbeit niemals produktiv oder gewinnbringend sein kann, wenn sie nur durch Gewalt oder Folter erzwungen wird. Die Chinesen haben als erste die Kunst beherrscht, Gefangene zu motivieren, und genau darum geht es bei Lao Gai.”
Die Lager dienen also der “Motivation” von Gefangenen. Aber sie dienen noch mehr der “Motivation” der Gesamtbevölkerung. Jedes Jahr sitzen über eine Million Häftlinge in chinesischen Lagern ein. Insgesamt sollen es über 50 Millionen gewesen sein. Der Großteil besteht aus Häftlingen, die als "kriminell" definiert wurden. Ein gewisser, wenn auch kleiner Teil der Häftlinge ist offiziell aufgrund politischer Gründe inhaftiert. Die Inhaftierung kann Jahre lang dauern, teils auch ohne ordentlichen Rechtsprozess. Jeder Chinese weiß, dass es derartige Lager gibt und dass jeder prinzipiell ein Opfer der Lager sein kann, wenn er den Herrschenden in China unangenehm auffällt. Chinesen sind daher “motiviert”, den Herrschenden nicht negativ aufzufallen.

Rechtsstaatlichkeit in China


Das Recht auf einen ordentlichen Prozess ist in China zwar vorgesehen, aber durchaus nicht Gang und Gäbe. Die Rechtsstaatlichkeit entwickelt sich in China erst mit der liberalen Marktwirtschaft und vertiefter Integration in den Weltmarkt - könnte man meinen. Tatsächlich ist Rechtsstaatlichkeit aber ein Resultat von politischen Kämpfen. Rechte sind in unserer “sauberen und heiteren Welt”, in Deutschland und den USA genauso wie in China, leider keine Selbstverständlichkeit. Sie müssen regelmäßig erkämpft und verteidigt werden von den aktiven Vertretern der unterdrückten Klassen. Rechte sind eine Art öffentlich garantierter Schutz vor der Willkür der Staatsmacht, die im Interesse der herrschenden Klassen agiert.

Bisher wurden alle rechtlichen Errungenschaften in der VR China von der ungehinderten Praxis des Lagersystems überschattet. Die rechtsstaatlichen Fortschritte in China werden also stets von der prinzipiellen Rückschrittlichkeit des Strafsystems relativiert. In China äußert sich diese Rückschrittlichkeit in noch größerem Maße als in Deutschland oder England im reaktionären Prinzip der Schreckensherrschaft.

Das Prinzip der Schreckensherrschaft


Eine Waffe der Herrschenden


Die Lager fungieren seit ihrer Gründung als Furcht einflößende Waffe der herrschenden KP-Bürokraten. Diese Waffe ist gegen die Bevölkerung gerichtet, die der Verfügungsgewalt der Herrschenden untersteht. Das ironische daran ist, dass die herrschenden Klassen aller Länder stets nichts mehr fürchten als eine Bevölkerung, die frei von Angst zu großen historischen Taten ermutigt ist. Daher war es stets die Aufgabe der Fürsten, Könige, Kaiser, Despoten, Präsidenten und ihrer Minister, die Bevölkerung ängstlich, demütig und klein zu halten. Seit der Spaltung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte werden daher allerhand ekelhafte Methoden erprobt und weiterentwickelt, um den zu mutigen Menschen Angst und Schrecken einzuflößen.

Zuckerbrot und Peitsche


Natürlich belohnen die staatlichen Herrschaften loyale Untertanen, die die Klassenherrschaft bereitwillig unterstützen oder zumindest hinnehmen. Genau dieses Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche der mächtigen Herren gegenüber der ohnmächtigen Masse wird in verschärfter Form in den chinesischen Lagern angewandt. Bao Ruowang beschrieb in "Gefangener bei Mao", wie dieses Prinzip sogar wörtlich auf Spruchbändern in den Lagern zu lesen war:
“Milde für die, die gestehen; Strenge für die, die Widerstand leisten; Vergebung für die, die sich verdient machen; Belohnung für die, die sich durch besondere Verdienste auszeichnen.”

Schreckensherrschaft und autoritäre Erziehung  


Das Spruchband ist in China noch immer ein beliebtes Mittel staatlicher Propaganda. Spruchbänder behandeln die Leser wie unartige Kinder, die an moralische Regeln immer wieder erinnert werden müssen. Man läuft an den Sprüchen immer wieder vorbei und lernt ihre Aussagen so auswendig wie ein fabelhaftes Kindergedicht. Aber man muss gar nicht nach China reisen, um solch einfache Methoden der Erziehung einer infantil gehaltenen Bevölkerung zu finden.

Grundsätzlich funktioniert autoritäre Erziehung von Kindern nach dem selben Prinzip wie ein Arbeits- oder Erziehungslager. Und es gibt kaum einen Unterschied zwischen autoritärer Erziehung in “westlichen”, “orientalischen” oder “asiatischen” Klassengesellschaften. Unartige Kinder werden von den artigen Kindern abgesondert, vielleicht in die Ecke gestellt, angeschrien, beleidigt oder sogar geschlagen. Der Drang aufmüpfiger Kinder nach Wirkmächtigkeit wird auf diese weise niedergehalten. Die Kinder werden künstlich kleiner gemacht als sie sind.

In subtileren Formen der autoritären Erziehung, wie sie nach vielen Kämpfen für Rechtsstaatlichkeit nun auch in Deutschland vorherrschen, werden aufmuckende Kinder bloß mit schlechten Noten in ihren Fächern, mit Kopfnoten für ihre Manieren, mit Sitzenbleiben oder sogar mit schlechteren Schulabschlüssen bestraft. Schulen mit solcher Erziehung dienen der Disziplinierung der heranwachsenden Unmündigen. Die noch unmündigen Kinder werden belohnt oder auf abschreckende Weise bestraft für ihre Haltung zur erziehenden Autorität, damit sie später in mündige und unmündige Erwachsene geteilt werden können. Dazu ist es notwendig, dass sie ihre ungewünschte Aktivität und unerwünschte Neugier unterlassen.

Mündige und Unmündige in der Klassengesellschaft


Die Heranwachsenden sollen ja loyale Untertanen werden, die bereitwillig die Arbeit für die Herrschenden unterstützen oder hinnehmen. Sie müssen die Mehrheit der Bevölkerung stellen, damit der Wohlstand der Herrschaften dauerhaft bestehen kann. Die Bevölkerung wird also in diese Unmündigen und in Mündige geteilt. Mündige Menschen, die sich ihres eigenen Verstandes bedienen und ihre Interessen klar erkennen, sollen in der Minderheit bleiben. Wenn sie herrschafskonform sind, werden sie üblicher Weise materiell und ideell belohnt, damit sie es auch bleiben.

Mündige Menschen, die sich nicht unterordnen, in diesem Sinne "undiszipliniert" sind,oder vielleicht sogar gegen die Ungerechtigkeit der Klassenherrschaft rebellieren, werden dagegen prinzipiell als Taugenichtse, weltfremde Aussteiger oder gar als gemeingefährliche Terroristen verunglimpft.

Auch da gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Deutschland, den USA oder China, sondern bloß einen graduellen. Sowohl der westliche Kern des globalen Kapitalismus wie auch die nicht-westliche Peripherie teilen ihre Bevölkerung in die große unmündige Masse und in die mündige Elite. Es gibt glücklicherweise Ausnahmen, etwa eine relativ antiautoritäre Erziehung in einigen deutschen Schulen oder die Erziehung in den skandinavischen Ländern im Allgemeinen.

Aber auch das verhindert die letztliche Einteilung der Bevölkerung in mündige Elite und unmündige Masse nicht. Antiautoritäre Erziehung ersetzt nun Mal keine revolutionäre Umwälzung der repressiven Klassenverhältnisse.

Gehirnwäsche ist keine Spezifik der chinesischen Arbeitslager. Gehirnwäsche wird auch durch die autoritäre Erziehung bei uns, durch unser Schulsystem, unser Strafsystem, unser Lohnsystem, unser politisches System und natürlich durch unsere Medien erreicht.

Natürlich sind es brave Bürger, die an die Ideale unserer Gesellschaft mehr oder weniger glauben und damit glaubwürdige Handlanger des Systems sind. Mit Kreide, Knüppel oder Lohnsteuerkarte in der einen Hand bewaffnet, waschen diese Handlanger unsere Gehirne mit der anderen Hand, ohne es unbedingt zu wollen. Denn die ganze Organisation der Klassengesellschaft dient dem Systemerhalt. Das chinesische Lager ist nur eine besonders abschreckende Form der Gehirnwäsche. Es ist seinem Wesen nach Abschreckung der Bevölkerung vor einem allzu rebellischen Auftreten.

Die Funktion des chinesischen Lagers


Unterwerfung des eigenen Willens unter die Autorität eines anderen


So kommen wir nach dem Exkurs über das allgemeine Prinzip der Schreckensherrschaft langsam zurück nach China, um die Spezifik der dortigen Herrschaft durch das Lagersystem herauszuarbeiten. Über die gehirngewaschenen Gefangenen, auf die Bao Ruowang im Lager traf, schrieb er:
"Als Chinese weiß und akzeptiere ich, daß ein Mensch den Wunsch hat, sich gut zu benehmen und Bereitwilligkeit und Loyalität zu zeigen; das ist ein typisch chinesischer Zug. Aber dieser Mann und anscheinend auch die anderen schienen das Bedürfnis zu haben, ihre Selbstlosigkeit und Treue ständig zu betonen. Und das ist schließlich das entscheidende Kriterium einer Gehirnwäsche: Unterwerfung des eigenen Willens unter die Autorität eines anderen."
Die Gehirnwäsche durch chinesische Lager ist der Inbegriff von staatlichem Terrorismus. Eine politisch motivierte Gruppierung, die herrschenden Bürokraten und Oligarchen Chinas, bringen die Bevölkerung in China durch Angst und Schrecken von politisch radikalem Auftreten ab oder mindern ihre Neugier nach Aufklärung.

Das funktioniert in Deutschland und im Großteil Europas prinzipiell auch ohne Lager vor allem durch den Medienterror. Der so genannte "War on Terror" ist nach dem Zerfall des großen roten Feindes im Ostblock die beliebteste Form des Terrorismus im Westen. In China hat die Masse weniger vor dem medial aufgebauschten Terrorismus kleiner Sekten Angst als vor dem Zerfall Chinas oder vor der Ausstoßung und Bestrafung durch das Lagersystem.

Da ins Lager nur "Kriminelle" und politisch auffällige Bürger kommen, ist es kein Wunder, dass die chinesische Bevölkerung trotz Interesses an Fortschritten keine sonderlich politische Bevölkerung ist. Die abschreckende Wirkung des Lagers ist so groß, dass die meisten Chinesen kaum Interesse an politischem Aktivismus zeigen. Die meisten nennenswerten Aktivisten sind es gezwungenermaßen, weil sie sonst nicht überleben können.

Gruppenzugehörigkeit und die Autorität des Staates


Es sind meist Industriearbeiter oder Vertreter von bäuerlichen Dorfbewohnern und selten Vertreter der städtischen Mittelschichten. Die "white collar"-Arbeiter, Angestellten, Kleinhändler oder -handwerker, Studierenden etc. sind äußerst selten offen politisch. Das Tiananmen-Massaker von 1989 und die nachfolgenden Inhaftierungen haben das chinesische Volk gedemütigt, demotiviert und in Apathie versetzt.

Die Herrschenden haben aufmuckende Individuen oder ganze Kollektive ins Lager gesperrt, um sie dort zu brechen oder zumindest von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit abzutrennen. Davon können radikale Arbeiterführer, Menschenrechtler, Demokraten, Trotzkisten, tibetische und uigurische Separatisten und Falun-Gong-Anhänger ein langes trauriges Lied singen. Die Schreckensherrschaft beruht nicht nur auf präventiver Abschreckung, sondern auch auf den schrecklichen Erfahrungen im Lager selbst.

Das Terrorregime im chinesischen Lager


Psychoterror 


Wie sieht das Innenleben eines Lagers aus? Unser Kronzeuge Bao Ruowang beschreibt es sehr plastisch. Aufgrund seiner beruflichen Vergangenheit in den USA wurde er zunächst als“imperialistischer Spion”diffamiert und dann in ein Lager verfrachtet. Sehr bald wurde er psychologisch terrorisiert, unerträglichen räumlichen Bedingungen und stupiden Lehren ausgesetzt, um seinen individuellen Willen zu brechen und ihn umzuerziehen zu einem unmündigen und loyalen Untertanen.

Das erinnert nicht umsonst an die autoritäre Erziehung in den Schulen, die ja den selben Zweck haben. Bao Ruowang wurde dafür bestraft, dass er tat, was man von ihm verlangte: seine Meinung frei aussprechen. Da es eine nicht genehme Meinung war, wurde er zur Einzelhaft in eine kleine Zelle gesteckt:
“Tief gebückt quetschte ich mich in das Loch. Die Entfernung zwischen der Türschwelle und dem oberen Ende der Öffnung zwischen der Türschwelle und dem oberen Ende der Öffnung betrug kaum mehr als 90 Zentimeter, die Zelle selbst war etwa 1,20 Meter lang. Die Zementwände lagen ungefähr 1 Meter hoch. Der Raum war gerade groß genug, daß ein Mensch darin sitzen oder hocken konnte, aber es war unmöglich, sich ganz aufzurichten oder ausgestreckt hinzulegen.”

Sadistische Willkür staatlicher Autoritäten 


Unter solchen Bedingungen, wie sie im Lager herrschen, werden der sadistischen Willkür der Autoritäten vor Ort Tür und Tor geöffnet. Ein besonders widerlicher Wärter goss dem eh schon gemarterten Häftling auf besonders zynische Weise durch ein Guckloch sein Essen in den Kerker:
“Eine Tülle wie bei einer Gießkanne fuhr durch die Öffnung und schüttete eine volle Ladung brühheißen Maisbrei herein, von dem ein Teil über meine Hände spritzte. Überrascht ließ ich die heiße Dose im ersten Schmerz fallen. Aber gerade darauf hatte das Schwein gewartet. Wahrscheinlich gehörte das zu den üblichen Schikanen, mit denen man einen neuen Gefangenen in Einzelhaft traktierte. 
‘Verdammter Idiot!’, bellte er. ‘Das ist Verschwendung von Nahrungsmitteln: Blut und Schweiß des Volkes. Dafür kannst du schwer bestraft werden. Ich werde dich melden.’ 
Du Hurensohn, dachte ich. Darauf könnte ich wetten, daß du das tust. Wütend, gedemütigt und vor Selbstmitleid zerfließend, aß ich, was in der Dose übriggeblieben war. Ganz so weit war es mit mir doch noch nicht gekommen, daß ich das Verschüttete vom Boden aufleckte.”

Der moralische Nullpunkt autoritärer Erziehung 


Nach vielen solcher Umerziehungsmaßnahmen kam es schließlich zu einem erpressten Geständnis unseres Häftlings. Die Methode ist die selbe wie bei der christlichen Inquisition vor wenigen Jahrhunderten oder in US-amerikanischen Häftlingslagern wie Abu Ghraib oder Guantanomo heute: Es wird solange gefoltert und gepeinigt bis die gequälte Seele schließlich ALLES sagt und ALLES tut, was die staatliche Autorität von ihr erwartet. Das geschah also auch mit Bao Ruowang, der dem ungläubigen Leser seiner Häftlingsautobiographie erklärt:
“Sollte der Leser das absurd oder übertrieben finden, dann liegt das einzig und allein daran, daß er nie in einem chinesischen Gefängnis eingesperrt war, worüber er froh sein kann. Denn auch heute noch ist dieses Beispiel typisch für die in China angewandten Praktiken.”
Ich zitiere einige Sätze aus Bao Ruowangs erpresstem Geständnis:
“Nach reiflicher Überlegung, unterstützt durch die Lehren der Volksregierung, ist mir bewußt geworden, wie ernst und schändlich die Verbrechen sind, die ich begangen habe. Sie haben der Regierung unabsehbare Verluste beigebracht [...] Sie haben auch dem Volk ernsten Schaden zugefügt. Und schließlich haben sie noch Unglück über meine Familie gebracht.” “Ich darf nie vergessen, daß ich nur esse, was man mir gibt, und daß es mir im Vergleich zu den Arbeitern und Bauern des alten Regimes ausgezeichnet geht. Das Gemüse und die Getreideerzeugnisse, die ich zu mir nehme, habe ich der Arbeit und dem Schweiß unserer Bauern zu verdanken. Wenn ich mich über mein Essen beklage, so ist das dasslebe, als begegnete ich den Bauern mit Verachtung. Da ich ein überführter und verurteilter Strafgefangener bin und der Umformung durch Arbeit unterliege, habe ich kein Recht, etwas Derartiges zu tun.” “Ich sollte mir stets vor Augen halten, daß persönliche Beziehungen verboten sind, und mich einzig von dem Prinzip leiten lassen, daß ‘nur die Arbeit zählt, nicht die Person’. Ob ich jemanden mag oder nicht mag, ist unwesentlich; ich sollte ihn nur als Schulkameraden sehen, der für den Staat arbeitet.” “Wir sind hier, um uns einer Umformung zu unterziehen, und dabei ist kein Platz für Sentimentalitäten. Die Regierung vertraut uns so sehr, daß sie uns diese Umformung zum großen Teil selbst überläßt”.
Ich will hier nicht viel weiter auf die sozialen Dynamiken im Lager selbst eingehen. Es reicht hoffentlich, wenn der Eindruck rüber gekommen ist, dass das Lagersystem in China zutiefst gegen die Würde des Menschen verstößt und eine Institution ist, die unbedingt abgeschafft werden muss.

Die Abschaffung der chinesischen Lager


Nun hat die neue chinesische Regierung mit Xi Jinping und Li Keqiang an der Spitze genau diese überfällige Abschaffung der Lager angekündigt. Wenn das kein leeres Versprechen bleibt, ist das ein gewaltiger Fortschritt für die 1,4 Milliarden Menschen in China und die gesamte Menschheit.

Die Schreckensherrschaft in China würde damit von der Entrechtung und Peinigung im nicht-öffentlichen Raum vermutlich auf die öffentliche Sphäre übertragen. Das würde der Polizei, der regulären Justiz, bekannten Partei- und Regierungsvertretern etc. eine größere Bedeutung verleihen. Die öffentlich bekannten Vertreter der Herrschenden in China müssten daher die Rechte der Bevölkerung stärken und ihre eigene Willkür weiter einschränken.

Das würde weniger Angst vor brutaler Unterdrückung und Demütigung bedeuten. Es würde auch weniger Abschreckung vor politischer Aktivität und Aufklärung bedeuten. Und es würde für die unterdrückten Klassen in China bessere Kampfbedingungen für mehr Rechtsstaatlichkeit bedeuten.

Allerdings kann das nur ein Schritt sein beim überfälligen Anlauf zum großen Sprung in eine Zukunft ohne Schreckensherrschaft wie sie in Ost und West, Nord und Süd - überall auf dem Globus - besteht, weil die globale Klassengesellschaft noch immer besteht.

Quellen


Handelsblatt, SZ, Spiegel, Stern, ksta.

Bao Ruo-wang: “Gefangener bei Mao”. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1977.







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