Im Deutschlandfunk konnte man heute vernehmen, dass Martin Luther (1483-1546) "ein deutscher Rebell" gewesen sei, ein "konservativer Revolutionär", ein Individualist und nicht zuletzt ein gewöhnlicher Mensch mit den Schwächen, die ein Mensch nunmal so habe - Völlerei, Trunksucht, Antisemitismus. Der da interviewte Autor der neuen Lutherbiographie, Willi Winkler, betreibt mit dieser Darstellung eine ungeheuerliche Geschichtsklitterung. Zwar war Luther in der Tat ein Antisemit, aber er war noch viel mehr ein Konterrevolutionär und Feind der Demokratie. Um das zu verstehen, muss man nicht einmal das Buch gelesen haben. Schon der Klappentext des Buches, das bei Rowohlt erscheint, ist anstößig:
"Er war der größte Rebell, den die deutsche Geschichte aufzuweisen hat – und wollte doch nichts weniger sein. Martin Luther hat mit den sagenhaften Hammerschlägen, mit denen er seine 95 Thesen an das Tor der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, das Mittelalter beendet und ein neues Zeitalter begründet: das, in dem wir heute leben. Die von ihm angestoßene Reformation wirkte wie ein ungeheurer Modernisierungsschub, auf Kunst und Alltagsleben, Literatur, Wissenschaft und Publizistik; Luthers Bibelübersetzung ist der Grundtext für das heutige Deutsch. Vor allem aber gab der entlaufene Augustinermönch den Deutschen zum ersten Mal einen Begriff von der Individualität des Menschen: Du allein verfügst über dich, nicht der Kaiser, nicht der Papst, niemand außer Gott. Luther ist eine einzigartige Figur in der europäischen Geschichte. Ohne ihn wäre die Welt ärmer – auf jeden Fall eine andere.Willi Winkler geht es darum, den ganzen Luther in den Blick zu nehmen, ihn als den Mann zu zeigen, der seine Welt vom Kopf auf die Füße gestellt hat, vor dem Hintergrund des aufregenden 16. Jahrhunderts, in dem die Neuzeit beginnt. Rechtzeitig zum Reformationsjahr erscheint diese große Biographie, die alle Anlagen zum Klassiker hat."
Thomas Münzer, der protestantische Revolutionär und Bauernführer |
Luther mag Individualist und Anhänger eines entstehenden Kapitalismus gewesen sein. Er hat auch das Papsttum und den katholischen Seelenhandel herausgefordert. Aber ein Rebell und Revolutionär war er keinesfalls. Im Gegenteil! Luther war ein geistiger Brandstifter und Teilnehmer eines Kreuzzugs gegen echte Rebellen und Revolutionäre. Ausgerechnet ein Schüler und Anhänger von Luther entlarvte die reaktionäre Gesinnung des Reformators. Und ausgerechnet eine wirkliche Rebellion und Revolution zwang Luther, sich zu Mord und Totschlag an einfachen Menschen zu bekennen.
Als der Pfarrer Thomas Münzer (1489-1525), der zunächst ein begeisterter Protestant im Sinne Luthers war, mit diesem brach, spiegelte das den größeren Bruch zwischen Bauern und städtischem Bürgertum wieder. Münzer hatte mit Luther gebrochen, weil Luther in Wirklichkeit weder demokratisch noch radikal war. Die damalige deutsche Gesellschaft brodelte. Adel und Klerus unterdrückten die demokratischen Neigungen der Bauernmassen, während das neu entstehende städtische Bürgertum sich bereits anschickte, eigene Interessen geltend zu machen. Die Bauern auf dem Land und die Kleinbürger in den Städten wollten mehr vom Kuchen abbekommen und sich geistig nicht mehr an die Mächtigen fesseln lassen. Es kam daher zum Klassenkampf:
Luthers Reformation schien zunächst die passende Ideologie für diese revolutionäre Bewegung darzustellen. Aber sobald die Massen sich radikalisiert hatten, erkannte Luther, dass sie die gesamte Gesellschaft hätten sprengen müssen. So weit wollte er nicht gehen. Während Münzer die Bauernmassen Deutschlands tatsächlich vom Joch durch den katholischen Aberglauben und die Reichen befreien wollte, ruderte Luther also schnell zurück, sobald seine Lehre wirklich revolutionär wirkte. Daher musste sich der Prediger des evangelischen Gewissens entscheiden und er entschied sich dazu, ohne jegliche Gewissensbisse die Seite der Konterrevolution zu ergreifen und Münzer, den echten Revolutionär dieser Zeit, zu vernichten. Friedrich Engels beschrieb Münzer in seinem Werk über "Die deutschen Bauernkriege" so:
"Stellen wir nun dem bürgerlichen Reformator Luther den plebejischen Revolutionär Münzer gegenüber. Thomas Münzer war geboren zu Stolberg am Harz, um das Jahr 1498. Sein Vater soll, ein Opfer der Willkür der Stolbergschen Grafen, am Galgen gestorben sein. Schon in seinem fünfzehnten Jahre stiftete Münzer auf der Schule zu Halle einen geheimen Bund gegen den Erzbischof von Magdeburg und die römische Kirche überhaupt.Seine Gelehrsamkeit in der damaligen Theologie verschaffte ihm früh den Doktorgrad und eine Stelle als Kaplan in einem Nonnenkloster zu Halle. Hier behandelte er schon Dogmen und Ritus der Kirche mit der größten Verachtung, bei der Messe ließ er die Worte der Wandlung ganz aus und aß, wie Luther von ihm erzählt, die Herrgötter ungeweiht. Sein Hauptstudium waren die mittelalterlichen Mystiker, besonders die chiliastischen Schriften Joachims des Calabresen. Das Tausendjährige Reich, das Strafgericht über die entartete Kirche und die verderbte Welt, das dieser verkündete und ausmalte, schien Münzer mit der Reformation und der allgemeinen Aufregung der Zeit nahe herbeigekommen.Er predigte in der Umgegend mit großem Beifall. 1520 ging er als erster evangelischer Prediger nach Zwickau . Hier fand er eine jener schwärmerischen chiliastischen Sekten vor, die in vielen Gegenden im stillen fortexistierten, hinter deren momentaner Demut und Zurückgezogenheit sich die fortwuchernde Opposition der untersten Gesellschaftsschichten gegen die bestehenden Zustände verborgen hatte und die jetzt mit der wachsenden Agitation immer offener und beharrlicher ans Tageslicht hervortraten."
Münzer forderte nun also die katholische Kirche ebenso heraus wie Luthers Reformationsbewegung. Er ging aber noch weiter. Sein Christentum war plebejisch, demokratisch und irdisch. Erlösung war für ihn nichts, das nach dem Tod erst beginnt. Erlösung war für Münzer im Grunde die Befreiung der leidenden Massen von der feudalen Unterjochung. "Nach Müntzers theologischer Überzeugung forderte die Heilige Schrift die Freiheit des Menschen. Er wurde von den Fürsten misstrauisch beäugt und geriet immer wieder in Konflikt mit der Obrigkeit. Als 1524 der Deutsche Bauernkrieg ausbrach, schlug Müntzer sich auf die Seite der Landleute. Bald wurde er zu einer Leitfigur des Aufstands", so schreibt sogar das ZDF. Münzer war dank seiner demokratischen Ideologie zum Anführer der bäuerlich-demokratischen Bewegung geworden. Und die Bauern wollten sich nicht mit Luthers bescheidenen Reformen abspeisen lassen. Das musste zum Bürgerkrieg führen. Engels beschrieb Münzers Rolle im anstehenden Bauernkrieg:
"Nicht nur die damalige Bewegung, auch sein ganzes Jahrhundert war nicht reif für die Durchführung der Ideen, die er selbst erst dunkel zu ahnen begonnen hatte. Die Klasse, die er repräsentierte, weit entfernt, vollständig entwickelt und fähig zur Unterjochung und Umbildung der ganzen Gesellschaft zu sein, war eben erst im Entstehen begriffen. Der gesellschaftliche Umschwung, der seiner Phantasie vorschwebte, war noch so wenig in den vorliegenden materiellen Verhältnissen begründet, daß diese sogar eine Gesellschaftsordnung vorbereiteten, die das gerade Gegenteil seiner geträumten Gesellschaftsordnung war.Dabei aber blieb er an seine bisherigen Predigten von der christlichen Gleichheit und der evangelischen Gütergemeinschaft gebunden; er mußte wenigstens den Versuch ihrer Durchführung machen. Die Gemeinschaft aller Güter, die gleiche Verpflichtung aller zur Arbeit und die Abschaffung aller Obrigkeit wurde proklamiert. Aber in der Wirklichkeit blieb Mühlhausen eine republikanische Reichsstadt mit etwas demokratisierter Verfassung, mit einem aus allgemeiner Wahl hervorgegangenen Senat, der unter der Kontrolle des Forums stand, und mit einer eilig improvisierten Naturalverpflegung der Armen.Der Gesellschaftsumsturz, der den protestantischen bürgerlichen Zeitgenossen so entsetzlich vorkam, ging in der Tat nie hinaus über einen schwachen und unbewußten Versuch zur übereilten Herstellung der späteren bürgerlichen Gesellschaft.Münzer selbst scheint die weite Kluft zwischen seinen Theorien und der unmittelbar vorliegenden Wirklichkeit gefühlt zu haben, eine Kluft, die ihm um so weniger verborgen bleiben konnte, je verzerrter seine genialen Anschauungen sich in den rohen Köpfen der Masse seiner Anhänger widerspiegeln mußten. Er warf sich mit einem selbst bei ihm unerhörten Eifer auf die Ausbreitung und Organisation der Bewegung; er schrieb Briefe und sandte Boten und Emissäre nach allen Seiten aus. Seine Schreiben und Predigten atmen einen revolutionären Fanatismus, der selbst nach seinen früheren Schriften in Erstaunen setzt.Der naive jugendliche Humor der revolutionären Münzerschen Pamphlete ist ganz verschwunden; die ruhige, entwickelnde Sprache des Denkers, die ihm früher nicht fremd war, kommt nicht mehr vor. Münzer ist jetzt ganz Revolutionsprophet; er schürt unaufhörlich den Haß gegen die herrschenden Klassen, er stachelt die wildesten Leidenschaften auf und spricht nur noch in den gewaltsamen Wendungen, die das religiöse und nationale Delirium den alttestamentarischen Propheten in den Mund legte. Man sieht aus dem Stil, in den er sich jetzt hineinarbeiten mußte, auf welcher Bildungsstufe das Publikum stand, auf das er zu wirken hatte.Das Beispiel Mühlhausens und die Agitation Münzers wirkten rasch in die Ferne. In Thüringen, im Eichsfeld, im Harz, in den sächsischen Herzogtümern, in Hessen und Fulda, in Oberfranken und im Vogtland standen überall Bauern auf, zogen sich in Haufen zusammen und verbrannten Schlösser und Klöster. Münzer war mehr oder weniger als Führer der ganzen Bewegung anerkannt".
Während die Bauern Ländereien konfiszierten und sich gegen Adel und Klerus bewaffneten, forderte Luther den Bürgerkrieg gegen die Ärmsten der Gesellschaft:
"Daß Luther, als nunmehr erklärter Repräsentant der bürgerlichen Reform, den gesetzlichen Fortschritt predigte, hatte seine guten Gründe. Die Masse der Städte war der gemäßigten Reform zugefallen; der niedere Adel schloß sich ihr mehr und mehr an, ein Teil der Fürsten fiel zu, ein anderer schwankte. Ihr Erfolg war so gut wie gesichert, wenigstens in einem großen Teile von Deutschland. Bei fortgesetzter friedlicher Entwicklung konnten die übrigen Gegenden auf die Dauer dem Andrang der gemäßigten Opposition nicht widerstehn.Jede gewaltsame Erschütterung aber mußte die gemäßigte Partei in Konflikt bringen mit der extremen, plebejischen und Bauernpartei, mußte die Fürsten, den Adel und manche Städte der Bewegung entfremden und ließ nur die Chance entweder der Überflügelung der bürgerlichen Partei durch die Bauern und Plebejer oder der Unterdrückung sämtlicher Bewegungsparteien durch die katholische Restauration.Und wie die bürgerlichen Parteien, sobald sie die geringsten Siege erfochten haben, vermittelst des gesetzlichen Fortschritts zwischen der Scylla der Revolution und der Charybdis der Restauration durchzulavieren suchen, davon haben wir in der letzten Zeit Exempel genug gehabt. Wie unter den allgemein gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen der damaligen Zeit die Resultate jeder Veränderung notwendig den Fürsten zugute kommen und ihre Macht vermehren mußten, so mußte die bürgerliche Reform, je schärfer sie sich von den plebejischen und bäurischen Elementen schied, immer mehr unter die Kontrolle der reformierten Fürsten geraten.Luther selbst wurde mehr und mehr ihr Knecht, und das Volk wußte sehr gut, was es tat, wenn es sagte, er sei ein Fürstendiener geworden wie die andern, und wenn es ihn in Orlamünde mit Steinwürfen verfolgte. Als der Bauernkrieg losbrach, und zwar in Gegenden, wo Fürsten und Adel größtenteils katholisch waren, suchte Luther eine vermittelnde Stellung einzunehmen. Er griff die Regierungen entschieden an. Sie seien schuld am Aufstand durch ihre Bedrückungen; nicht die Bauern setzten sich wider sie, sondern Gott selbst. Der Aufstand sei freilich auch ungöttlich und wider das Evangelium, hieß es auf der andern Seite. Schließlich riet er beiden Parteien, nachzugeben und sich gütlich zu vertragen.Aber der Aufstand, trotz dieser wohlmeinenden Vermittlungsvorschläge, dehnte sich rasch aus, ergriff sogar protestantische, von lutherischen Fürsten, Herren und Städten beherrschte Gegenden und wuchs der bürgerlichen, "besonnenen" Reform rasch über den Kopf. In Luthers nächster Nähe, in Thüringen, schlug die entschiedenste Fraktion der Insurgenten unter Münzer ihr Hauptquartier auf. Noch ein paar Erfolge, und ganz Deutschland stand in Flammen, Luther war umzingelt, vielleicht als Verräter durch die Spieße gejagt, und die bürgerliche Reform weggeschwemmt von der Sturmflut der bäurisch-plebejischen Revolution.Da galt kein Besinnen mehr. Gegenüber der Revolution wurden alle alten Feindschaften vergessen; im Vergleich mit den Rotten der Bauern waren die Diener der römischen Sodoma unschuldige Lämmer, sanftmütige Kinder Gottes; und Bürger und Fürsten, Adel und Pfaffen, Luther und Papst verbanden sich 'wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern'."Man soll sie zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund totschlagen muß!" schrie Luther. 'Darum, liebe Herren, loset hie, rettet da, steche, schlage, würge sie, wer da kann, bleibst du darüber tot, wohl dir, seligeren Tod kannst du nimmermehr überkommen.'"
Die "lieben Herren" stachen, schlugen und würgten die Bauern in der Tat. Sie richteten furchtbare Massaker an ihren revoltierenden Knechten an und stellten die Lage vor dem Aufstand weitgehend wieder her. Engels fasste das Resultat der besiegten Bauernrevolution zusammen:
"Die Bauern waren überall wieder unter die Botmäßigkeit ihrer geistlichen, adligen oder patrizischen Herren gebracht; die Verträge, die hie und da mit ihnen abgeschlossen waren, wurden gebrochen, die bisherigen Lasten wurden vermehrt durch die enormen Brandschatzungen, die die Sieger den Besiegten auferlegten. Der großartigste Revolutionsversuch des deutschen Volks endigte mit schmählicher Niederlage".
Nicht Luther war der deutsche Rebell und Revolutionär, sondern sein abtrünniger Schüler und Konkurrent Thomas Münzer war der wirkliche Held der damaligen Zeit. Münzer bleibt auch heute noch ein glänzendes Beispiel für volkstümliche, linkspopulistische Politik, während Luther mehr den feigen Rechtspopulisten und korrupten Politikern von heute ähnelte.
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