Als Volkskommissar der ungarischen Räterepublik erlebte der Philosoph Georg Lukács Revolution und Konterrevolution nach dem Ersten Weltkrieg hautnah mit. Seine theoretischen Schlussfolgerungen hielt er in dem Buch Geschichte und Klassenbewusstsein fest, das 1923 erstmals veröffentlicht wurde.
Die Essaysammlung hat die linke Debatte der letzten neunzig Jahre nachhaltig geprägt. Seither ist der Marxismus nicht mehr ohne Lukács zu denken.
Die Gedanken der Herrschenden
Im Jahr 2010 berichtete das Handelsblatt:"Die Queen hatte bei einem Besuch der London School of Economics vor einigen Monaten die Ökonomen um Aufklärung gebeten, warum kaum ein Volkswirt die große Finanzkrise vorausgesehen habe. Viele von ihnen, so die Antwort der Forscher, hätten einzelne Krisenherde durchaus richtig erkannt und auch frühzeitig vor gefährlichen Ungleichgewichten in der Finanzindustrie gewarnt - aber kaum einer der Volkswirte sei in der Lage gewesen, die einzelnen Punkte zu verbinden, um so das große Bild zu erkennen."Lukács hätte diese epochale Blamage nicht verwundert. Ein bekannter Ausspruch von Karl Marx hatte ihn inspiriert:
"Die herrschenden Gedanken sind immer die Gedanken der Herrschenden."Lukács entwickelte Marxens Theorie weiter. Die Herrschenden sind im Kapitalismus die Kapitalisten, beziehungsweise das Bürgertum. Sie sind an der Sicherung ihrer Herrschaft und der Ausbeutung der Lohnarbeiter interessiert.
Aber die Kapitalisten konkurrieren untereinander auf Gedeih und Verderb um Profit. Lukács schloss daraus, dass sie "die kapitalistische Entwicklung stets vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten" betrachten, der von kurzsichtigem Profitstreben geprägt ist. Kein Wunder also, dass die heutigen bürgerlichen Ökonomen die Weltwirtschaftskrise nicht vorausgesehen haben und auch im Nachhinein nicht verstehen - von ihrem Klassenstandpunkt aus sind sie schlicht nicht dazu in der Lage, "das große Bild" zu erkennen.
Die Kritik der herrschenden Ideen ist zentral für Lukács. Als Revolutionär in Ungarn hatte er im Jahr 1919 miterlebt, wie die rechten Sozialdemokraten (ähnlich wie in Deutschland) die bürgerliche Ordnung stützten. Deshalb konnte sich die sozialistische Räterepublik nicht durchsetzen. Doch in Geschichte und Klassenbewusstsein geht es um mehr, als nur "Verrat!" zu schreien.
Lukács argumentiert, dass die Basis der Sozialdemokratie im Bewusstsein der Menschen zu finden sei. Die Stärke der Sozialdemokratie rührt daher, dass zentrale Elemente ihrer Politik Teils des Massenbewusstseins sind. Die Fixierung auf das Parlament und die Bereitschaft der meisten Menschen, politische Entscheidungen ihren parlamentarischen Stellvertretern zu überlassen, gehören unter kapitalistischen Bedingungen zum "gesunden Menschenverstand". Lukács stellt fest, dass das Verbleiben der Menschen "bei ihrem unklaren Klassenbewusstsein eine unumgängliche Voraussetzung des Bourgeoisregimes" ist. Wie aber kann die Macht der herrschenden Ideen aufgebrochen werden?
Selbstemanzipation der Arbeiterklasse
Hier setzt Lukács auf die Selbstemanzipation der Arbeiterklasse. Deswegen hatte sein Buch großen Einfluss auf die "Neue Linke" von 1968. Denn deren Revolte richtete sich genauso wie Lukács gegen die fatalistische Interpretation des Marxismus bei Sozialdemokraten und Stalinisten, wonach die Entwicklung des Kapitalismus quasi unvermeidlich und ohne revolutionäre Aktion der Massen zu einer besseren "sozialistischen" Gesellschaft führe. Im kapitalistischen Alltag gäbe es überhaupt keine Garantie für eine Entwicklung von Klassenbewusstsein und das Ausbrechen der Revolution, warnt hingegen Lukács.
Darum ist für ihn die Parteiorganisation von zentraler Bedeutung. An diesem Punkt argumentiert Lukács im Buch jedoch teilweise schwach, denn in seiner Parteitheorie kam er dem späteren stalinistischen Slogan "Die Partei hat immer Recht" gefährlich nahe. Er identifizierte nämlich die kommunistische Partei mit dem sicheren Garanten der Revolution. Jedoch revidierte er diesen Standpunkt schon bald und wehrte sich jahrzehntelang gegen eine Neuauflage seines Buches.
Lukács und Lenins Parteitheorie
Die Lektüre der Schriften Lenins veranlasste Lukács zu einer weit reichenden Selbstkritik. Er schrieb später, dass Lenin durch seine materialistische Analyse der Realität zu einer reifen Parteitheorie gekommen sei, während in Lukács eigener, von idealistischem Wunschdenken geprägten Theorie unklar geblieben sei, wie die Partei "das große Bild" der Strategie für die Revolution erkennen soll.
Die revolutionäre Partei ist auch bei Lenin die wichtigste Organisation, um die Verwirrung und Zersplitterung der Arbeiterklasse zu überwinden. In ihr kommen die Revolutionäre zusammen, um theoretische Reife und effektives Handeln der radikalsten und entschlossensten Arbeiterinnen und Arbeiter zu erreichen. Aber für Lenin, wie für den an Lenins Denken geschulten Georg Lukács ab 1924, war das keine Selbstverständlichkeit, sondern das Resultat von harten politischen und ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung und speziell auch innerhalb der Partei selbst.
Erst in diesen Auseinandersetzungen entwickelt sich ein Verständnis der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen und erst so kann sich ein differenzierter Standpunkt im Interesse der Mehrheit der Menschen herausbilden. Auf diesem Weg wird die Partei zu der Organisation, die entschieden und fähig ist, eine erfolgreiche Revolution zu beginnen.
Spannend ist, dass Lukács Lenins Auffassung auch dann noch verteidigte, als er im ungarischen Volksaufstand des Jahres 1956 auf Seiten der Arbeiterschaft gegen den Stalinismus aufbegehrte. Das zeigt auch den Unterschied zwischen Leninscher und Stalinscher Parteitheorie. Die erste ist radikaldemokratisch und baut auf dem proletarischen Standpunkt auf. Letztere ist die Theorie einer bürokratischen herrschenden Klasse, die die Selbstemanzipation der Arbeiterklasse mit allen Mitteln verhindert hat.
Lukács ist trotz seiner idealistischen Tendenzen zu Recht ein Klassiker der marxistischen Ideologiekritik und gerade angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise immer noch aktuell.
Der Artikel ist in leicht veränderter Form zuerst bei marx21(01/2013) erschienen.
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