Freitag, 31. Januar 2014

Maeckes

Teil 6 der Serie über Deutschrap mit Anspruch. Diesmal über den Stuttgarter Rapper Maeckes, der schon im Zusammenhang mit Tua als Mitglied von Die Orsons erwähnt wurde.


Maeckes, www.splash-mag.de

Rap mit höheren Ansprüchen


Es geht Maeckes, wie allen Rappern mit höheren Ansprüchen, nicht vor allem um Geld durch Selbstdarstellung wie etwa Bushido oder Eko... Das findet man allzu oft im Rap von heute, der genau genommen kein Rap mehr ist, weil er seine Ursprünge verraten hat für den Absatz auf dem Markt. Maeckes grenzt sich intuitiv und sicher auch bewusst von diesem oft schwachen, weil zur reinen Ware gewordenen Rap ab. Er besinnt sich auf die Wurzeln des Hip-Hop. Talent, Leidenschaftlichkeit und die Rückbesinnung auf echten Rap sind das Geheimnis der Mucke von Maeckes.


Maeckes haut dich weg. Er haut dir den Schädel weg. Nicht körperlich, aber geistig, emotional, transzendental. Geistig haut er dich weg, weil er zu den klügsten und humorvollsten Hip-Hop-Musikern im Staate gehören dürfte. Emotional haut er dich weg, weil er in seiner Kunst Gefühle besser transportieren und wieder eliminieren kann als die meisten gefühlsduseligen Kunstprodukte, die man in der Jetztzeit so findet. Transzendental haut er dich weg, weil er stets nach den Bedingungen der Möglichkeit der Dinge fragt und die Bedingungen der Jetztzeit hinterfragt. Zu kompliziert? Kein Problem, denn Maeckes ist trotz seiner gedanklichen Höhenflüge echt bodenständig.

Maeckes ähnelt nicht nur vom Aussehen her Eminem. Abgesehen davon, dass er mit "White Trash" eine witzige Hommage an Eminem ausgedrückt hat (ob bewusst oder unbewusst), hat er auch ein technisches Repertoire, dass stark an den Slim Shady erinnert. Er unterbricht sich selbst, wechselt plötzlich Stimmton und -ausdruck, springt von bitterem Ernst zu Selbstironie, nutzt alle erdenklichen Geräusche und Rhythmen, um seinen Anspruch umzusetzen, gute Musik zu machen. Und es gelingt ihm fast immer.

Melodramatischer und gefühlsduseliger Rap?


Man muss verstehen, dass die Musik von Maeckes zwischen völlig gefühlloser Depression und total ausuferndem Schwall von Gefühlen schwankt, um die Höhen und Tiefen der menschlichen Situation darzustellen. Maeckes ist mit Sicherheit einer der emotionalsten und empfindsamsten Rapper im Lande. Das wird an einigen seiner Tracks sehr deutlich.

"Ehrlichkeit" ist einer der besten Tracks von Maeckes. Er zeigt hier bereits einen Großteil seines technischen und inhaltlichen Repertoires. Auch könnte man sich an "Es regnet" von Tua erinnern. Der Beat ist eigentlich kein Beat, es ist eher ein Dahinplätschern der Hintergrundmusik. Man muss an einen bewölkten, regnerischen Tag denken. Es ist die perfekte musikalische Unterlegung einer suizidalen Stimmung, die man allein gelassen im eigenen Zimmer beweint. Tiefste Melancholie, schmerzende Einsamkeit, Isolation vom Anderen - darum geht es hier, wenn Maeckes im Jammertal verschwindet:

Mit Ehrlichkeit kommt man nicht weit, ich weiß
Doch ohne Ehrlichkeit kommt man nicht nah, ich sah
Schon soviele kommen, soviele gehen
Oftmals ging auch ich, ohne wiederzukommen, doch
Mit Ehrlichkeit kommt man nicht weit, ich weiß
Doch ohne Ehrlichkeit kommt man nicht nah, ich war
Schon so oft kurz davor, so oft schon weit davon entfernt
Doch auch wenn Ehrlichkeit befreit
Ich hab meistens nichts gelernt!

Im selben Track thematisiert Maeckes den Sexismus und die Unehrlichkeit im Rap. Geht es noch tiefsinniger und selbstkritischer? Eher nicht. Maeckes bietet also den ehrlichsten Rap an. Aber wer ist ehrlich genug, um zu gestehen, dass er oder sie zu langweilig ist, um Maeckes zu verstehen oder um zu gestehen, dass er oder sie Maeckes' Emotionalität echt gut findet?

Immerhin war Ehrlichkeit schon immer nicht einfach. Wer ehrlich ist, macht sich angreifbar. Wer ehrlich ist, öffnet sein Herz. Wer ehrlich ist, hält dem Menschen-Wolf seinen Hals ungeschützt hin. Und seit Thomas Hobbes (und den unzähligen Kriegen, den Weltkriegen, Völkermördereien und heuchlerischen Verunglimpfungen der modernen Helden durch die moderne Technokratie nach ihm) wissen wir, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Die Frage ist, ob es ein tollwütiger und hungriger Werwolf ist oder ein friedliches Rudeltier, das der Wolf eigentlich ist.

Auch die heutigen Menschen können tollwütige Bestien oder friedliebende Rudeltiere sein. Sie können Kriegstreiber, Volksverhetzer, Menschenmörder, Rufmörder oder einfach dumme Bullensöhne sein. Andererseits können sie auch Pazifisten, Internationalisten, Helden, Gesellschaftskritiker oder einfach intelligente Individuen sein. Manchmal mischen sich diese Kategorien auf merkwürdige und unverständliche Weise. Das ist auch das Thema eines weiteren Tracks von Maeckes.

"Versteh sie einfach nicht" thematisiert genau diese Komplexität und Banalität der Menschen:

Ich versteh diese Menschen nicht, wie sie herumrennenmit abgebrochenen Antennen,in den Kellern ihrer Selbst, sich nicht anerkennend,
aber sich erkennend an den Tränen und dem verklemmten LächelnIch versteh diese Menschen nicht, sie erwarben ihr Leben auf Kredit,doch sie bezahlen nicht ab,
Sie zahlen es zurück, Stück für Stück suchen sie wahres Glück,und wenn sie es haben schmeißen sie es weg.Ich versteh diese Menschen nicht, sie geben Liebe, um Liebe zu kriegen, führen Kriege um Kriege zu führen,reden, damit sie sich beim Reden zuhören können, sie tun alles nur für sichIch versteh diese Menschen nicht, sie funktionieren weder in Massen noch allein,weder getrennt noch vereint,sie funktionieren nicht, und wenn, nur um sich fortzupflanzen,um sich zu morden und zu hassen

Klar kann das auf manche Menschen gefühlsduselig, melodramatisch etc. wirken. Aber es gab ja auch Menschen, die Hitler nicht bekämpft haben, Menschen, die heute die Nazis nicht blockieren, und Menschen, die den Kampf für Menschenrechte in Palästina für "antisemitisch" halten. Menschen sind wirklich merkwürdige Wesen, und sehr kompliziert. Aber kann man diese Kompliziertheit je überwinden? Ist es nicht toll, dass Menschen ständig in scheinbar sinnlose Konflikte geraten? Ist das nicht zutiefst menschlich? Terminators würden sich sicher nicht mit Skynet streiten.

Wie bei so vielen guten Rappern wird bei Maeckes die ewige Frage der Liebesfähigkeit thematisiert und hinterfragt, wenn er feststellt:

Wir wollen leben, uns nicht richtig benehmen
Und als riesengroßer Arsch
Sitzt man sehr bequem
Und als riesengroßes Arschloch
Kriegt man viele Frauen
Nur man kriegt hier nicht viel Raum
Mit nem riesengroßen.. Herz!
Nicht, dass ich eins hab
Und wenn, dann nicht hinter 'nem Brustkorb -
Hinter 'nem Tresor schlägt es in Sicherheit
Und irgendwo steht auch der Zugangscode zu dem Herz
[Zugangscode? blabla was rede ich da?]
Klingt eigentlich wie ein guter Scherz
In Zeiten, in denen der Gute nervt
Der Badguy die Bitches kriegt

"Kürzester Weg zum Glück" ist eine ebenso depressive wie ironische Ode an das Liebesunglück:

Ich reich dir vollkommen aus, meint sie
Ich mein, zieh dich nicht vollkommen aus vor mir
Wir lieben uns so lange ich es rauszögern kann
Ich bin halt auch nur ein Mann
Ich zieh noch zwei, drei Mal
Doch drücke sie aus
Auf meinem Arm
Um wieder zu spüren
Ein paar Mauern ohne Dach machen kein Haus
Wohin wird uns dieser Weg wohl führen?

Natürlich hat dieser talentierte Wahrsager im wahrsten Sinne noch mehr zu bieten, wenn es um Emotion und Menschlichkeit geht.
In "Würgegriff des Glücks" beweist er noch mehr, welch unschlagbares Talent Maeckes in seinem Rap verwirklicht. Es lohnt sich, den ganzen Track in Dauerschleife so schnell wie möglich und so lange wie möglich zu hören:

Die Welt ist nicht am Arsch?
Dann erklär mal einem Kleinkind, wer Adolf Hitler war
"Papa, was hat der gemacht?" - "Nichts."
Siehst du, wie wir uns ziemlich echt verstellt haben
Schuld daran ist das Wort während der Liebesnächte der Eltern
Entscheidungen treffen sich kurz im Smalltalk
und lästern über nicht getroffene Entscheidungen ab
Gespräche finden wie die in Pornos statt
Lebenslanger Talkshowgast, Knast
Ich sitze vorbildhaft
Satellitenbilder liefern ein lückenloses Bild von mir
Wie ich nie genug von den Appetitzüglern kriegen kann
Dann erzähl mir nichts von Liebe!
Manche Eltern sind nur nicht geschieden, wegen batteriebetriebenen Liebhabern
Du willst wissen, wie ich mich fühle? Ich will wissen, wie ich mich fülle - diese Leere. In mir ist absolute Stille
Wir sind atommüllsicher halt kleinbürgerlich beschützt
durch den Würgegriff des Glücks, okay!



"Alles ist vorbei" ist ein großes Jammerlied über den Tod "Gottes" bzw. aller Werte und jeglichen Sinns. "Rap als Bedrohung der Oberen: Tot", "Aus der Freude am Leid wurden Freunde zum Feind", "Alle wollen sie selbst sein, selbst gleich - gleich selbst gleich selbst, gleich gestellt - gestellt gleich -alles ist vorbei", "Deutschrap ist ein Herrschaftswort", "Ich versteh mich nicht mal selbst, wie soll ich dich verstehen, wenn du dich weiterhin verstellst, und ich mich weiterhin verstelle, stell dir vor: es wird alles vorbeigehen. Alles ist vorbei."

Isolation und Gesellschaft bei Maeckes


"Isolationierung" ist erst sehr schwer zu verstehen, aber wenn man das Ding öfter gehört hat und ein wenig Vernunft hat, wird man Maeckes als ganz großen Künstler betrachten:

Ich hab' keine Ansprüche an mich, außer Ehrlichkeit,ehrlich gesagt, dieses Lied ist auch für dich,keine Option scheint plausibel, es schrei'n so viele,doch es wird weder den Geist beflügeln noch denkt jeder Zweiteüber das, was gesagt wird, nach - verbale Fata Morgana, bla bla bla.."Der zeigt Gefühle! Alter, Pussyshit, der spielt Moralapostel, Alter, der denkt er lässt uns von der Wahrheit kosten, Alter!"Nein, ich denk' nur: mir geht's besser wenn ich's aussprech',aber hab' vergessen: hier gilt das Faustrecht!aber Ficker, am meisten kotzt mich an, wie ich mir Gedanken mach',über das, was ihr nach diesem Track zu Anderen sagt,denn diese Gefangenschaft tötet meine Liebe zur Musik,es liegt also doch nur an mir, dem MC, der sich wieder verbiegt,dem Mensch, der verzweifelt im Mittelpunkt steht und dem Freund,der sich aus Egomanie im Nihilismus verzieht

Egomanie und Nihilismus! Das sind auch die Themen in "Von Logen herab". Menschen kümmern sich offensichtlich nicht an Werte, die eigentlich noch gepredigt und vorgeheuchelt werden. Die geheuchelte Menschenliebe, Menschenfreundlichkeit und überhaupt Menschlichkeit verbergen sich hinter dem Wesen der Dinge, das nichts anderes als egomaner Nihilismus ist:

Rehaugen blicken mich an, ein Mädchen sagt die Welt wird untergehen
Schuld ist nur unser Ego daran, ich seh' sie an.
Sie ist vielleicht zehn Jahre alt, sie dreht sich dann zurück zur Bar,
Sie winkt kurz nach dem Barkeeper,
Der kommt sofort, schenkt ihr pures Glück ins Glas,
Sie trinkt rasch - leer - tschüss das war's!

Interessant wär's zu spekulieren darüber, ob der Barkeeper normalerweise bestreiten würde, dass er viel zu jungen Menschen die schlechten Angewohnheiten der "Erwachsenen" antut oder ob er sich sogar um den Schein der Anständigkeit 'nen Kehricht machen würde. Ihr könnt ja darüber diskutieren. Ich mache weiter mit dem Text, der verdammt kulturkritisch ist:

"Nur die allerschönsten kommen in den Himmel" sagt ein Mädchen,
das Stewardessen anbetet. Glenn Goulds Goldberg-Variationen sind ihrer Meinung nach der Soundtrack für ein verschwendetes Leben. Sie hört keine Musik, doch sie war mal in 'nem Wald - ein Tag, den sie bis heut' bereut, denn sie fand einen verhungerten Jäger auf seinem Hochsitz,
hätte sie ihr Handy dabei gehabt, wären es 1 Million Klicks!



"Jetztzeit 2" von Maeckes und Plan B ist für Rap Gesellschaftskritik in schönster Verpackung:

Ich öffne die Augen und kann ihnen plötzlich nicht trauen,
obwohl ich seh' was ich sonst seh'.
Öffentlicher Raum, überwacht vom öffentlichen Auge,
überdacht vom unerlöschlichen Glauben an die Macht.
Blablabla jajaja ich seh das Elend der Kriege und immer weniger Liebe
und ich steh nur vorm Spiegel und ich rede zu viel
und ich gebe wohl zu wenig Ficks auf Regeln wie Benehmen und Stil.
Der durchschlagende Erfolg des sich durchschlagenden Volks steht nur noch in Geschichtsbüchern auf zu Papier verarbeitetem Holz
und das fehlt uns, wenn wir in der Sonne stehen
und bei der kleinsten Bewegung eingehen.

"Probleme weglächeln" hat auch einige verdammt kluge Sätze, aber schon allein der Refrain haut einen weg:

Man sieht es ihnen nicht an
Du läufst an ihnen vorbei
Ihr trefft euch auf ein paar Bier
Doch du siehst nicht in sie hinein
Sie tragen Ängste in sich
Lächeln Probleme weg
Wir könn' uns täglich treffen vieles wird von uns nie entdeckt
Du denkst, dass du viele Leute wirklich gut kennst
Doch sind sie dir so fremd

"Heimweg.avi" ist nicht nur ein toller Track, sondern wird auch mit tollem Video geliefert. "Verfangen in einem Weg. Gedanken filme ich mich selbst mit meinem Handy. Leicht verwackelt auf meinem Heimweg wankend, betrunken weiss ich wo daheim ist. Ist das das Ende?"



Kinder als Motiv bei Maeckes 


Kinder bzw. "das Kind" im verdorbenen Menschen ist ein immer wiederkehrendes Motiv bei Maeckes. Er ist bei weitem nicht der einzige tiefsinnige Denker, der die Kindheit dem verdorbenen "Erwachsen" entgegenstellt. Schon der französische radikale Philosoph Rousseau machte kluge Sätze darüber. Aber auch rappende Philosophen wie Cr7z oder Tua kennen dieses Motiv. Maeckes hat sogar ein Soloalbum "Kids" genannt. 

"Verglast & Zugemauert" soll eine Hommage an den verstorbenen Falco sein. Es thematisiert einerseits die urbane Isolation, wie oben schon erwähnt, und andererseits den Gegensatz von Kindheit und "Erwachsen" ganz wunderbar, wenn er seinen Refrain einleitet mit der Frage: "wo ist das Kinderlied?":

Sind wir nicht einfach Kinder Mit einem verkrüppelten Geist,Der uns schlicht daran hindert,Einfach noch Kinder zu sein?

"Betrunkene Kinder" hat mehrere Ebenen und lässt daher viele Interpretationen zu. Die Hook ist bereits der Hammer:

Man sagt: ein Betrunkener sagt die Wahrheit...Und ein Kind und ein Kind [und ein Kind!] Also kidnappe ich ein Kind Und mix ihm 'nen Drink, mix ihm 'nen Drink [mix ihm 'nen Drink]So stark, dass es grade noch stehen kann [stehen kann!]Und mir die Wahrheit erzählen kann. [erzählen kann!] Näher werden wir nicht kommen.Näher werden wir nicht kommen.

Für die Wahrheitssuche wird also ein Kind, das Symbol der Wahrheit bei Maeckes, betrunken gemacht, damit es zum Betrunkenen wird, der ebenfalls für die Wahrheit steht. Am Ende sollte die absolute Wahrheit herauskommen. Was kommt heraus? Das dürft ihr selbst herausfinden. Maeckes jedenfalls leitet die Story schön tragikomisch ein:

Kurzer Blick nach hinten, wo das Kind sitzt, auf dem Rücksitz,
durch den Lolly vorübergehend glücklich.
Ich halte an der nächstbesten Bar an.
"Was willst du trinken?" frage ich das Kind und den Barmann.
Das Kind meint "Ich will Milch."
Ich sag "Ich will die Wahrheit! - es gibt keine Milch.
Zumindest nicht pur, doch heut' ist Weihnachten,
kennst du denn BigLebowski?
Wir trinken White Russian, Dude!"

In "Jetzt" (mit den Orsons) werden ebenfalls die Kinder von heute und morgen besungen, aber durchaus aus optimistischer Perspektive. Sobald man aus der Depression heraus will, kann man ruhig "Jetzt" in Dauerschleife hören, weil es ein Chor des Optimismus ist. Der geradezu buddhistisch wirkende Refrain besagt:

Sollten unsre Kinder irgendwann mal meckern „Früher war alles viel besser!“
Dann mein' sie damit jetzt, jetzt, jetzt, jetzt, jetzt, jetzt, jetzt, jetzt

Maeckes liefert neben dem unschlagbaren Meisterstück von Tua einen ebenso unwahrscheinlich genialen Part: 

Wir sitzen in Schlafsäcken
Auf Autodächern
Schau'n in die Sterne
Leer'n unsern kopfinternen Papierkorb aus
Erklär'n uns Universen als Riesengloryholes
Scherzen über Gott
Und ob Boris Becker auf Twitter wohl mehr Follower hat
Ach, die Erde ist so flach, wir lachen
Weil es kaum was besseres gibt
Außer vielleicht ficken
Außer vielleicht - da gibt es nichts
Jeder von uns ist nur ein Pixel
Und nur zusammen gibt’s 'n Bild
Wir verlangen doch nur nach fünf Minuten Himmel
Ich will doch nur, dass wir uns erinnern
„Heut“ wird das „früher“ sein für unsre Kinder


Sarkasmus und Ironie bei Maeckes


Wie auch Disarstar, JAW, Sookee und Amewu ist auch Maeckes ein überaus ironischer und sarkastischer Kritiker der heutigen bürgerlichen Gesellschaft. Sie sind Kritiker der Unehrlichkeit, Heuchelei, Doppelmoral und banalen Boshaftigkeit eines Bürgertums, das in einen stinkenden Sumpf der Dekadenz versunken ist. Da kann man nicht anders als sarkastisch und ironisch sein, wenn man kein Apologet dieses irdischen Jammertals, dieser Hölle auf Erden ist.

"Jetztzzeit" ist bitterböse Kapitalismus- und Konsumkritik:

Man kann alles haben, was man will
Weiß aber nicht mehr, was man eigentlich will.
Also schweigt man nur still.
Der eiserne Willen wird eingeschmolzen durch nen heisseren Film.
Scheinheilig: Man verkauft 'nem Blinden einfach 2 Brillen.
Jetztzeit: Man hört zur Entspannung Maschinengeratter,
Umgeben von nem Leben, fast so echt wie in Big Brother.
Stop: wer sich bei meinen Ansichten gar wundert:
Willkommen im 21. Jahrhundert!
Ich beschreib wahrscheinlich nur meine Utopien,
Doch alle werden als Orginal geboren, und viele sterben als Kopien.

"Niemandsland" ist ein wunderbares Team-Work von Maeckes mit Tua. Beide haben wieder ganz hervorragende Arbeit geleistet. Maeckes' Part ist so witzig und ironisch, dass man laut lachen müsste, wenn das Thema nicht so traurig wäre:

Willkommen im Land, in dem Milch und Honig fließen
Doch wird die Milch schnell schlecht und der Honig klebt fest
Und das Mondlicht hängt im Netz der Atomenergie
Kolibris sieht man Koka zieh'n, um hochzufliegen
Während du der Illusion erliegst
Alle deine Angstzustände werden zwangsverpfändet
Hast du Angst, du könntest ohne sie kollabier'n?
Wenn dir nichts fehlt, scheint es, als ob du alles hast
Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht
Ich lieg' wach, YouTube-Videos
Bring' mich durch die Nacht, jede Erinnerung zerplatzt
Mit jedem Bissen wird man hungriger, unsicher
Wer man is', weil um dich herum sind alle Wunderkinder
Ungefiltert droht dich der Alltag zu vergiften
Unsere Existenzen sind reine Unterhaltungsmechanismen
Denn ich werd' nie erkannt, hier wurde Liebe verbannt
Dafür gibt's sonst alles hier im Niemandsland, na vielen Dank

"Pisse aus Weingläsern" ist purer Sarkasmus und eine absolut geniale Kollaboration mit JAW. Die Parts beider Künstler sind fehlerfrei, Rap in höchster Perfektion, was Form und Inhalt angeht, soweit das hier zumindest beurteilt werden kann:

Ihr trinkt Pisse aus Weingläsern,
Schaufelt Scheiße aus feinstem Meißner-Porzellan in euch hinein.
Jeder von euch ein einziger Design-Fehler.
Ihr seid Krankheiten, die jedes mal vorbeigeh'n, wenn sie Leid seh'n,
Ihr scheiß Täter! Keiner macht 'nen Fehler.
Ihr hängt Wunderbäume über frisch geschaufelte Massengräber
Tagsüber wachsam vor den Fernsehgeräten
Könnt ihr nachts nich' schlafen aus Angst vor Schläfern
Eure Philharmonien spielen Klingelton-Sinfonien auf Mülldeponien
Ihr esst Früchte von Bäumen, an denen Menschen hingen.
Kein Produkt dieser Welt kann uns besänftigen
Aus Angst vor immer mehr tickenden Uhren
Macht ihr Last-Minute-Urlaub in Militärdiktaturen
Per Billigflug, wer bin ich nur? Lästiger Spam.
Da sind keine Gesichter mehr, wenn wir die Masken abnehmen.



Beide Rapper, JAW und Maeckes, beweisen hier erstens Mut zur Ehrlichkeit und zweitens große Kunst. Die erbärmliche Heuchelei der modernen Gesellschaft mit all ihren Täuschungen und Selbsttäuschungen wird entlarvt durch zwei Menschen, die sich wie "Verrückte" aufspielen und offenbar nicht "normal" und "nicht ganz richtig im Kopf" sind. 

Aber wer hat denn wissenschaftlich bewiesen, dass "Verrückte" nicht aus vernünftigen Gründen "verrückt" geworden sind? Seit wann ist der "normale" Bürger ein guter Mensch? Und wie "richtig" liegen Menschen, die zu 70% die Forderungen linker Parteien voll und ganz teilen, aber dann doch immer wieder die "konservativen" und "liberalen" Parteien wählen? Wer sind hier die Idioten und wer die Vernünftigen? Zeigt mir Studien! Los! Ich warte auf halbwegs objektive Nachweise, solange ich oder ihr nicht beerdigt seid. Bin da sehr geduldig. Maeckes muckt mit Mucke auf. Das ist mein Fazit, ihr scheiß Täter. ;-)


Dienstag, 28. Januar 2014

Majakowski als Dichter der Revolution, Teil 2

Majakowski als Dichter der Revolution, Teil 2. Vierter Teil der Serie zu Marxismus und Kunst.

Nachdem im ersten Teil der Serie die Ästhetik von Lukács dargestellt worden war, wurde die Ästhetik Majakowskis angerissen. Im folgenden Artikel wird sie nun zerrissen. Denn Majakowskis Ästhetik war lieb gemeint und sein Schaffen ist bis heute und wohl für alle Zeit bemerkenswert. Aber Majakowskis Kunst musste aufgrund seiner sozialen Umstände an ihre Grenzen stoßen, sodass sie bei weitem nicht realisieren konnte, was seine Ästhetik erfordert hatte. Wie seine Persönlichkeit insgesamt wurde seine Kunst von den sozialen Widersprüchen seiner Zeit in Fetzen gerissen. Genau wie Majakowski unter solchen erbärmlichen Umständen - wie der Stalinismus sie repräsentierte - den bemerkenswerten Freitod wählte, so wählte er den bedauerlichen Tod seines künstlerischen Projekts.

"Womöglich bin ich der letzte Dichter"
- Handschrift Majakowskis


Eine historisch-materialistische Einordnung der Kunst Majakowskis


Majakowski und die sowjetische Filmexplosion


Majakowski wird in der Literaturwissenschaft u.a. als stärkstes literarisch-bildnerisches Multitalent unter den russischen Futuristen und somit als Aushängeschild der "Annäherung zwischen literarischer und und bildnerischer Praxis" angesehen, wie Ulbrecht anmerkt. Tatsächlich war er sowohl Literat als auch Maler. Daneben war er auch Regisseur, Schauspieler, Grafiker und Modellbauer. Ein Universalgenie war er dennoch nicht. Dafür mangelte es ihm an philosophischen und vor allem sprachlichen Kenntnissen. Er beherrschte wohl nur das Russische. Trotz dessen konnte er den Geist seiner Zeit ganz vorzüglich herausarbeiten. Denn das Russische reichte dafür allemal.

Majakowskis früheste, explizit bolschewistische Arbeiten sind wohl Ende 1917/Anfang 1918 entstanden. Zu dieser Zeit war er Teil der neuen russischen Kino-Bewegung. Georges Sadoul, der französische Filmhistoriker, schrieb:

"Die Entwicklung des russischen Filmwesens hatte nach 1908 begonnen. In der Vorkriegsperiode wurden die meisten Themen der Literatur und der nationalen Geschichte entnommen. Der Krieg, der der Eroberung des russischen Marktes durch ausländische Filme ein Ende machte, ließ die Produktion anwachsen und schuf große Stars wie Iwan Mosjukin. Das künstlerische Niveau hob sich innerhalb der Grenzen des Geschäftsfilms ständig. Man entwickelte eine übertriebene Sorgfalt der Form und einen sich deutlich abzeichnenden Geschmack für mondäne und Kriminalfilme, für pessimistische, düstere und dekadente Stoffe."

Das russische Kino war bis zur Oktoberrevolution dennoch weit vom bereits hohen Niveau im Ausland entfernt. Aber die Oktoberrevolution brachte eine Wende. Es kam in Russland zu einer "sowjetischen Explosion" der Kreativität in der Filmkunst, wie es Sadoul formulierte. "Der sowjetische Film wurde am 27. August 1919 geobren, am Tag, da Lenin das Dekret zur Verstaatlichung des alten zaristischen Filmwesens unterschrieb." Anders als heutige Ideologen der Privatisierung sich vielleicht noch entblöden zu behaupten, ist Verstaatlichung nicht notwendiger Weise schlecht für Kreativität, Innovation und künstlerisches Schaffen.

Die Kunst der frühen Sowjetunion bewies, wie großartig die Revolution auf sämtliche Künste in und außerhalb Russlands wirkte. Die neuen Techniken des Films und der Montagetechnik konnten in der neuen Gesellschaft erst wirklich zur Blüte finden. Lenin und die anderen Bolschewisten erkannten die große Bedeutung des Films und förderten ihn ganz besonders, was sich für das russische Kino phänomenal auswirkte. Obwohl gerade der Film zu jener Zeit die größten Hindernisse überwinden musste. Sadoul schreibt:

"Die Anfänge des sowjetischen Films stießen auf beträchliche materielle Schwierigkeiten. Der Bürgerkrieg beraubte die sowjetischen Filmschaffenden der Eliktrizität, des Rohfilms und sogar ausreichender Verpflegung. [...] 1922, als der Frieden hergestellt war, begann der Wiederaufbau der Wirtschaft. [...] Die Ateliers wurden wieder geöffnet. Die Techniker und Künstler der Vorkriegszeit fanden sich wieder zusammen. Es entstand der gigantische Film 'Aelita' von Protasanow, in merkwürdigen Dekorationen im 'konstruktivistischen' Stil gedreht. Doch die Zukunft des sowjetischen Films lag bei den Avantgarde-Gruppen, die mit Unterstützung der Regierung von ein paar jungen Leuten gegründet wurden".

Ganz anders als die jämmerlichen antikommunistischen Ideologen heutzutage behaupten, ist unter dem frühen Bolschewismus die Kunstfreiheit und Ausdrucksfreiheit keineswegs verschwunden. Umgekehrt. Sie nahm in erheblichem Maße zu, obwohl viele Künstler dem Bürgerkrieg und der Umgestaltung Russlands "entflohen" sind. Andere Künstler blieben. Lenin jedenfalls schätzte den Film so hoch ein, dass er ausrufen konnte: "Der Film ist für uns die wichtigste aller Künste". Der Film wurde also auf aller höchste Ebene der politischen Avantgarde auf die aller höchste Ebene der künstlerischen Avantgarde erhoben.

"Das Experementierlaboratorium", "Die Fabrik des exzentrischen Schauspielers" und die "Kinonarren" waren die wichtigsten Gruppen der Kino-Avantgarde. Die "Kino-Prawda", ein ergänzendes Blatt zur "Prawda" sollte "alles aus dem Kino ausschalten, das nicht 'dem Leben entnommen war'."

"Die 23 Folgen von 'Kino-Prawda' führten die 'Kinoki' zu einer noch extremistischeren Konzeption, nämlich der des 'Kino-Glas' ('Kino-Auge'). In ihren Filmen und ihren in futuristischem Stil verfaßten Manifesten verkündeten sie, daß der Film auf den Schauspieler, das Kostüm, die Schminke, das Atelier, die Dekoration, die Beleuchtung - kurz auf die ganze Inszenierung verzichten und sich der Kamera unterwerfen solle, einem Auge, das noch objektiver sei als das menschliche Auge. Die Empfindungslosigkeit der Maschine war ihnen der beste Garant der Wahrheit. Da die Aufnahmen vor allem darauf abzielen sollten, das Leben improvisiert zu packen, bestand die Kunst fast völlig in der Montage."

Die russische Montagekunst wurde bald weltbekannt und die übertriebenen Theorien des "Kino-Auges" und der empfindungslosen Darstellung...

"lenkten die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Montage, auf die Notwendigkeit, den Menschen in seinem gesellschaftlichen Milieu und in seinem Leben zu überraschen, sie trugen zur Erschließung neuer Wege bei. Aber in ihren Werken rannten sie gegen das Unmögliche an."

Die futuristischen Ansprüche scheiterten letztlich, da sie viel zu viel erwarteten. Mehr Sinn für Realismus hätte ihnen nicht geschadet. Aber die ungestüme Art der Filmschaffenden, zu denen auch Majakowski zählte, schuf neue Perspektiven und Kunstprojekte, die den russischen Künstlern Respekt und Beschäftigung brachten. In einem Brief gestand Majakowski seiner Geliebten Lilja Brik, mit der er sich, nebenbei bemerkt, zusammen mit ihrem Ehemann Ossip Brik in einer absonderlichen Dreiecksbeziehung befunden hat:

"Dinge sind in bemerkenswertem Maße abstoßend. Ich bin gelangweilt. Ich bin krank. Meine einzige Unterhaltung (und ich wünschte, du könntest es sehen; es würde dich furchtbar amüsieren) ist, dass ich im 'Kino' spiele."

Majakowski war offenbar gefangen im alexithymischen Auf und Ab, das für große Geister und Künstler so typisch ist. Selbst er, der größte und stärkste aller futuristischen Sprachkünstler, konnte seine Emotionen nicht angemessen in Worte fassen. Kaum eine Menschenseele konnte ihn verstehen. Seine Konflikte mit der Welt hatten sicher auch mit seiner neuen Auffassung von Kunst zu tun. Majakowski

"stellte seine avantgardistische Zeitschrift 'Ljef' dem jungen Theaterregisseur Eisenstein zur Verfügung, der hier die Vorzüge eines neuen Verfahrens, der 'Montage der Kollisionen' pries. [...] Das Wort 'Kollision' wurde von ihm in fast philosophischem Sinn als eine heftige Empfindung aufgefaßt, die dem Zuschauer aufgedrängt wird. Die Montage fügte willkürliche 'Kollisionen' in Raum und Zeit zusammen. So fügte er in Ostrowskis klassische Gesellschaftskomödien Clown- und Akrobatennummern und sogar einen kleinen Film ein: 'Ein gutes Pferd, das niemals strauchelt'. [...] Bald darauf drehte er seinen ersten Film: 'Der Streik', in dem er seine [...] Theorie in die Praxis umsetzte; Bilder vom Massaker der Arbeiter unter dem Zaren wechselten ab mit Aufnahmen abgestochener Tiere aus dem Schlachthaus."

Nach "Der Streik" folgte Eisensteins Großmeisterwerk "Panzerkreuzer Potemkin". Der Film hatte als Helden nur die revolutionäre Masse, nicht aber einzelne Schauspieler oder Charaktere. Sadoul vermerkt:

"Die Einführung der Masse als Held hätte eine gewisse Verwirrung zur Folge haben können. Aber das klare und streng chronologische und historische Drehbuch von Nina Agadschanowa-Schutko schuf zwei klar umrissene Kollektivgestalten: den Panzerkreuzer und die Stadt; das Drama entstand aus ihrem Dialog und ihrer Vereinigung."

In diesem überaus dokumentarischen Propaganda-Film über die russische Revolution kommt die "Montage der Kollisionen" ebenso vorzüglich zur Geltung wie die historische Wahrheit, dass die Revolution ein gewaltiges Menschheitsprojekt war, das von dramatischen Szenen untrennbar ist:

"die Mutter, die die Leiche ihres Sohnes trägt; der Kinderwagen, der allein die Stufen hinunterkollert; ein ausgestochenes, blutiges Auge hinter eisernen Brillen. Die Übertreibungen und das Unmenschliche der Theorien verschwinden unter dem Elan der russischen Revolution und der Aufrichtigkeit Eisensteins, seinem Mitleid, seiner menschlichen Wärme, seinem Zorn. Fast überall außerhalb der UdSSR wurde 'Potemkin' von der Zensur verboten, und überall fanden sich begeisterte Zuschauer im geheimen zusammen. Die Unterdrückung verzehnfachte die explosive Wirkung dieses Meisterwerkes, das jetzt in den Filmarchiven eifersüchtig aufbewahrt wird. Der Film erlangte rasch größere Berühmtheit als irgendein anderer, von den Chaplin-Filmen abgesehen." 

Neben ähnlich aufgemachten Filmen wie "Oktober" gab es auch solche wie "Generallinie", in dem eine Bäuerin zur Schauspielerin gemacht wurde, in dem es kaum Dekoration oder künstlerische Übertreibung gab. Lumière und Wertow gaben Eisenstein das Motto des Films vor:

"Das Leben in seiner Wahrheit, in seiner Nacktheit reproduzieren und seine soziale Tragweite, seinen philosophischen Sinn herausarbeiten."

Majakowski war Teil dieses Filmschaffens. Er schrieb Drehbücher, schauspielerte und beschäftigte sich mit neuen künstlerischen Techniken. Er schrieb die Drehbücher für "Not born for Money", "Закованная фильмой" ("Im Film gefangen" - oder so), "Барышня и хулиган" ("Die Dame und der Hooligan"), in denen er selbst zusammen mit Lilja Brik die Hauptrollen dieser teils ultradramatischen Liebesfilme spielte. Der Hooligan z.B. verliebt sich ganz wie Shakespeares Romeo in eine Frau mit höherem Status, für die er im Kampf tödlich verwundet wird. Die Mutter des Hooligans muss dem Sterbenden seinen letzten Wunsch erfüllen, ihm seine Geliebte bringen, damit sie ihn ein letztes Mal küssen kann. Wir wollen darauf hier nicht näher eingehen. Jedenfalls hat die Montage in Film und Fotographie Majakowskis restliche Kunst geprägt. Darum soll es im Folgenden gehen.

Lilja Brik und Majakowski, 1915


Ultraradikale Dichtung


1918 kam die erste und einzige Ausgabe der Futuristenzeitung heraus, in der Majakowskis Gedichte "Unser Marsch" (Наш марш) und "Frühling" (Весна) erschienen. Dann wurde das Journal "Kunst der Kommune" (Искусство коммуны) zum zentralen Organ der Futuristen. Teils spiegelte das die Anerkennung der Futuristen als offizielle Richtung innerhalb der Sowjetunion wider. Denn das wöchentlich erscheinende Blatt wurde vom Volkskommissariat für Erziehung herausgegeben. Andererseits erhielten die Futuristen nie den Status, den sie haben wollten. 

Die russischen Futuristen wollten ihrem Hochmut entsprechend als DIE proletarische Richtung anerkannt werden. Wurden sie aber nicht, denn die Bolschewisten wollten trotz Verstaatlichung keine monolithische Kunstproduktion. Es galt, die Kunst in alle Richtungen weiterzuentwickeln. Die alten bürgerlichen Richtungen, die Futuristen, Proletkult-Anhänger, sozialistische Realisten und andere sollten nebeneinander existieren. Bronstein (Trotzki) schrieb dazu:

"In der Kunst ist alles erlaubt."
"Wenn die Revolution auch gehalten ist, zur Entwicklung produktiver materieller Kräfte ein sozialistisches Regime nach zentralem Plan aufzurichten, so muß sie doch von Anfang an für das intellektuelle Schaffen ein anarchistisches Regime individueller Freiheit etablieren und sichern."
"Keine Autorität, kein Zwang, nicht die geringste Spur von Befehl!"

Verblüffend, nicht wahr? Trotzki war doch der blutrünstige Kommunist, der die Rote Armee gegründet und einen grausamen Bürgerkrieg gegen die konservativen "Weißen" geführt hatte. Wie konnte er da auf einmal von Anarchismus in der Kunst und Zwanglosigkeit sprechen? Spottet das nicht aller Realität? Nein und nochmals nein.

Die Kommunisten wollten den Bürgerkrieg und die Invasion der Sowjetunion durch 13 verschiedene imperialistische Armeen ebenso wenig wie den Ersten Weltkrieg. Die Imperialisten, der Zar, die "Weißen" und die anderen Feinde der Kommunisten dagegen verheimlichten ihre Blutrünstigkeit nicht im geringsten. Ihre Attacken auf militärischem und ideologischem Gebiet wurden dennoch auf bewundernswerte Weise abgewehrt, durch eben solche Trotzkis und Futuristen, von denen einige in der gefürchteten Tscheka arbeiteten, um "Weiße" aufzuspüren. Dass sich später die Revolution tatsächlich in eine einzige "alte Scheiße" (Marx) unter Stalin verwandelte, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Aber ebenso wenig der radikal-demokratische Charakter der Revolution vor Stalins Aufstieg.

Trotzki und die Futuristen allerdings waren schlicht am Aufbau einer besseren Gesellschaft interessiert. Der selbe Trotzki maßregelte dennoch die Futuristen. Er kritisierte den Hochmut der Futuristen und belehrte sie über die Notwendigkeit einer breiten, auch klassisch-bürgerlichen Bildung der breiten Massen. Einen Kult um proletarische "Eigenbröteleien" lehnte er entschieden ab. Auch den sektiererischen Anspruch der Futuristen, die einzige akzeptable Richtung zu sein, winkte er mit einigen Sätzen elegant ab:

"Aber man muß doch nur ein Minimum an historischem Augenmaß besitzen, um zu begreifen, daß bei unserer gegenwärtigen wirtschaftlichen und kulturellen Armut noch die Gebeine mehrerer Generationen vermodern müssen, bevor die Kunst mit dem Alltag verschmilzt, das heißt, bis zu einem derartigen Aufschwung des Alltags, daß er völlig von der Kunst geformt wird. Ob gut, ob schlecht, aber die 'Staffelei'-Kunst wird noch viele Jahre lang ein Mittel der künstlerischen und gesellschaftlichen Erziehung der Massen bleiben und ihrem ästhetischen Genuß dienen: nicht nur die Malerei, sondern auch die Lyrik, der Roman, die Komödie, die Tragödie, die Bildhauerei und die Symphonie. Wollte man aus lauter Opposition die kontemplative, impressionistische, bourgeoise Kunst der letzten Jahrzehnte die Kunst als Mittel der Darstellung, als anschauliche Erkenntnis ablehnen - es hieße wahrhaft der Klasse, die eine neue Gesellschaft aufbaut, ein Instrument von allergrößter Wichtigkeit aus der Hand schlagen."

Der selbstbewusste Majakowski war natürlich ganz anderer Meinung. In seinem allzu gebieterischen "Befehl an die Armee der Kunst" forderte er seine Künstlerkollegen dazu auf, die "Barrikaden des Herzens und des Verstandes" zu stürmen: "Auf die Straßen, Futuristen, Trommler und Dichter!" "Die Straßen sind unsere Pinsel, die Plätze unsere Paletten." In seinem "Dekret Nr. 1 über die Demokratisierung der Künste" forderte er noch mehr: 

"1. Mit der Vernichtung der Zarenherrschaft wird von heute an auch die Verbannung der Künste in die Paläste, Galerien, Salons, Bibliotheken, Theater und all die anderen Scheunen und Vorratskammern des menschlichen Genius aufgehoben.
 
2. Im Namen der allgemeinen Gleichheit vor der Kultur sei das freie Wort der schöpferischen Persönlichkeit auf die Häuserwände, Zäune, Dächer und Straßen unserer Städte und Dörfer, auf die Verdecke der Automobile, Kutschen und Straßenbahnen und auf die Kleidung jedes Bürgers geschrieben. 
3. Wie leuchtende Regenbögen mögen sich Bilder (Farben) auf den Straßen und Plätzen von Haus zu Haus spannen und das Auge (den Geschmack) der Passanten erfreuen und erziehen.“

Majakowskis futuristische Idee der neuen Gesellschaft war, wenn auch furchtbar utopisch, absolut genial und bemerkenswert. Die Idee war im Grunde eine wundervolle Perspektive, wonach die Kunst zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wirklich demokratisch werden sollte. Nicht bloß die Groß- und Kleinbürger sollten Kunst auf höchstem Niveau schaffen und genießen, sondern jeder und jede. Was für eine großartige Vorstellung!

Es sollte eine Konvergenz von Kunst und Gesellschaft, eine echte Künstler-Gesellschaft bzw. eine wirklich gesamtgesellschaftliche Kunst geben, die von jedem Arbeiter und jeder Arbeiterin alltäglich geschaffen werden sollte. Das ist immer noch eine schöne Idee und durchaus zu erreichen. Aber im Kapitalismus ist diese Utopie natürlich völlig unrealistisch, weil nur den Herrschenden das Privileg des schönen Lebens möglich ist. Für die überwältigende Mehrheit der Menschen in der Klassengesellschaft ist das Leben durch monotone Arbeit oder frustrierende Freizeit verunstaltet. Nach der Arbeit will man sein Bier trinken oder zum Sport gehen und eher selten die Gesellschaft bewusst künstlerisch gestalten...

Majakowski hielt das aber natürlich nicht davon ab, seine Forderungen weiterzuführen. In der zweiten Ausgabe von "Die Kunst der Kommune" erschien sein Gedicht "Zu früh zur Freude" (Радоваться рано), in dem er den säulenheiligen Dichter des russischen Volkes, "Puschkin, und die anderen Generäle des Klassizismus", d.h. die gesamte bisherige Kunst scharf attackierte. Die alte Kunst - ob romantisch, klassizistisch, realistisch, naturalistisch, symbolistisch oder was auch immer - sollte platt gemacht werden, um auf dem so neu bearbeiteten "sozialistischen" Boden eine völlig neue Gesellschaft mit einer völlig neuen Kultur aufzubauen. Trotzki machte sich über diese Idee lustig, denn er sah darin einen unfehlbaren Weg zum Proleten-Dilettantismus. Abgesehen davon sah der weitläufig gebildete und nüchterne Klassenkämpfer Trotzki die Problematik der "Dichter der Revolution" in klarerem Licht als der allzu leidenschaftliche und enthusiastische Futurist:

"Die futuristischen Dichter beherrschen die Elemente der kommunistischen Weltbetrachtung und Weltauffassung nicht organisch genug, um ihnen im Wort organischen Ausdruck zu verleihen; vielleicht haben sie es noch nicht im Blut. Daraus resultieren die häufigen künstlerischen, im Grunde genommen jedoch psychologischen Mißerfolge, die Schwülstigkeit und das Gepolter über der Leere. In seinen am stärksten der Revolution verpflichteten Werken wird der Futurismus bereits zu einer Stilisierung. [...] Aus eben diesem Grunde hören wir in der Poesie des Futurismus, selbst wenn sie sich voll und ganz der Revolution verschrieben hat, eine mehr bohemehafte als proletarische revolutionäre Einstellung."

Auch und gerade Majakowski traf diese Kritik am Futurismus. Trotzki sagte über ihn zwar: "Majakowski - ist ein großes oder, nach Bloks Definition, ein gewaltiges Talent." Und er lobte ihn noch weit mehr, sah auch seine große Bedeutung für die russische Kunstszene ein:

"Die künstlerische Grundidee Majakowskis ist fast immer bedeutsam, manchmal - grandios. Der Dichter nimmt in seinen Bereich sowohl den Krieg als auch die Revolution, sowohl das Paradies als auch die Hölle auf. Majakowski ist ein Feind der Mystik, des Muckertums in jeder Form, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen - seine Sympathien sind völlig auf seiten des kämpfenden Proletariats". 

Aber das revolutionäre Genie eines Bronstein täuschte sich nicht im Geringsten über die künstlerischen Mängel eines noch so revolutionär gesinnten Künstlers wie Majakowski:

"ihm fehlt das Gleichgewicht, und sei es nur das dynamische. Am schwächsten ist Majakowski dort, wo das Gefühl für Maß und die Fähigkeit zur Selbstkritik verlangt werden. Majakowskis Bejahung der Revolution ist natürlicher als bei jedem anderen russischen Dichter, weil sie sich aus seiner ganzen Entwicklung ergab."

Die ungestüme Art und Kunst Majakowskis erlaubten ihm kein Maßhalten. Er hat in all seine Werke im Grunde stets seine eigene Erfahrung eingebaut und es unübersehbar vor jedermanns und jederfraus Augen gestellt. Zu Zurücknahme seines Egos und zu Rücksichtnahme auf die gebieterischen Ansprüche "guter Kunst" war er kaum fähig. Er universalisierte überall sein Ich. Er war als Künstler "Majakomorphist" und "um den Menschen zu erhöhen, erhebt er ihn zu Majakowski", so schön sarkastisch formuliert Trotzki es. Immer überteibe der exzentrische Künstler es, immer schieße er über den Rand hinaus und begreife das erforderliche Maß nicht, um ganz große Kunst zu machen. Majakowski konnte daher als Lebenskünstler vielleicht sein Ziel erreichen, ein verdammt cooler Dandy zu werden, aber er scheiterte an seinen eigenen Ansprüchen.

Das zeigt sich an solchen Werken wie "150.000.000" oder an "Krieg und Frieden" und "Mysterium Buffo". In allen diesen Fällen übertreibt Majakowski es offenbar mit den Metaphern und Bildern. Er will mit ganzem Herzen die alte Ordnung bloßstellen, stellt aber bloß seine eigene Emotionalität dar. 

"150.000.000" sollte ein Epos der Revolution werden. Der Held sollte, wie in Eisensteins "Der Streik" die revolutionäre Masse von 150 Millionen Menschen werden. Der Antagonist sollte natürlich der faulende Weltkapitalismus sein. Die Wörter Majakowskis sind allerdings viel zu bemüht und sein "Majakomorphismus" kommt klar zum Vorschein, wenn er ganz fantastisch, aber unrealistisch von einem "in Speck verfettendem Wilson" spricht, "der Fett ansetzt, dessen Gebäuch etagenhoch anwächst" und wenn er von einer Unmenge von Generälen und Kapitalisten in Chicago faselt. Das ist offenbar eine reichlich übertriebene Darstellung der USA, ein platter Anti-Amerikanismus. Ähnlich bemüht sind die anderen hochpolitischen Texte von ihm. Trotzki kritisierte den Futuristen dafür scharf. 

"Die Wolke in Hosen" (Облако в штанах) ist ganz anders. Es ist laut unserem vielzitierten Bronstein "ein Poem der unerfüllten Liebe, das künstlerisch bedeutendste, schöpferisch kühnste und das am meisten versprechende Werk Majakowskis." Majakowski brachte darin tatsächlich eine nette Idee zum Ausdruck:

Schüttelst die struppige Mähne? −
Denkst du wirklich,
es weiß
auch nur einer von denen,
die da flattern,
was Liebe heißt?
Bin selbst ein Engel, zumindest gewesen -
blickte drein als putziges Zuckerlamm.
Doch nie wieder schenk ich den Stuten Gefäße
aus schmerzgehärtetem Porzellan.
Deine Allmacht, die uns zwei Arme leiht,
einen Kopf,
ein Knochengerüst,
vermag sie es nicht,
daß man ohne Leid
immer küßt, immer küßt, immer küßt?!

Ultraradikale Bebilderung


Die ultraradikale Dichtung Majakowskis wurde von einer ähnlich ultraradikalen Bebilderung begleitet. Der überzeugte Kommunist produzierte Unmengen an sogenannten "Rosta-Fenstern". Das waren im Grunde Agitationsplakate für die gute Sache. Stets wurde belehrt, zur moralischen Entscheidung zwischen zwei Alternativen oder zum revolutionären Handeln aufgerufen. In einem Rosta-Fenster z.B. fragt er: "1. Willst du die Kälte überstehen? 2. Willst du den Hunger überleben? 3. Willst du essen? 4. Willst du trinken? - Dann tritt ein [in die Partei, versteht sich]!"




In einem anderen Poster sind schlicht ein Stapel voller Bücher mit Ketten an den Seiten und einer Hand auf dem Stapel dargestellt. Wichtig ist die kurze moralische Belehrung: "Wissen zerreißt die Ketten der Sklaverei". Mit dem belehrenden Ton näherte sich Majakowski übrigens sehr stark Bertolt Brechts dialektische Kunst, die immer auf Belehrung und Entscheidung abzielte.


In einem anderen Plakat stellt er wieder den "fetten" Wilson, den amerikanischen Kapitalisten an sich, und den Proletarier an und für sich, dar. Sobald der Proletarier bewusst wird, fürchtet sich der Kapitalist. Die Entwicklung des Szenarios wird durch Montage bildlich gemacht. Ein Bild reicht für die Darstellung von Bewegung in solchem Sinne nicht. Daran ist der italienische Futurismus u.a. gescheitert (auch an seinen Neigungen zu Faschismus). Majakowski nutzt also die Montagetechnik, um die Dialektik, die Veränderung des Objekts und des menschlichen Subjekts darstellen zu können.


In einer weiteren Verbildlichung glorifiziert Majakowski die Komintern, die Kommunistische Internationale, d.h. den Zusammenschluss der sozialistischen Arbeiterparteien, der nach dem Ersten Weltkrieg und dem Verrrat der Sozialdemokratie an allen linken Idealen nötig geworden war. Leider konnte er die bürokratische Natur des Stalinismus und der Komintern nicht recht antizipieren. Dafür war ihm der Kommunismus noch nicht tief genug ins Blut eingegangen. Der unrealistische Schematismus war ein zentraler künstlerischer Fehler Majakowskis. Denn sein abstrakter und utopischer Ultraradikalismus, der 1918 noch revolutionär war, schlug unter den Bedingungen einer nicht mehr revolutionär geführten, sondern von konservativen Bürokraten regierten Sowjetunion um in reine reaktionäre Kunst zur leicht durchschaubaren Verherrlichung einer "staatsbürokratischen Klassengesellschaft". 


In unzähligen weiteren Agitationswerken war er ebenso binär und klischeehaft. Immer gab es auf der einen Seite völlig verhunzte Gestalten auf seiten des Kapitals und stolze Helden auf seiten der Arbeit andererseits, die den Sieg davontrugen. Leider trug Majakowski mit diesen Schemata auch seine eigene revolutionäre Kunst davon. Denn entweder merkte er nicht schnell genug, wie sehr sich die Sowjetgesellschaft nach dem Bürgerkrieg verwandelte oder er ignorierte es bewusst. Jedenfalls wurde er dadurch zum Apologeten des russischen Bürokratismus des Kommunistenschlächters Stalin, der letztlich gemeinsam mit dem westlichen Kapitalismus des "fetten Wilson" die ganze Weltrevolution erdrosselt hat.


Fazit


Wie kann man Majakowskis Werk zusammenfassen? Sein ganzes Leben war ein Versuch, seine futuristische Utopie zu realisieren. Er selbst war ein Kunstwerk. Seine Selbstdarstellung und leidenschaftliche Hingabe an Kunst und Revolution machten ihn zum Dichter der Revolution. Allerdings musste er an seinen Ansprüchen scheitern. Er hätte den Realitäten in die Bürokratenaugen sehen müssen. Dann hätte er seine wirklich rebellische Kunst nicht schematisieren und sein Talent dem Stalinismus opfern müssen. Er hätte wirklich große Kunst schaffen können, indem er die Realitäten Russlands nicht ignorierte, sondern sie kritisierte. Den Humor und das Talent dazu hatte er.

Allerdings lagen Majakowskis Probleme noch tiefer. Die bürokratisierte Sowjetunion war im Grunde immer mehr zu einer Union der gezwungen klatschenden Stalin-Fans geworden. Und diese Stalinisten, Bürokraten und neubürgerliche Snobs konnten oder wollten Majakowskis Anliegen nicht teilen. Sie verstanden ihn kaum.

Was 'ne Sch*€§e! Wie schmerzlich muss es sein, wenn ein so großer Mensch wie Majakowski es war aufgrund mangelnder Kommunikationsfähigkeiten sich in diesem noch viel größeren Universum völlig alleine fühlen muss? Wie selbstverständlich und leicht verständlich muss einem sein Freitod in diesem universellen Rahmen erscheinen? War der Freitod nicht eine unfassbare Erleichterung für seine so unerträgliche Beschwerlichkeit des Seins?

Wahrscheinlich war die Auslöschung seines hungrigen Egos ein erlösender Einzug ins Nirwana. Der Glückliche. Hoffentlich ist er dem ewigen Kreislauf aus Blut und Sch*€§e wirklich entkommen. Man könnte fast neidisch werden... Aber genug der absolut idealistischen Spekulation. Weiter geht's mit einer historisch-materialistischen Auffassung Majakowskis. Trotzki hat sie bereits formuliert und dem ist wohl ganz und gar zuzustimmen:

"Dem Futurismus die intelligenzlerische Hypostase abzustreifen ist ebenso schwer wie die Form vom Inhalt zu trennen. Gelänge dies aber, so würde der Futurismus dadurch eine so tiefe qualitative Umformung erleiden, daß er aufhören würde Futurismus zu sein. Dies wird auch so kommen, nur nicht morgen. Aber schon heute kann man mit Sicherheit sagen, daß vieles vom Futurismus nützlich sein und dem Aufschwung sowie der Wiedergeburt der Kunst dienen wird - unter der Bedingung allerdings, daß der Futurismus sich seinen Weg auf eigenen Füßen bahnt, ohne den Versuch, sich als staatliche Richtung zu dekretieren, wie er es zu Beginn der Revolution getan hat."

Mit Majakowskis Kunst ist aber etwas ganz anderes passiert. Der kommunistische Futurismus, dieses großartige Projekt, ist nicht zu einer echt sozialistischen Kunst geworden. Mit dieser Kunst ist stattdessen geschehen, was mit der ganzen Sowjetgesellschaft geschehen ist: sie wurde kraftlos, einfallslos und verbraucht. Kein Wunder, dass sich der leidenschaftliche Revolutionär und Künstler Majakowski unter solchen Umständen tötete, könnte man meinen...

Об эр ганц футуристиш даран дахтэ,
дасс Руссланддойче кюриллиш лезен кённен?



Infos


Brown, Edward J.: Mayakovsky. A Poet in the Revolution, Princeton 1973.

Kracauer, Siegfried: Theorie des Films, Frankfurt am Main 1985.

Sadoul, Georges: Geschichte der Filmkunst, Frankfurt am Main 1982.

Trotzki, Leo: Literatur und Revolution, Essen 1994.

Ulbrecht, Siegfried: Die Dramatik des jungen Vladimir Majakovskij und des jungen Bertolt Brecht, Frankfurt am Main 1996.

Sonntag, 26. Januar 2014

Offener Brief an die Menschenkinder

Liebe Menschenkinder,

ich will offen und ehrlich zu euch sein: Diese Welt ist kein allzu schöner Ort. Diese Welt ist ein gruseliger, ein schrecklicher, ein abscheulicher Ort. Diese nichtige Welt ist dem Untergang geweiht.

Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es besteht noch Hoffnung für diese eitle Welt. Gerade in der finstersten Finsternis ist jeder noch so kleine Funken Hoffnung ein beeindruckendes Feuerwerk.

Ich will offen und ehrlich zu euch sein: Die Generation vor euch hat diesen Ort immer selbstgerechter gemacht. Sie hat in ihrer Aufgabe, euch Menschenkindern eine bessere Welt zu hinterlassen, völlig versagt.

Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Es liegt nicht in ihren Händen, ob dieser Ort weiterhin eine Hölle aus Hass und Heuchelei bleibt. Es liegt viel mehr an euch, was ihr aus ihrem ungerэchten Erbe macht.

Ich will offen und ehrlich zu euch sein: Ihr habt von allen bisherigen Menschengenerationen wohl die aller schwierigste und qualvollste Aufgabe zu leisten: Diese Welt aus den Fängen der Finsternis zu emanzipieren.

Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Von allen bisherigen Generationen habt ihr das meiste Wissen, um die Aufgabe zu meistern. Ihr dürft es nur nicht dabei bewenden lassen; müsst es anwenden.

Ich will offen und ehrlich zu euch sein: Der Untergang des Abendlandes, der anderen hochmütigen Zivilisationen und der ganzen Welt, wie wir sie kennen, wurde bereits oft prophezeit.

Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Diese Welt ist tatsächlich unabwendbar dem Untergang geweiht, wenn ihr sie den Hasspredigern und Scheinheiligen von gestern überlasst.

Ich will ein letztes Mal offen und ehrlich zu euch sein: Ihr selbst bestimmt, was eure Bestimmung ist.


Alle Liebe und alles Glück der Welt wünsche ich euch und mir,
Alexithymian Nefelibata.




Dienstag, 21. Januar 2014

Majakowski als Dichter der Revolution, Teil 1

Majakowski als Dichter der Revolution. Teil 3* der Serie zu Marxismus und Kunst. Nachdem im ersten Teil bereits die Ästhetik von Georg Lukács dargestellt worden war, scheint es passend zu sein, nun Majakowski, seinen extremen Gegenspieler innerhalb des sozialistischen Lagers vorzustellen.

Lukács war klassizistischer Literaturkritiker und verabsolutierte die kritisch-realistische Kunst des 19. Jahrhunderts, die er zum Vorbild für sozialistische Künstler stilisierte, wohingegen er die abstrakte und avantgardistische Kunst verachtete.

Majakoswki dagegen war der schillerndste und wichtigste Vertreter genau dieser modernen Avantgarde-Kunst, die das Begräbnis der kritisch-realistischen Kunst ausrief. Ein größerer Gegensatz innerhalb der linken Kunstdebatte ist kaum denkbar. Allerdings wurde die entsprechende Debatte zwischen Lukács und Brecht geführt. Majakowski starb zu früh, um daran Anteil haben zu können. Trotz seines frühen Todes ist Majakowski unsterblich geworden.





Majakowskis Widersprüchlichkeit



Wladimir Wladimirowitsch Majakowski (1893-1930) könnte problemlos zu den Sozialisten gezählt werden, die sich mit Kunst und Ästhetik am intensivsten befasst haben. Er war daneben ein großartiger Künstler und Verehrer Lenins. Die Oktoberrevolution 1917 war für ihn ein epochales Ereignis, das er mit Wort und Tat unterstützen wollte. Seine Kunst widmete er spätestens seit der bolschewistischen Machtübernahme im Oktober ganz der Sache des Kommunismus. Aber das machte ihn nicht zum bloßen Parteisoldaten. Sein Privat- und sein Seelenleben waren ebenso spannend und er führte es wie ein hedonistischer Künstler und nicht wie der asketische Lenin. Edward J. Brown charakterisierte Majakowski in seiner Biographie wie einen bunten Hund:

"After the October revolution he was a leading producer of pro-bolshevik propaganda in the form of cartoons and agitational verse. And in addition to all this, his emotional makeup and his erratic and self-consuming love life should invite the attention of any biographer with a bent for psychological analysis."

Die privaten Absonderlichkeiten Majakowskis sind einen eigenen Artikel wert und unmittelbar mit seiner politischen Dichtung verbunden. Seine irrationale Angst vor Schmutz und Infektion hat ebenso in seine Dichtung gefunden wie sein ebenso irrationales Liebesleben und seine Sehnsüchte. Brown schreibt:

"He was a kind of hypochondriac, preternaturally afraid of infection from knives, forks, spoons, drinking glasses, and even other people's hands offered in friendship. He was a compulsive washer of his own hands. He was also a compulsive gambler"

Majakowski hatte diverse Macken und Eigentümlichkeiten dieser Art. Seine Beziehung zu Frauen war z.B. gewiss nicht einfach und seine ungestüme Art führte ihn schon als Teenager mehrfach ins Gefängnis. Denn als Jugendlicher war er bereits einer der mutigen Revolutionäre, die den Zarismus stürzen wollten. Hier ist vor allem seine Rolle als "Dichter der Revolution" von Interesse. Denn kaum ein anderer Dichter hat sich so sehr bemüht, Dichtung und Revolution zusammenzuführen.

Schon bei unpolitischen Künstlern ist es eine Torheit, die Welt der Kunst und die Welt des Künstlers völlig voneinander trennen zu wollen. Bei einem betont politischen Künstler wie Majakowski wäre es eine Todsünde. Majakowkis Kunst versteht man erst durch sein Leben und die Gesellschaft, in der er lebte. Brown schreibt in diesem Sinne:

"It is of course possible for a critic to speak of Mayakovsky without reference to the real world with which his poems are in frequent and fruitful intercourse; but such a critic would emasculate the poetry and, however subtle his own pattern of insights and nuances, obscure rather than elucidate the poetic artifact."

Nachdem er den libertären Demokraten Lenin verehrt und ihm nach dessen Tod 1924 ein Poem gewidmet hatte, schrieb er seit Stalins Aufstieg zum Super-Bürokraten auch stalinistische Propaganda. Die Parteilichkeit gehörte schließlich zu seinem Verständnis von revolutionärer Kunst. Entsprechend wurde er auch von den Stalinisten bejubelt. 1930 jedoch beging er Selbstmord, wohl auch, weil die Bürokratisierung der sowjetischen Gesellschaft entsetzliche Ausmaße angenommen hatte und die gleichgeschalteten und versnobten Sowjet-Bürger kaum verstanden, was er ihnen mit seiner Kunst sagen wollte. Selbstmord war die poetischste Lösung des Problems!

Majakowskis Widersprüchlichkeit liegt also vor allem darin, dass die Spannung zwischen seinem Privatleben und seinem politischen Leben, seinem Bekenntnis zur klassenlosen Gesellschaft und zum Realsozialismus und seine Hochachtung für den Demokraten Lenin und den Autokraten Stalin sein Leben zerrissen haben. Sein Versuch, diese Gegensätze in sich zusammenzubringen, schlug fehl. Der Freitod bot ihm einen Ausweg aus dieser Spannung.


Majakowskis Ästhetik


Die Futuristen und der Futurismus


Obwohl Majakowski schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts Sozialist war, konnte man ihn bis 1917 ohne Weiteres zu den russischen Künstlern zählen, die keine explizit sozialistische Kunst machten. Er war einfach ein Futurist. Die Futuristen verstanden sich zwar wie alle neuen künstlerischen Richtungen als Revolutionäre und als Avantgarde ihres Fachs, aber das war bis dahin nichts Herausragendes im Vergleich zu anderen Richtungen. Erst ab 1917 wurde seine Ästhetik eine explizit sozialistische Ästhetik.

Der russische Futurismus war, anders als der italienische unter Marinetti, kein Produkt von zutiefst bürgerlichen und zudem reaktionären Apologeten der Technokratie, sondern ein künstlerischer Protest aufsteigender Klassenmilieus mit revolutionärer Gesinnung. Anders als den italienischen Futuristen ging es den russischen Futuristen weniger um die Verherrlichung kriegerischer Akte und neuer Herrschaftstechniken als um eine Kampfansage gegen verkrustete Strukturen, den Muff des Zarenmantels und um eine Emanzipation menschlicher Möglichkeiten. Ihre Kunst war "große Kunst" (Lukács) im Sinne einer anvisierten Befreiung der Menschheit durch die Fortschritte der wirtschaftlichen und künstlerischen Technik.

Leo Bronstein, genannt "Trotzki", ein führender Vertreter der proletarischen Avantgarde, würdigte diese Entwicklung in einem Artikel:

"Der Futurismus ist eine europäische Erscheinung und ist unter anderem dadurch interessant, daß er entgegen der Lehre der russischen formalistischen Schule sich nicht auf den Rahmen der künstlerischen Form beschränkte, sondern von Anfang an, besonders in Italien, sich mit der politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Verbindung brachte."

Anders als der politische Polyphem Lenin und der geistesgeschichtliche Gigant Lukács, die die kritischen Realisten verherrlichten, schätzte der intellektuelle Titan Trotzki die futuristische Strömung als künstlerisches Experiment besonders hoch ein. Er glaubte, dass die neuen, avantgardistischen Richtungen in Russland und Europa die adäquaten Spiegelungen der neuesten sozialen Entwicklungen waren. So schrieb er:

"Der Futurismus spiegelte in der Kunst jene historische Zeitspanne wider, die in der Mitte der neunziger Jahre begann und unmittelbar in den Weltkrieg mündete. Die kapitalistische Menschheit durchschritt zwei Jahrzehnte eines noch nie dagewesenen wirtschaftlichen Aufschwungs, der alle bisherigen Vorstellungen von Reichtum und Macht über den Haufen war, neue Maßstäbe und Kriterien für das Mögliche und Unmögliche schuf und den Menschen vom Unterbewußtsein her zu immer neuen Wagnissen trieb."

Trotzki gibt hiermit im Grunde nur wieder, was die Futuristen vor ihm gesagt hatten. Der Futurismus war im Grunde eine künstlerisch ausgeformte "Vorahnung" (Trotzki) der zukünftigen Katastrophen und Fortschritte, der Zukunft. Trotzkis scharfsinniger Verstand hat aber noch weit mehr begriffen als das.



Die künstlerische Antizipation der russischen Revolution


So wie er eine großartige Revision des Marxismus auf politischem Gebiet vornahm, nahm Trotzki auch eine Revision der marxistischen Kunstauffassung vor. Nachdem er bereits 1906 Marxens These der "permanenten Revolution" zu einer vollwertigen und praxisnahen Theorie der "ungleichen und kombinierten Entwicklung" von Revolutionen weiterentwickelt hatte, entwickelte er nun eine Theorie der ungleichen und kombinierten Entwicklung in der Kunst. Er vermerkte:

"Zurückgebliebene Länder, die aber über ein gewisses Niveau geistiger Kultur verfügen, spiegeln in ihrer Ideologie die Errungenschaften fortschrittlicher Länder klarer und stärker wider. So hat das deutsche Denken des 18. und 19. Jahrhunderts die wirtschaftlichen Errungenschaften der Engländer und die politischen - der Franzosen widergespiegelt. Darum hat der Futurismus seinen klarsten Ausdruck nicht in Amerika - und nicht in Deutschland gefunden, sondern in Italien und in Rußland."

Diese Idee einer künstlerischen Antizipation der russischen Revolution ist im Übrigen auf die ganze russische Literatur seit dem 18. Jahrhundert anwendbar. Bis dahin steckte die russische Literatur noch in Kinderschuhen. Aber seit Puschkin (1799-1837), Anfang des 19. Jahrhunderts, wuchs die noch junge russische Literatur zum Riesen in der Weltliteratur heran, von dem die russischen Dichter heute noch zehren können. In jedem anständigen Kanon der Weltliteratur sind daher zurecht einige Russen genannt, fast immer Tolstoi und Dostojewski, aber auch Pasternak oder Nabokow.

Die jämmerlichen sozialen und politischen Verhältnisse Russlands im 19. Jahrhundert ermöglichten es den Literaten paradoxer Weise, unsterbliche Meisterwerke und menschliche Höchstleistungen zu schaffen. Denn die sozialen Widersprüche des sich entwickelnden Kapitalismus erreichten in Russland eine so große Spannung, dass sie die ganze gesellschaftliche Ordnung bedrohten. Eine Aufarbeitung der Ursachen für diese Spannung war absolut notwendig, wenn man eine soziale Explosion verhindern wollte.

Die zaristische Autokratie allerdings, der reaktionärste Polizeistaat Europas, unterdrückte die Gewissens-, Rede- und Pressefreiheit mit aller Kraft, die ihre Bürokratie noch aufbringen konnte. Die gebildeten Klassen konnten daher gar nicht anders als diese Spannungen von ihren Vertretern künstlerisch verpackt zu erfassen. Die schönen Künste waren der einzige Ort, an dem sich die Intelligenz des Zarenreiches frei austoben konnte. Und die Darstellung der realen Spannungen zwang sogar reaktionäre Künstler wie Dostojewski dazu, äußerst radikale Kunstwerke zu produzieren, die im Grunde schon Jahrzehnte vor der Oktoberrevolution dieselbe vorhersahen. Majakowski war also nicht der erste Dichter der Revolution. Aber er war wohl der bewussteste Dichter der Revolution.

Die Entwicklung der russischen Revolution hat Majakowskis Kunst und der Kunst in ganz Russland einen enormen Auftrieb gegeben. Majakowski gewann durch die neue soziale Perspektive auch eine neue ästhetische Perspektive. Dieser Mann war bereit, alles für diese Perspektive zu tun und bewies das künftig.



Die gesellschaftliche Notwendigkeit neuer Kunst


Kunst sollte nun noch mehr als zuvor ihre Möglichkeiten ausreizen. Diese sollten mit den neuen gesellschaftlichen Möglichkeiten im revolutionären Russland einhergehen. Kunst sollte die Avantgarde in der Politik unterstützen und damit wirklich zu einer Avantgarde-Kunst werden.

Besonders paradox ist bei Majakowski die komische Verbindung von äußerster Parteilichkeit und äußerster Autonomie der Kunst. Denn die nun auch künstlerisch wirksame Parteilichkeit schränkte Majakowskis Kunst nicht ein. Seine Parteilichkeit zwang ihn nicht zu blindem Gehorsam gegenüber der kommunistischen Partei und nicht zur Fesselung seiner Kunst durch Politik. Vielmehr entfesselte sie seine Kunst! Die politische Leidenschaft Majakowskis befreite seine künstlerische Leidenschaft.

Das veränderte seinen Begriff von Kunst, die nun die Kunst der Avantgarde der Menschheit sein sollte. Die Befreiung der Kunst von Altlasten sollte die Befreiung der Menschheit von Altlasten unterstützen und letzterer vorausgehen. Die neuen sozialen Möglichkeiten im revolutionären Russland sollten neue künstlerische Möglichkeiten eröffnen. Ulbrecht schreibt in diesem Sinne:

"Die Zerschmetterung der dargestellten Wirklichkeit in Einzelteile und Bruchstücke bei den Malern und die damit verbundene Entlastung der Kunst von jeglicher äußerer Gängelung und Konvention auf dem Weg zu ihrer Autonomie muß für Majakovskij und sein Werk geradezu befreiend wirken"

Seit 1917 sah Majakowski die Grenzen aller vorangegangenen Kunst samt des bisherigen Futurismus klarer. Diese Einsicht ermöglichte eine radikale Kritik an bisherigen Künsten und Medien: Lyrik, Dramatik, Epik, Malerei, Fotographie, Filmographie, Architektur und Modellbau. An Stelle der alten Formen sollte etwas Neues treten, dessen Formen noch unklar blieben. So schrieb Majakowski in seiner typisch martialischen Ausdrucksweise:

"Zerschlagen werde die alte Sprache, die ohnmächtig ist, den Sprunglauf des Lebens einzuholen."

Das Leben in Russland hatte bereits die alten sprachlichen Konventionen überholt. Die alte Sprache, die Majakowski nun konservativ und unpraktisch erschien, war tatsächlich zum Hindernis geworden. Eine neue Sprache musste her, um der neuen Realität gerecht zu werden. Aber was für eine Sprache sollte das sein? Das war auch den Avantgarde-Künstlern und Majakowski noch nicht klar. Sie mussten daher experimentieren.

Klar war jedoch bereits, dass die neue Realität zu komplex geworden war für die alte Sprache eines Puschkin oder eines Tolstoi. Die neue Sprache musste fähig werden, die neue Kompliziertheit darzustellen. Dafür brauchte es neuer Inhalte und neuer Formen in der Sprache. Eine völlig neue Sprache aus dem Nichts heraus zu entwickeln, war dennoch nicht der Weg, den Majakowski einschlug.


Dialektische Montage und die Gefahren der technokratischen Revolution


Die sozialistischen Avantgarde-Künstler wussten, dass sie die alten Sprach- und Denkgewohnheiten nicht völlig ausradieren konnten, sondern weiterentwickeln mussten. Schließlich wollten sie kein kleiner elitärer Kreis bleiben, wie die italienischen Futuristen, die deswegen auch völlig versagten, sondern die gesamte Gesellschaft umwälzen. Dafür mussten sie praktische Neuerungen der Sprache anbieten. Schklowski, der große Theoretiker des russischen Formalismus, vermerkte passend dazu:

"Die menschliche Kultur ist 'montiert'. Das Vergangene verschwindet nicht. [...] Das 'Neue' erscheint als Abwandlung des Alten, es ist die dialektische Anwendung des Alten."

Eine "dialektische Anwendung des Alten" durch Montage? Was meinte er damit? Dialektik und Montage sind zwei zentrale Begriffe, um Majakowskis Ästhetik wie die Ästhetik der anderen sozialistischen Avantgardisten zu begreifen.

Die Dialektik kann als konfliktgeladene soziale Bewegung verstanden werden, die keine starren Verhältnisse erlaubt. Alles ist stets in Bewegung. Auch scheinbar uralte gesellschaftliche Gewohnheiten und Beziehungen sind stetem Wandel unterworfen. Dieser Wandel geht in Form von mit einander ringenden Tendenzen vor sich. Die progressiven Kräfte Russlands z.B. setzten sich im Kampf gegen die reaktionären Kräfte durch, sodass es zur Oktoberrevolution gekommen war. Die Dialektik der Gesellschaft, die explosiven Spannungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, erzwang eine Modernisierung des Ganzen. Die Revolution wurde absolut notwendig, um einen völligen Verfall der Gesellschaft zu verhindern. Revolution aber ist ein hektischer Tanz, den man beherrschen muss, um Chaos und unnötige Zusammenstöße zu vermeiden. Und die sind schwer zu vermeiden wegen der Uneinheitlichkeit der Gesellschaft. Deren Teilung und Zersplitterung in verschiedene Tendenzen verweist auf den anderen Begriff, die Montage.

Die Montage wurde zum wichtigen Prinzip der Avantgarde-Kunst. Es ging nicht wie in früheren Kunstwerken um Harmonie und Einheitlichkeit in der Kunst, sondern umgekehrt um die Disharmonie und Uneinheitlichkeit der Kunst. Sie waren Teil der neuen Realität, die nun nicht mehr durch ein einziges Prinzip gesteuert zu sein schien. Die frühere Einfachheit und Einheit der Gesellschaft und ihr Verständnis musste anders erreicht werden als durch die alten Mittel der Erkenntnis, denn die kapitalistischen Verhältnisse in Russland waren viel komplizierter geworden als es die vor-kapitalistischen Verhältnisse unter der Autokratie der Zaren noch waren.

Ulbrecht vermerkt in seiner Arbeit über Majakowski die Vorwegnahme des späteren postmodernen Denkens bei ihm. Das postmoderne Denken, welches seit den 70er Jahren die Uneinheitlichkeit, Fragmentierung, Zersplitterung, Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit und Unvollendung gesellschaftlicher Strukturen im neoliberalen Kapitalismus auf die Ebene des Geistes hebt und übernimmt, ist daher keine ganz neue Erfindung der letzten Jahrzehnte, sondern ein älteres Phänomen.

Allerdings war Majakowski ein leidenschaftlicher Sozialist und hervorragender Künstler, dem daher klar war, dass es einen Unterschied zwischen Gesellschaft und Kunst, zwischen sozialer Fragmentierung und künstlerischer Widerspiegelung derselben gab. Diese Fähigkeit zur Differenzierung fehlt bei nicht wenigen postmodernen Gedankengebäuden, die daher notwendig einstürzen müssen wie billig gebaute Schulen im heutigen Sichuan. Ulbrecht jedenfalls merkt an:

"Der Entfremdung und Verdinglichung innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft hält der avantgardistische Künstler das Prinzip der Montage entgegen, um das Subjekt in seinem unheilvollen Zustand der Zersplitterung und Deformierung nachzeichnen zu können. Sein montiertes Kunstwerk will darauf hinweisen, daß es 'aus Realitätsfragmenten zusammengesetzt' und der Fragmentcharakter ein Kennzeichen der Vielschichtigkeit der abgebildeten Realität ist. Insgesamt erwirkt das Kunstwerk den Eindruck eines 'Zusammenhangs des Nichtzusammenhangs'."

Von einem Erdbeben zerstörte Häuser in der
chinesischen Provinz Sichuan, von ZEIT.de  |  ©Stringer China/Reuters

Die dialektische Montage der Avantgardisten ist also ein Mittel der Aufklärung. Die Avantgardisten bekämpften das rationale und dialektische Denken nicht, sondern kritisierten mit genau solchem Denken die gefährliche Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Die war im Ersten Weltkrieg völlig außer Rand und Band geraten als die liberalen und sozialdemokratischen Bourgeoisien Europas ihren aufgeklärten Liberalismus in reaktionärstem Nationalismus ertränkten. Das "liberale" Bürgertum hat damit die bürgerliche Gesellschaft, die kapitalistische Bestie entfesselt. Da die bestialische Seite der bürgerlichen Gesellschaft der imperialistische Kapitalismus ist, führte ihre Entfesselung zu Massenmord und Massenverelendung. Angewidert von dieser "zivilisierten" Gesellschaft, wollten die antikapitalistischen Avantgardisten sie entlarven als das, was sie schon immer war: eine barbarische Klassengesellschaft, die überwunden werden muss. Dialektische Montage veranschaulicht diesen Zusammenhang von bürgerlicher "Zivilisiertheit" und kapitalistischer Barbarei, zweier kämpfender Tendenzen der heutigen Gesellschaft.

Die Jahre 1989/90 und 1917/18 stehen ebenso für zwei gegensätzliche Tendenzen. Im Gegensatz zur Zeit nach 1989 war die Zeit nach 1917 eine kurze Epoche der geistigen Blüte. Seitdem der Zusammenbruch der Sowjetunion auf die globale Linke wirkt, sie verwirrt, das postmoderne Denken gestärkt und aus einigen typisch deutschen Linken Ausgeburten nationalistischer Ideologien gemacht hat, die sich progressiv oder emanzipatorisch dünken, hatte die Oktoberrevolution und der anfängliche Aufbau der Sowjetunion die globale Linke motiviert, geläutert, das dialektische Denken gestärkt und sogar die Deutschen, diesen tragischen Auswuchs des verspäteten Nationalismus, an den Rand eines Umsturzes der bürgerlichen Ordnung getrieben. Trotzki schrieb über den Zusammenhang von Nation und Kunst:

"Es ist kein Zufall und kein Mißverständnis, sondern völlig gesetzmäßig, daß der italienische Futurismus im Strom des Faschismus aufgegangen ist. Der russische Futurismus wurde in einer Gesellschaft geboren, die [...] sich auf die demokratische Februarrevolution vorbereitete. Schon dies brachte unserem Futurismus Vorteile. Er fing die noch unklaren Rhythmen der Aktivität, des Handelns, Ansturms und der Zerstörung ein. Den Kampf um seinen Platz an der Sonne führte er schärfer und entschiedener, vor allem aber lärmender als die ihm vorangegangenen Schulen in Übereinstimmung mit seinem aktivistischen Weltempfinden. Der junge Futurist ging natürlich nicht in die Werke und Fabriken, sondern polterte in den Cafés herum, trommelte mit der Faust auf Rednerpulte, zog sich eine gelbe Bluse an, färbte sich die Backen und drohte wer weiß wem mit der Faust."

Der russische Futurismus war also in die revolutionäre Begeisterung geraten, die der Oktoberumsturz auf der ganzen Welt provozierte. Die Geistlosigkeit der tradierten bürgerlichen Kunst sollte nun ebenso hinweggefegt werden wie das geistlose Bürgertum Russlands. Ergraute Greise und ihre Klassiker sollten nun der radikalen Jugend und ihren Experimenten weichen. Selbst wenn Majakowski den russischsten aller Dichter, Puschkin, verehrte, so musste er vom "Dampfer der Gegenwart" gestoßen werden, wie Majakowski forderte. Puschkin hatte die moderne russische Sprache geprägt wie kein Anderer und gehört wieder in Form einer Gesamtausgabe in jedes gutbürgerliche Wohnzimmer, das etwas auf sich hält. Im revolutionären Russland des 20. Jahrhunderts war der verstaubte Puschkin aus dem 18. Jahrhundert (geboren 1799) jedoch reaktionär geworden.

Wie konnte das geschehen? Hatte Lukács nicht die ewige Schönheit Puschkins proklamiert? Hat Puschkin nicht die tiefsten menschlichen Probleme angesprochen? War er nicht noch immer hoch aktuell und damit revolutionär? Jein. Majakowski forderte im Gefolge der sozialen Revolution nichts anderes als eine Kulturrevolution. Majakowski war zwar kein Mao Zedong. Mao ließ in seiner "Kulturrevolution" die alte Kultur vernichten. Majakowski sah lediglich die Hürde als die sich die alte Kultur den politischen und künstlerischen Avantgardisten darstellte. Das konservative Festhalten an Puschkin wurde zum Hindernis.

Schließlich drohte die Gefahr der technokratischen Revolution. Die Technokratie, die Herrschaft einer Staatsmacht mittels immer weiter entwickelter Technik, hatte ihre gemeingefährlichste Gestalt bereits in den modernsten und "zivilisierten" Ländern gezeigt. Sie manifestierte sich schon im Ersten Weltkrieg, im aufstrebenden Faschismus und in den irrationalen und autoritären Tendenzen des geistigen Lebens in ganz Europa. Mit der gewaltsamen Niederschlagung der proletarischen Weltrevolution in jenen Jahren in Deutschland, Italien, Ungarn, Polen und China z.B., gelangte die Technokratie nun ausgerechnet im revolutionärsten, fortschrittlichsten und vorbildlichsten Land zur Höchstform: in Russland.

Die revolutionäre Ästhetik konnte von den sozialistischen Futuristen nicht zu Ende gedacht und gebracht werden. Sie scheiterte letztlich. Denn die revolutionären Tendenzen Russlands wurden im Gefolge der weltweiten Erdrosselung der Revolution fast völlig erstickt. Der geschundene Leichnam der russischen Revolution wachte als lebender Toter, als gruseliger Zombiestaat, als "staatsbürokratische Klassengesellschaft" wieder auf.

Majakowski

Das war der Aufstieg des Stalinismus im Osten. Der Stalinismus hat seit Mitte der 20er Jahre jegliche revolutionäre Tendenzen in Kunst und Gesellschaft bewusst unterdrückt und damit auch die Dichter der Revolution. Das hielt Stalin und seine Bürokraten natürlich nicht davon ab, aus Majakowski nach seinem Tod einen Säulenheiligen zu machen, um ihn für seine unheiligen Zwecke zu vereinnahmen. Verherrlichung und Vernichtung gehen nicht selten Hand in Hand. Und in Russland wurde nun das revolutionäre Erbe Lenins verherrlicht, nur um die revolutionäre Opposition gegen den Bürokratismus um Trotzki zu vernichten.

Der stalinistische Zombiestaat konnte nicht anders überleben als sich von den Leichen der revolutionären Avantgarde zu ernähren und sich deren Leichenteile wie das Frankenstein-Monster einzuverleiben. Dass daraus nur ein ein Dämon werden konnte, dessen Hässlichkeit der des faschistischen Behemoth in nichts nachstand, sollte Majakowski nicht mehr erleben. Sein ohnehin schon durch misslungenes Liebesglück und die misslungene Revolution gebrochenes Herz brachte er am 14.04.1930 durch eine Pistolenkugel, wie sein verhasst-geliebter Vorgänger Puschkin, zum Stillstand. Eines großen Poeten würdig verabschiedete er sich:

"An alle! Wie man so sagt, der Fall ist erledigt; das Boot meiner Liebe am Alltag zerschlug. Bin quitt mit dem Leben. Gebt niemandem die Schuld, dass ich sterbe, und bitte kein Gerede. Der Verstorbene hat das ganz und gar nicht gemocht. Mama, Schwestern, Genossen, verzeiht mir, das ist keine Lösung (anderen rate ich davon ab), aber für mich gibt es keinen Ausweg mehr"



Quellen


Brown, Edward J.: Mayakovsky. A Poet in the Revolution, Princeton 1973.

Ulbrecht, Siegfried: Die Dramatik des jungen Vladimir Majakovskij und des jungen Bertolt Brecht, Frankfurt am Main 1996.

Trotzki, Leo: Literatur und Revolution, Essen 1994.



*Im Blog sind kleine Korrekturen ja erlaubt, hehe. Vorher stand hier statt einer "3" fälschlicher Weise eine "2".