Dienstag, 21. Januar 2014

Majakowski als Dichter der Revolution, Teil 1

Majakowski als Dichter der Revolution. Teil 3* der Serie zu Marxismus und Kunst. Nachdem im ersten Teil bereits die Ästhetik von Georg Lukács dargestellt worden war, scheint es passend zu sein, nun Majakowski, seinen extremen Gegenspieler innerhalb des sozialistischen Lagers vorzustellen.

Lukács war klassizistischer Literaturkritiker und verabsolutierte die kritisch-realistische Kunst des 19. Jahrhunderts, die er zum Vorbild für sozialistische Künstler stilisierte, wohingegen er die abstrakte und avantgardistische Kunst verachtete.

Majakoswki dagegen war der schillerndste und wichtigste Vertreter genau dieser modernen Avantgarde-Kunst, die das Begräbnis der kritisch-realistischen Kunst ausrief. Ein größerer Gegensatz innerhalb der linken Kunstdebatte ist kaum denkbar. Allerdings wurde die entsprechende Debatte zwischen Lukács und Brecht geführt. Majakowski starb zu früh, um daran Anteil haben zu können. Trotz seines frühen Todes ist Majakowski unsterblich geworden.





Majakowskis Widersprüchlichkeit



Wladimir Wladimirowitsch Majakowski (1893-1930) könnte problemlos zu den Sozialisten gezählt werden, die sich mit Kunst und Ästhetik am intensivsten befasst haben. Er war daneben ein großartiger Künstler und Verehrer Lenins. Die Oktoberrevolution 1917 war für ihn ein epochales Ereignis, das er mit Wort und Tat unterstützen wollte. Seine Kunst widmete er spätestens seit der bolschewistischen Machtübernahme im Oktober ganz der Sache des Kommunismus. Aber das machte ihn nicht zum bloßen Parteisoldaten. Sein Privat- und sein Seelenleben waren ebenso spannend und er führte es wie ein hedonistischer Künstler und nicht wie der asketische Lenin. Edward J. Brown charakterisierte Majakowski in seiner Biographie wie einen bunten Hund:

"After the October revolution he was a leading producer of pro-bolshevik propaganda in the form of cartoons and agitational verse. And in addition to all this, his emotional makeup and his erratic and self-consuming love life should invite the attention of any biographer with a bent for psychological analysis."

Die privaten Absonderlichkeiten Majakowskis sind einen eigenen Artikel wert und unmittelbar mit seiner politischen Dichtung verbunden. Seine irrationale Angst vor Schmutz und Infektion hat ebenso in seine Dichtung gefunden wie sein ebenso irrationales Liebesleben und seine Sehnsüchte. Brown schreibt:

"He was a kind of hypochondriac, preternaturally afraid of infection from knives, forks, spoons, drinking glasses, and even other people's hands offered in friendship. He was a compulsive washer of his own hands. He was also a compulsive gambler"

Majakowski hatte diverse Macken und Eigentümlichkeiten dieser Art. Seine Beziehung zu Frauen war z.B. gewiss nicht einfach und seine ungestüme Art führte ihn schon als Teenager mehrfach ins Gefängnis. Denn als Jugendlicher war er bereits einer der mutigen Revolutionäre, die den Zarismus stürzen wollten. Hier ist vor allem seine Rolle als "Dichter der Revolution" von Interesse. Denn kaum ein anderer Dichter hat sich so sehr bemüht, Dichtung und Revolution zusammenzuführen.

Schon bei unpolitischen Künstlern ist es eine Torheit, die Welt der Kunst und die Welt des Künstlers völlig voneinander trennen zu wollen. Bei einem betont politischen Künstler wie Majakowski wäre es eine Todsünde. Majakowkis Kunst versteht man erst durch sein Leben und die Gesellschaft, in der er lebte. Brown schreibt in diesem Sinne:

"It is of course possible for a critic to speak of Mayakovsky without reference to the real world with which his poems are in frequent and fruitful intercourse; but such a critic would emasculate the poetry and, however subtle his own pattern of insights and nuances, obscure rather than elucidate the poetic artifact."

Nachdem er den libertären Demokraten Lenin verehrt und ihm nach dessen Tod 1924 ein Poem gewidmet hatte, schrieb er seit Stalins Aufstieg zum Super-Bürokraten auch stalinistische Propaganda. Die Parteilichkeit gehörte schließlich zu seinem Verständnis von revolutionärer Kunst. Entsprechend wurde er auch von den Stalinisten bejubelt. 1930 jedoch beging er Selbstmord, wohl auch, weil die Bürokratisierung der sowjetischen Gesellschaft entsetzliche Ausmaße angenommen hatte und die gleichgeschalteten und versnobten Sowjet-Bürger kaum verstanden, was er ihnen mit seiner Kunst sagen wollte. Selbstmord war die poetischste Lösung des Problems!

Majakowskis Widersprüchlichkeit liegt also vor allem darin, dass die Spannung zwischen seinem Privatleben und seinem politischen Leben, seinem Bekenntnis zur klassenlosen Gesellschaft und zum Realsozialismus und seine Hochachtung für den Demokraten Lenin und den Autokraten Stalin sein Leben zerrissen haben. Sein Versuch, diese Gegensätze in sich zusammenzubringen, schlug fehl. Der Freitod bot ihm einen Ausweg aus dieser Spannung.


Majakowskis Ästhetik


Die Futuristen und der Futurismus


Obwohl Majakowski schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts Sozialist war, konnte man ihn bis 1917 ohne Weiteres zu den russischen Künstlern zählen, die keine explizit sozialistische Kunst machten. Er war einfach ein Futurist. Die Futuristen verstanden sich zwar wie alle neuen künstlerischen Richtungen als Revolutionäre und als Avantgarde ihres Fachs, aber das war bis dahin nichts Herausragendes im Vergleich zu anderen Richtungen. Erst ab 1917 wurde seine Ästhetik eine explizit sozialistische Ästhetik.

Der russische Futurismus war, anders als der italienische unter Marinetti, kein Produkt von zutiefst bürgerlichen und zudem reaktionären Apologeten der Technokratie, sondern ein künstlerischer Protest aufsteigender Klassenmilieus mit revolutionärer Gesinnung. Anders als den italienischen Futuristen ging es den russischen Futuristen weniger um die Verherrlichung kriegerischer Akte und neuer Herrschaftstechniken als um eine Kampfansage gegen verkrustete Strukturen, den Muff des Zarenmantels und um eine Emanzipation menschlicher Möglichkeiten. Ihre Kunst war "große Kunst" (Lukács) im Sinne einer anvisierten Befreiung der Menschheit durch die Fortschritte der wirtschaftlichen und künstlerischen Technik.

Leo Bronstein, genannt "Trotzki", ein führender Vertreter der proletarischen Avantgarde, würdigte diese Entwicklung in einem Artikel:

"Der Futurismus ist eine europäische Erscheinung und ist unter anderem dadurch interessant, daß er entgegen der Lehre der russischen formalistischen Schule sich nicht auf den Rahmen der künstlerischen Form beschränkte, sondern von Anfang an, besonders in Italien, sich mit der politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Verbindung brachte."

Anders als der politische Polyphem Lenin und der geistesgeschichtliche Gigant Lukács, die die kritischen Realisten verherrlichten, schätzte der intellektuelle Titan Trotzki die futuristische Strömung als künstlerisches Experiment besonders hoch ein. Er glaubte, dass die neuen, avantgardistischen Richtungen in Russland und Europa die adäquaten Spiegelungen der neuesten sozialen Entwicklungen waren. So schrieb er:

"Der Futurismus spiegelte in der Kunst jene historische Zeitspanne wider, die in der Mitte der neunziger Jahre begann und unmittelbar in den Weltkrieg mündete. Die kapitalistische Menschheit durchschritt zwei Jahrzehnte eines noch nie dagewesenen wirtschaftlichen Aufschwungs, der alle bisherigen Vorstellungen von Reichtum und Macht über den Haufen war, neue Maßstäbe und Kriterien für das Mögliche und Unmögliche schuf und den Menschen vom Unterbewußtsein her zu immer neuen Wagnissen trieb."

Trotzki gibt hiermit im Grunde nur wieder, was die Futuristen vor ihm gesagt hatten. Der Futurismus war im Grunde eine künstlerisch ausgeformte "Vorahnung" (Trotzki) der zukünftigen Katastrophen und Fortschritte, der Zukunft. Trotzkis scharfsinniger Verstand hat aber noch weit mehr begriffen als das.



Die künstlerische Antizipation der russischen Revolution


So wie er eine großartige Revision des Marxismus auf politischem Gebiet vornahm, nahm Trotzki auch eine Revision der marxistischen Kunstauffassung vor. Nachdem er bereits 1906 Marxens These der "permanenten Revolution" zu einer vollwertigen und praxisnahen Theorie der "ungleichen und kombinierten Entwicklung" von Revolutionen weiterentwickelt hatte, entwickelte er nun eine Theorie der ungleichen und kombinierten Entwicklung in der Kunst. Er vermerkte:

"Zurückgebliebene Länder, die aber über ein gewisses Niveau geistiger Kultur verfügen, spiegeln in ihrer Ideologie die Errungenschaften fortschrittlicher Länder klarer und stärker wider. So hat das deutsche Denken des 18. und 19. Jahrhunderts die wirtschaftlichen Errungenschaften der Engländer und die politischen - der Franzosen widergespiegelt. Darum hat der Futurismus seinen klarsten Ausdruck nicht in Amerika - und nicht in Deutschland gefunden, sondern in Italien und in Rußland."

Diese Idee einer künstlerischen Antizipation der russischen Revolution ist im Übrigen auf die ganze russische Literatur seit dem 18. Jahrhundert anwendbar. Bis dahin steckte die russische Literatur noch in Kinderschuhen. Aber seit Puschkin (1799-1837), Anfang des 19. Jahrhunderts, wuchs die noch junge russische Literatur zum Riesen in der Weltliteratur heran, von dem die russischen Dichter heute noch zehren können. In jedem anständigen Kanon der Weltliteratur sind daher zurecht einige Russen genannt, fast immer Tolstoi und Dostojewski, aber auch Pasternak oder Nabokow.

Die jämmerlichen sozialen und politischen Verhältnisse Russlands im 19. Jahrhundert ermöglichten es den Literaten paradoxer Weise, unsterbliche Meisterwerke und menschliche Höchstleistungen zu schaffen. Denn die sozialen Widersprüche des sich entwickelnden Kapitalismus erreichten in Russland eine so große Spannung, dass sie die ganze gesellschaftliche Ordnung bedrohten. Eine Aufarbeitung der Ursachen für diese Spannung war absolut notwendig, wenn man eine soziale Explosion verhindern wollte.

Die zaristische Autokratie allerdings, der reaktionärste Polizeistaat Europas, unterdrückte die Gewissens-, Rede- und Pressefreiheit mit aller Kraft, die ihre Bürokratie noch aufbringen konnte. Die gebildeten Klassen konnten daher gar nicht anders als diese Spannungen von ihren Vertretern künstlerisch verpackt zu erfassen. Die schönen Künste waren der einzige Ort, an dem sich die Intelligenz des Zarenreiches frei austoben konnte. Und die Darstellung der realen Spannungen zwang sogar reaktionäre Künstler wie Dostojewski dazu, äußerst radikale Kunstwerke zu produzieren, die im Grunde schon Jahrzehnte vor der Oktoberrevolution dieselbe vorhersahen. Majakowski war also nicht der erste Dichter der Revolution. Aber er war wohl der bewussteste Dichter der Revolution.

Die Entwicklung der russischen Revolution hat Majakowskis Kunst und der Kunst in ganz Russland einen enormen Auftrieb gegeben. Majakowski gewann durch die neue soziale Perspektive auch eine neue ästhetische Perspektive. Dieser Mann war bereit, alles für diese Perspektive zu tun und bewies das künftig.



Die gesellschaftliche Notwendigkeit neuer Kunst


Kunst sollte nun noch mehr als zuvor ihre Möglichkeiten ausreizen. Diese sollten mit den neuen gesellschaftlichen Möglichkeiten im revolutionären Russland einhergehen. Kunst sollte die Avantgarde in der Politik unterstützen und damit wirklich zu einer Avantgarde-Kunst werden.

Besonders paradox ist bei Majakowski die komische Verbindung von äußerster Parteilichkeit und äußerster Autonomie der Kunst. Denn die nun auch künstlerisch wirksame Parteilichkeit schränkte Majakowskis Kunst nicht ein. Seine Parteilichkeit zwang ihn nicht zu blindem Gehorsam gegenüber der kommunistischen Partei und nicht zur Fesselung seiner Kunst durch Politik. Vielmehr entfesselte sie seine Kunst! Die politische Leidenschaft Majakowskis befreite seine künstlerische Leidenschaft.

Das veränderte seinen Begriff von Kunst, die nun die Kunst der Avantgarde der Menschheit sein sollte. Die Befreiung der Kunst von Altlasten sollte die Befreiung der Menschheit von Altlasten unterstützen und letzterer vorausgehen. Die neuen sozialen Möglichkeiten im revolutionären Russland sollten neue künstlerische Möglichkeiten eröffnen. Ulbrecht schreibt in diesem Sinne:

"Die Zerschmetterung der dargestellten Wirklichkeit in Einzelteile und Bruchstücke bei den Malern und die damit verbundene Entlastung der Kunst von jeglicher äußerer Gängelung und Konvention auf dem Weg zu ihrer Autonomie muß für Majakovskij und sein Werk geradezu befreiend wirken"

Seit 1917 sah Majakowski die Grenzen aller vorangegangenen Kunst samt des bisherigen Futurismus klarer. Diese Einsicht ermöglichte eine radikale Kritik an bisherigen Künsten und Medien: Lyrik, Dramatik, Epik, Malerei, Fotographie, Filmographie, Architektur und Modellbau. An Stelle der alten Formen sollte etwas Neues treten, dessen Formen noch unklar blieben. So schrieb Majakowski in seiner typisch martialischen Ausdrucksweise:

"Zerschlagen werde die alte Sprache, die ohnmächtig ist, den Sprunglauf des Lebens einzuholen."

Das Leben in Russland hatte bereits die alten sprachlichen Konventionen überholt. Die alte Sprache, die Majakowski nun konservativ und unpraktisch erschien, war tatsächlich zum Hindernis geworden. Eine neue Sprache musste her, um der neuen Realität gerecht zu werden. Aber was für eine Sprache sollte das sein? Das war auch den Avantgarde-Künstlern und Majakowski noch nicht klar. Sie mussten daher experimentieren.

Klar war jedoch bereits, dass die neue Realität zu komplex geworden war für die alte Sprache eines Puschkin oder eines Tolstoi. Die neue Sprache musste fähig werden, die neue Kompliziertheit darzustellen. Dafür brauchte es neuer Inhalte und neuer Formen in der Sprache. Eine völlig neue Sprache aus dem Nichts heraus zu entwickeln, war dennoch nicht der Weg, den Majakowski einschlug.


Dialektische Montage und die Gefahren der technokratischen Revolution


Die sozialistischen Avantgarde-Künstler wussten, dass sie die alten Sprach- und Denkgewohnheiten nicht völlig ausradieren konnten, sondern weiterentwickeln mussten. Schließlich wollten sie kein kleiner elitärer Kreis bleiben, wie die italienischen Futuristen, die deswegen auch völlig versagten, sondern die gesamte Gesellschaft umwälzen. Dafür mussten sie praktische Neuerungen der Sprache anbieten. Schklowski, der große Theoretiker des russischen Formalismus, vermerkte passend dazu:

"Die menschliche Kultur ist 'montiert'. Das Vergangene verschwindet nicht. [...] Das 'Neue' erscheint als Abwandlung des Alten, es ist die dialektische Anwendung des Alten."

Eine "dialektische Anwendung des Alten" durch Montage? Was meinte er damit? Dialektik und Montage sind zwei zentrale Begriffe, um Majakowskis Ästhetik wie die Ästhetik der anderen sozialistischen Avantgardisten zu begreifen.

Die Dialektik kann als konfliktgeladene soziale Bewegung verstanden werden, die keine starren Verhältnisse erlaubt. Alles ist stets in Bewegung. Auch scheinbar uralte gesellschaftliche Gewohnheiten und Beziehungen sind stetem Wandel unterworfen. Dieser Wandel geht in Form von mit einander ringenden Tendenzen vor sich. Die progressiven Kräfte Russlands z.B. setzten sich im Kampf gegen die reaktionären Kräfte durch, sodass es zur Oktoberrevolution gekommen war. Die Dialektik der Gesellschaft, die explosiven Spannungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, erzwang eine Modernisierung des Ganzen. Die Revolution wurde absolut notwendig, um einen völligen Verfall der Gesellschaft zu verhindern. Revolution aber ist ein hektischer Tanz, den man beherrschen muss, um Chaos und unnötige Zusammenstöße zu vermeiden. Und die sind schwer zu vermeiden wegen der Uneinheitlichkeit der Gesellschaft. Deren Teilung und Zersplitterung in verschiedene Tendenzen verweist auf den anderen Begriff, die Montage.

Die Montage wurde zum wichtigen Prinzip der Avantgarde-Kunst. Es ging nicht wie in früheren Kunstwerken um Harmonie und Einheitlichkeit in der Kunst, sondern umgekehrt um die Disharmonie und Uneinheitlichkeit der Kunst. Sie waren Teil der neuen Realität, die nun nicht mehr durch ein einziges Prinzip gesteuert zu sein schien. Die frühere Einfachheit und Einheit der Gesellschaft und ihr Verständnis musste anders erreicht werden als durch die alten Mittel der Erkenntnis, denn die kapitalistischen Verhältnisse in Russland waren viel komplizierter geworden als es die vor-kapitalistischen Verhältnisse unter der Autokratie der Zaren noch waren.

Ulbrecht vermerkt in seiner Arbeit über Majakowski die Vorwegnahme des späteren postmodernen Denkens bei ihm. Das postmoderne Denken, welches seit den 70er Jahren die Uneinheitlichkeit, Fragmentierung, Zersplitterung, Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit und Unvollendung gesellschaftlicher Strukturen im neoliberalen Kapitalismus auf die Ebene des Geistes hebt und übernimmt, ist daher keine ganz neue Erfindung der letzten Jahrzehnte, sondern ein älteres Phänomen.

Allerdings war Majakowski ein leidenschaftlicher Sozialist und hervorragender Künstler, dem daher klar war, dass es einen Unterschied zwischen Gesellschaft und Kunst, zwischen sozialer Fragmentierung und künstlerischer Widerspiegelung derselben gab. Diese Fähigkeit zur Differenzierung fehlt bei nicht wenigen postmodernen Gedankengebäuden, die daher notwendig einstürzen müssen wie billig gebaute Schulen im heutigen Sichuan. Ulbrecht jedenfalls merkt an:

"Der Entfremdung und Verdinglichung innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft hält der avantgardistische Künstler das Prinzip der Montage entgegen, um das Subjekt in seinem unheilvollen Zustand der Zersplitterung und Deformierung nachzeichnen zu können. Sein montiertes Kunstwerk will darauf hinweisen, daß es 'aus Realitätsfragmenten zusammengesetzt' und der Fragmentcharakter ein Kennzeichen der Vielschichtigkeit der abgebildeten Realität ist. Insgesamt erwirkt das Kunstwerk den Eindruck eines 'Zusammenhangs des Nichtzusammenhangs'."

Von einem Erdbeben zerstörte Häuser in der
chinesischen Provinz Sichuan, von ZEIT.de  |  ©Stringer China/Reuters

Die dialektische Montage der Avantgardisten ist also ein Mittel der Aufklärung. Die Avantgardisten bekämpften das rationale und dialektische Denken nicht, sondern kritisierten mit genau solchem Denken die gefährliche Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Die war im Ersten Weltkrieg völlig außer Rand und Band geraten als die liberalen und sozialdemokratischen Bourgeoisien Europas ihren aufgeklärten Liberalismus in reaktionärstem Nationalismus ertränkten. Das "liberale" Bürgertum hat damit die bürgerliche Gesellschaft, die kapitalistische Bestie entfesselt. Da die bestialische Seite der bürgerlichen Gesellschaft der imperialistische Kapitalismus ist, führte ihre Entfesselung zu Massenmord und Massenverelendung. Angewidert von dieser "zivilisierten" Gesellschaft, wollten die antikapitalistischen Avantgardisten sie entlarven als das, was sie schon immer war: eine barbarische Klassengesellschaft, die überwunden werden muss. Dialektische Montage veranschaulicht diesen Zusammenhang von bürgerlicher "Zivilisiertheit" und kapitalistischer Barbarei, zweier kämpfender Tendenzen der heutigen Gesellschaft.

Die Jahre 1989/90 und 1917/18 stehen ebenso für zwei gegensätzliche Tendenzen. Im Gegensatz zur Zeit nach 1989 war die Zeit nach 1917 eine kurze Epoche der geistigen Blüte. Seitdem der Zusammenbruch der Sowjetunion auf die globale Linke wirkt, sie verwirrt, das postmoderne Denken gestärkt und aus einigen typisch deutschen Linken Ausgeburten nationalistischer Ideologien gemacht hat, die sich progressiv oder emanzipatorisch dünken, hatte die Oktoberrevolution und der anfängliche Aufbau der Sowjetunion die globale Linke motiviert, geläutert, das dialektische Denken gestärkt und sogar die Deutschen, diesen tragischen Auswuchs des verspäteten Nationalismus, an den Rand eines Umsturzes der bürgerlichen Ordnung getrieben. Trotzki schrieb über den Zusammenhang von Nation und Kunst:

"Es ist kein Zufall und kein Mißverständnis, sondern völlig gesetzmäßig, daß der italienische Futurismus im Strom des Faschismus aufgegangen ist. Der russische Futurismus wurde in einer Gesellschaft geboren, die [...] sich auf die demokratische Februarrevolution vorbereitete. Schon dies brachte unserem Futurismus Vorteile. Er fing die noch unklaren Rhythmen der Aktivität, des Handelns, Ansturms und der Zerstörung ein. Den Kampf um seinen Platz an der Sonne führte er schärfer und entschiedener, vor allem aber lärmender als die ihm vorangegangenen Schulen in Übereinstimmung mit seinem aktivistischen Weltempfinden. Der junge Futurist ging natürlich nicht in die Werke und Fabriken, sondern polterte in den Cafés herum, trommelte mit der Faust auf Rednerpulte, zog sich eine gelbe Bluse an, färbte sich die Backen und drohte wer weiß wem mit der Faust."

Der russische Futurismus war also in die revolutionäre Begeisterung geraten, die der Oktoberumsturz auf der ganzen Welt provozierte. Die Geistlosigkeit der tradierten bürgerlichen Kunst sollte nun ebenso hinweggefegt werden wie das geistlose Bürgertum Russlands. Ergraute Greise und ihre Klassiker sollten nun der radikalen Jugend und ihren Experimenten weichen. Selbst wenn Majakowski den russischsten aller Dichter, Puschkin, verehrte, so musste er vom "Dampfer der Gegenwart" gestoßen werden, wie Majakowski forderte. Puschkin hatte die moderne russische Sprache geprägt wie kein Anderer und gehört wieder in Form einer Gesamtausgabe in jedes gutbürgerliche Wohnzimmer, das etwas auf sich hält. Im revolutionären Russland des 20. Jahrhunderts war der verstaubte Puschkin aus dem 18. Jahrhundert (geboren 1799) jedoch reaktionär geworden.

Wie konnte das geschehen? Hatte Lukács nicht die ewige Schönheit Puschkins proklamiert? Hat Puschkin nicht die tiefsten menschlichen Probleme angesprochen? War er nicht noch immer hoch aktuell und damit revolutionär? Jein. Majakowski forderte im Gefolge der sozialen Revolution nichts anderes als eine Kulturrevolution. Majakowski war zwar kein Mao Zedong. Mao ließ in seiner "Kulturrevolution" die alte Kultur vernichten. Majakowski sah lediglich die Hürde als die sich die alte Kultur den politischen und künstlerischen Avantgardisten darstellte. Das konservative Festhalten an Puschkin wurde zum Hindernis.

Schließlich drohte die Gefahr der technokratischen Revolution. Die Technokratie, die Herrschaft einer Staatsmacht mittels immer weiter entwickelter Technik, hatte ihre gemeingefährlichste Gestalt bereits in den modernsten und "zivilisierten" Ländern gezeigt. Sie manifestierte sich schon im Ersten Weltkrieg, im aufstrebenden Faschismus und in den irrationalen und autoritären Tendenzen des geistigen Lebens in ganz Europa. Mit der gewaltsamen Niederschlagung der proletarischen Weltrevolution in jenen Jahren in Deutschland, Italien, Ungarn, Polen und China z.B., gelangte die Technokratie nun ausgerechnet im revolutionärsten, fortschrittlichsten und vorbildlichsten Land zur Höchstform: in Russland.

Die revolutionäre Ästhetik konnte von den sozialistischen Futuristen nicht zu Ende gedacht und gebracht werden. Sie scheiterte letztlich. Denn die revolutionären Tendenzen Russlands wurden im Gefolge der weltweiten Erdrosselung der Revolution fast völlig erstickt. Der geschundene Leichnam der russischen Revolution wachte als lebender Toter, als gruseliger Zombiestaat, als "staatsbürokratische Klassengesellschaft" wieder auf.

Majakowski

Das war der Aufstieg des Stalinismus im Osten. Der Stalinismus hat seit Mitte der 20er Jahre jegliche revolutionäre Tendenzen in Kunst und Gesellschaft bewusst unterdrückt und damit auch die Dichter der Revolution. Das hielt Stalin und seine Bürokraten natürlich nicht davon ab, aus Majakowski nach seinem Tod einen Säulenheiligen zu machen, um ihn für seine unheiligen Zwecke zu vereinnahmen. Verherrlichung und Vernichtung gehen nicht selten Hand in Hand. Und in Russland wurde nun das revolutionäre Erbe Lenins verherrlicht, nur um die revolutionäre Opposition gegen den Bürokratismus um Trotzki zu vernichten.

Der stalinistische Zombiestaat konnte nicht anders überleben als sich von den Leichen der revolutionären Avantgarde zu ernähren und sich deren Leichenteile wie das Frankenstein-Monster einzuverleiben. Dass daraus nur ein ein Dämon werden konnte, dessen Hässlichkeit der des faschistischen Behemoth in nichts nachstand, sollte Majakowski nicht mehr erleben. Sein ohnehin schon durch misslungenes Liebesglück und die misslungene Revolution gebrochenes Herz brachte er am 14.04.1930 durch eine Pistolenkugel, wie sein verhasst-geliebter Vorgänger Puschkin, zum Stillstand. Eines großen Poeten würdig verabschiedete er sich:

"An alle! Wie man so sagt, der Fall ist erledigt; das Boot meiner Liebe am Alltag zerschlug. Bin quitt mit dem Leben. Gebt niemandem die Schuld, dass ich sterbe, und bitte kein Gerede. Der Verstorbene hat das ganz und gar nicht gemocht. Mama, Schwestern, Genossen, verzeiht mir, das ist keine Lösung (anderen rate ich davon ab), aber für mich gibt es keinen Ausweg mehr"



Quellen


Brown, Edward J.: Mayakovsky. A Poet in the Revolution, Princeton 1973.

Ulbrecht, Siegfried: Die Dramatik des jungen Vladimir Majakovskij und des jungen Bertolt Brecht, Frankfurt am Main 1996.

Trotzki, Leo: Literatur und Revolution, Essen 1994.



*Im Blog sind kleine Korrekturen ja erlaubt, hehe. Vorher stand hier statt einer "3" fälschlicher Weise eine "2".

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