Dienstag, 28. Januar 2014

Majakowski als Dichter der Revolution, Teil 2

Majakowski als Dichter der Revolution, Teil 2. Vierter Teil der Serie zu Marxismus und Kunst.

Nachdem im ersten Teil der Serie die Ästhetik von Lukács dargestellt worden war, wurde die Ästhetik Majakowskis angerissen. Im folgenden Artikel wird sie nun zerrissen. Denn Majakowskis Ästhetik war lieb gemeint und sein Schaffen ist bis heute und wohl für alle Zeit bemerkenswert. Aber Majakowskis Kunst musste aufgrund seiner sozialen Umstände an ihre Grenzen stoßen, sodass sie bei weitem nicht realisieren konnte, was seine Ästhetik erfordert hatte. Wie seine Persönlichkeit insgesamt wurde seine Kunst von den sozialen Widersprüchen seiner Zeit in Fetzen gerissen. Genau wie Majakowski unter solchen erbärmlichen Umständen - wie der Stalinismus sie repräsentierte - den bemerkenswerten Freitod wählte, so wählte er den bedauerlichen Tod seines künstlerischen Projekts.

"Womöglich bin ich der letzte Dichter"
- Handschrift Majakowskis


Eine historisch-materialistische Einordnung der Kunst Majakowskis


Majakowski und die sowjetische Filmexplosion


Majakowski wird in der Literaturwissenschaft u.a. als stärkstes literarisch-bildnerisches Multitalent unter den russischen Futuristen und somit als Aushängeschild der "Annäherung zwischen literarischer und und bildnerischer Praxis" angesehen, wie Ulbrecht anmerkt. Tatsächlich war er sowohl Literat als auch Maler. Daneben war er auch Regisseur, Schauspieler, Grafiker und Modellbauer. Ein Universalgenie war er dennoch nicht. Dafür mangelte es ihm an philosophischen und vor allem sprachlichen Kenntnissen. Er beherrschte wohl nur das Russische. Trotz dessen konnte er den Geist seiner Zeit ganz vorzüglich herausarbeiten. Denn das Russische reichte dafür allemal.

Majakowskis früheste, explizit bolschewistische Arbeiten sind wohl Ende 1917/Anfang 1918 entstanden. Zu dieser Zeit war er Teil der neuen russischen Kino-Bewegung. Georges Sadoul, der französische Filmhistoriker, schrieb:

"Die Entwicklung des russischen Filmwesens hatte nach 1908 begonnen. In der Vorkriegsperiode wurden die meisten Themen der Literatur und der nationalen Geschichte entnommen. Der Krieg, der der Eroberung des russischen Marktes durch ausländische Filme ein Ende machte, ließ die Produktion anwachsen und schuf große Stars wie Iwan Mosjukin. Das künstlerische Niveau hob sich innerhalb der Grenzen des Geschäftsfilms ständig. Man entwickelte eine übertriebene Sorgfalt der Form und einen sich deutlich abzeichnenden Geschmack für mondäne und Kriminalfilme, für pessimistische, düstere und dekadente Stoffe."

Das russische Kino war bis zur Oktoberrevolution dennoch weit vom bereits hohen Niveau im Ausland entfernt. Aber die Oktoberrevolution brachte eine Wende. Es kam in Russland zu einer "sowjetischen Explosion" der Kreativität in der Filmkunst, wie es Sadoul formulierte. "Der sowjetische Film wurde am 27. August 1919 geobren, am Tag, da Lenin das Dekret zur Verstaatlichung des alten zaristischen Filmwesens unterschrieb." Anders als heutige Ideologen der Privatisierung sich vielleicht noch entblöden zu behaupten, ist Verstaatlichung nicht notwendiger Weise schlecht für Kreativität, Innovation und künstlerisches Schaffen.

Die Kunst der frühen Sowjetunion bewies, wie großartig die Revolution auf sämtliche Künste in und außerhalb Russlands wirkte. Die neuen Techniken des Films und der Montagetechnik konnten in der neuen Gesellschaft erst wirklich zur Blüte finden. Lenin und die anderen Bolschewisten erkannten die große Bedeutung des Films und förderten ihn ganz besonders, was sich für das russische Kino phänomenal auswirkte. Obwohl gerade der Film zu jener Zeit die größten Hindernisse überwinden musste. Sadoul schreibt:

"Die Anfänge des sowjetischen Films stießen auf beträchliche materielle Schwierigkeiten. Der Bürgerkrieg beraubte die sowjetischen Filmschaffenden der Eliktrizität, des Rohfilms und sogar ausreichender Verpflegung. [...] 1922, als der Frieden hergestellt war, begann der Wiederaufbau der Wirtschaft. [...] Die Ateliers wurden wieder geöffnet. Die Techniker und Künstler der Vorkriegszeit fanden sich wieder zusammen. Es entstand der gigantische Film 'Aelita' von Protasanow, in merkwürdigen Dekorationen im 'konstruktivistischen' Stil gedreht. Doch die Zukunft des sowjetischen Films lag bei den Avantgarde-Gruppen, die mit Unterstützung der Regierung von ein paar jungen Leuten gegründet wurden".

Ganz anders als die jämmerlichen antikommunistischen Ideologen heutzutage behaupten, ist unter dem frühen Bolschewismus die Kunstfreiheit und Ausdrucksfreiheit keineswegs verschwunden. Umgekehrt. Sie nahm in erheblichem Maße zu, obwohl viele Künstler dem Bürgerkrieg und der Umgestaltung Russlands "entflohen" sind. Andere Künstler blieben. Lenin jedenfalls schätzte den Film so hoch ein, dass er ausrufen konnte: "Der Film ist für uns die wichtigste aller Künste". Der Film wurde also auf aller höchste Ebene der politischen Avantgarde auf die aller höchste Ebene der künstlerischen Avantgarde erhoben.

"Das Experementierlaboratorium", "Die Fabrik des exzentrischen Schauspielers" und die "Kinonarren" waren die wichtigsten Gruppen der Kino-Avantgarde. Die "Kino-Prawda", ein ergänzendes Blatt zur "Prawda" sollte "alles aus dem Kino ausschalten, das nicht 'dem Leben entnommen war'."

"Die 23 Folgen von 'Kino-Prawda' führten die 'Kinoki' zu einer noch extremistischeren Konzeption, nämlich der des 'Kino-Glas' ('Kino-Auge'). In ihren Filmen und ihren in futuristischem Stil verfaßten Manifesten verkündeten sie, daß der Film auf den Schauspieler, das Kostüm, die Schminke, das Atelier, die Dekoration, die Beleuchtung - kurz auf die ganze Inszenierung verzichten und sich der Kamera unterwerfen solle, einem Auge, das noch objektiver sei als das menschliche Auge. Die Empfindungslosigkeit der Maschine war ihnen der beste Garant der Wahrheit. Da die Aufnahmen vor allem darauf abzielen sollten, das Leben improvisiert zu packen, bestand die Kunst fast völlig in der Montage."

Die russische Montagekunst wurde bald weltbekannt und die übertriebenen Theorien des "Kino-Auges" und der empfindungslosen Darstellung...

"lenkten die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Montage, auf die Notwendigkeit, den Menschen in seinem gesellschaftlichen Milieu und in seinem Leben zu überraschen, sie trugen zur Erschließung neuer Wege bei. Aber in ihren Werken rannten sie gegen das Unmögliche an."

Die futuristischen Ansprüche scheiterten letztlich, da sie viel zu viel erwarteten. Mehr Sinn für Realismus hätte ihnen nicht geschadet. Aber die ungestüme Art der Filmschaffenden, zu denen auch Majakowski zählte, schuf neue Perspektiven und Kunstprojekte, die den russischen Künstlern Respekt und Beschäftigung brachten. In einem Brief gestand Majakowski seiner Geliebten Lilja Brik, mit der er sich, nebenbei bemerkt, zusammen mit ihrem Ehemann Ossip Brik in einer absonderlichen Dreiecksbeziehung befunden hat:

"Dinge sind in bemerkenswertem Maße abstoßend. Ich bin gelangweilt. Ich bin krank. Meine einzige Unterhaltung (und ich wünschte, du könntest es sehen; es würde dich furchtbar amüsieren) ist, dass ich im 'Kino' spiele."

Majakowski war offenbar gefangen im alexithymischen Auf und Ab, das für große Geister und Künstler so typisch ist. Selbst er, der größte und stärkste aller futuristischen Sprachkünstler, konnte seine Emotionen nicht angemessen in Worte fassen. Kaum eine Menschenseele konnte ihn verstehen. Seine Konflikte mit der Welt hatten sicher auch mit seiner neuen Auffassung von Kunst zu tun. Majakowski

"stellte seine avantgardistische Zeitschrift 'Ljef' dem jungen Theaterregisseur Eisenstein zur Verfügung, der hier die Vorzüge eines neuen Verfahrens, der 'Montage der Kollisionen' pries. [...] Das Wort 'Kollision' wurde von ihm in fast philosophischem Sinn als eine heftige Empfindung aufgefaßt, die dem Zuschauer aufgedrängt wird. Die Montage fügte willkürliche 'Kollisionen' in Raum und Zeit zusammen. So fügte er in Ostrowskis klassische Gesellschaftskomödien Clown- und Akrobatennummern und sogar einen kleinen Film ein: 'Ein gutes Pferd, das niemals strauchelt'. [...] Bald darauf drehte er seinen ersten Film: 'Der Streik', in dem er seine [...] Theorie in die Praxis umsetzte; Bilder vom Massaker der Arbeiter unter dem Zaren wechselten ab mit Aufnahmen abgestochener Tiere aus dem Schlachthaus."

Nach "Der Streik" folgte Eisensteins Großmeisterwerk "Panzerkreuzer Potemkin". Der Film hatte als Helden nur die revolutionäre Masse, nicht aber einzelne Schauspieler oder Charaktere. Sadoul vermerkt:

"Die Einführung der Masse als Held hätte eine gewisse Verwirrung zur Folge haben können. Aber das klare und streng chronologische und historische Drehbuch von Nina Agadschanowa-Schutko schuf zwei klar umrissene Kollektivgestalten: den Panzerkreuzer und die Stadt; das Drama entstand aus ihrem Dialog und ihrer Vereinigung."

In diesem überaus dokumentarischen Propaganda-Film über die russische Revolution kommt die "Montage der Kollisionen" ebenso vorzüglich zur Geltung wie die historische Wahrheit, dass die Revolution ein gewaltiges Menschheitsprojekt war, das von dramatischen Szenen untrennbar ist:

"die Mutter, die die Leiche ihres Sohnes trägt; der Kinderwagen, der allein die Stufen hinunterkollert; ein ausgestochenes, blutiges Auge hinter eisernen Brillen. Die Übertreibungen und das Unmenschliche der Theorien verschwinden unter dem Elan der russischen Revolution und der Aufrichtigkeit Eisensteins, seinem Mitleid, seiner menschlichen Wärme, seinem Zorn. Fast überall außerhalb der UdSSR wurde 'Potemkin' von der Zensur verboten, und überall fanden sich begeisterte Zuschauer im geheimen zusammen. Die Unterdrückung verzehnfachte die explosive Wirkung dieses Meisterwerkes, das jetzt in den Filmarchiven eifersüchtig aufbewahrt wird. Der Film erlangte rasch größere Berühmtheit als irgendein anderer, von den Chaplin-Filmen abgesehen." 

Neben ähnlich aufgemachten Filmen wie "Oktober" gab es auch solche wie "Generallinie", in dem eine Bäuerin zur Schauspielerin gemacht wurde, in dem es kaum Dekoration oder künstlerische Übertreibung gab. Lumière und Wertow gaben Eisenstein das Motto des Films vor:

"Das Leben in seiner Wahrheit, in seiner Nacktheit reproduzieren und seine soziale Tragweite, seinen philosophischen Sinn herausarbeiten."

Majakowski war Teil dieses Filmschaffens. Er schrieb Drehbücher, schauspielerte und beschäftigte sich mit neuen künstlerischen Techniken. Er schrieb die Drehbücher für "Not born for Money", "Закованная фильмой" ("Im Film gefangen" - oder so), "Барышня и хулиган" ("Die Dame und der Hooligan"), in denen er selbst zusammen mit Lilja Brik die Hauptrollen dieser teils ultradramatischen Liebesfilme spielte. Der Hooligan z.B. verliebt sich ganz wie Shakespeares Romeo in eine Frau mit höherem Status, für die er im Kampf tödlich verwundet wird. Die Mutter des Hooligans muss dem Sterbenden seinen letzten Wunsch erfüllen, ihm seine Geliebte bringen, damit sie ihn ein letztes Mal küssen kann. Wir wollen darauf hier nicht näher eingehen. Jedenfalls hat die Montage in Film und Fotographie Majakowskis restliche Kunst geprägt. Darum soll es im Folgenden gehen.

Lilja Brik und Majakowski, 1915


Ultraradikale Dichtung


1918 kam die erste und einzige Ausgabe der Futuristenzeitung heraus, in der Majakowskis Gedichte "Unser Marsch" (Наш марш) und "Frühling" (Весна) erschienen. Dann wurde das Journal "Kunst der Kommune" (Искусство коммуны) zum zentralen Organ der Futuristen. Teils spiegelte das die Anerkennung der Futuristen als offizielle Richtung innerhalb der Sowjetunion wider. Denn das wöchentlich erscheinende Blatt wurde vom Volkskommissariat für Erziehung herausgegeben. Andererseits erhielten die Futuristen nie den Status, den sie haben wollten. 

Die russischen Futuristen wollten ihrem Hochmut entsprechend als DIE proletarische Richtung anerkannt werden. Wurden sie aber nicht, denn die Bolschewisten wollten trotz Verstaatlichung keine monolithische Kunstproduktion. Es galt, die Kunst in alle Richtungen weiterzuentwickeln. Die alten bürgerlichen Richtungen, die Futuristen, Proletkult-Anhänger, sozialistische Realisten und andere sollten nebeneinander existieren. Bronstein (Trotzki) schrieb dazu:

"In der Kunst ist alles erlaubt."
"Wenn die Revolution auch gehalten ist, zur Entwicklung produktiver materieller Kräfte ein sozialistisches Regime nach zentralem Plan aufzurichten, so muß sie doch von Anfang an für das intellektuelle Schaffen ein anarchistisches Regime individueller Freiheit etablieren und sichern."
"Keine Autorität, kein Zwang, nicht die geringste Spur von Befehl!"

Verblüffend, nicht wahr? Trotzki war doch der blutrünstige Kommunist, der die Rote Armee gegründet und einen grausamen Bürgerkrieg gegen die konservativen "Weißen" geführt hatte. Wie konnte er da auf einmal von Anarchismus in der Kunst und Zwanglosigkeit sprechen? Spottet das nicht aller Realität? Nein und nochmals nein.

Die Kommunisten wollten den Bürgerkrieg und die Invasion der Sowjetunion durch 13 verschiedene imperialistische Armeen ebenso wenig wie den Ersten Weltkrieg. Die Imperialisten, der Zar, die "Weißen" und die anderen Feinde der Kommunisten dagegen verheimlichten ihre Blutrünstigkeit nicht im geringsten. Ihre Attacken auf militärischem und ideologischem Gebiet wurden dennoch auf bewundernswerte Weise abgewehrt, durch eben solche Trotzkis und Futuristen, von denen einige in der gefürchteten Tscheka arbeiteten, um "Weiße" aufzuspüren. Dass sich später die Revolution tatsächlich in eine einzige "alte Scheiße" (Marx) unter Stalin verwandelte, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Aber ebenso wenig der radikal-demokratische Charakter der Revolution vor Stalins Aufstieg.

Trotzki und die Futuristen allerdings waren schlicht am Aufbau einer besseren Gesellschaft interessiert. Der selbe Trotzki maßregelte dennoch die Futuristen. Er kritisierte den Hochmut der Futuristen und belehrte sie über die Notwendigkeit einer breiten, auch klassisch-bürgerlichen Bildung der breiten Massen. Einen Kult um proletarische "Eigenbröteleien" lehnte er entschieden ab. Auch den sektiererischen Anspruch der Futuristen, die einzige akzeptable Richtung zu sein, winkte er mit einigen Sätzen elegant ab:

"Aber man muß doch nur ein Minimum an historischem Augenmaß besitzen, um zu begreifen, daß bei unserer gegenwärtigen wirtschaftlichen und kulturellen Armut noch die Gebeine mehrerer Generationen vermodern müssen, bevor die Kunst mit dem Alltag verschmilzt, das heißt, bis zu einem derartigen Aufschwung des Alltags, daß er völlig von der Kunst geformt wird. Ob gut, ob schlecht, aber die 'Staffelei'-Kunst wird noch viele Jahre lang ein Mittel der künstlerischen und gesellschaftlichen Erziehung der Massen bleiben und ihrem ästhetischen Genuß dienen: nicht nur die Malerei, sondern auch die Lyrik, der Roman, die Komödie, die Tragödie, die Bildhauerei und die Symphonie. Wollte man aus lauter Opposition die kontemplative, impressionistische, bourgeoise Kunst der letzten Jahrzehnte die Kunst als Mittel der Darstellung, als anschauliche Erkenntnis ablehnen - es hieße wahrhaft der Klasse, die eine neue Gesellschaft aufbaut, ein Instrument von allergrößter Wichtigkeit aus der Hand schlagen."

Der selbstbewusste Majakowski war natürlich ganz anderer Meinung. In seinem allzu gebieterischen "Befehl an die Armee der Kunst" forderte er seine Künstlerkollegen dazu auf, die "Barrikaden des Herzens und des Verstandes" zu stürmen: "Auf die Straßen, Futuristen, Trommler und Dichter!" "Die Straßen sind unsere Pinsel, die Plätze unsere Paletten." In seinem "Dekret Nr. 1 über die Demokratisierung der Künste" forderte er noch mehr: 

"1. Mit der Vernichtung der Zarenherrschaft wird von heute an auch die Verbannung der Künste in die Paläste, Galerien, Salons, Bibliotheken, Theater und all die anderen Scheunen und Vorratskammern des menschlichen Genius aufgehoben.
 
2. Im Namen der allgemeinen Gleichheit vor der Kultur sei das freie Wort der schöpferischen Persönlichkeit auf die Häuserwände, Zäune, Dächer und Straßen unserer Städte und Dörfer, auf die Verdecke der Automobile, Kutschen und Straßenbahnen und auf die Kleidung jedes Bürgers geschrieben. 
3. Wie leuchtende Regenbögen mögen sich Bilder (Farben) auf den Straßen und Plätzen von Haus zu Haus spannen und das Auge (den Geschmack) der Passanten erfreuen und erziehen.“

Majakowskis futuristische Idee der neuen Gesellschaft war, wenn auch furchtbar utopisch, absolut genial und bemerkenswert. Die Idee war im Grunde eine wundervolle Perspektive, wonach die Kunst zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wirklich demokratisch werden sollte. Nicht bloß die Groß- und Kleinbürger sollten Kunst auf höchstem Niveau schaffen und genießen, sondern jeder und jede. Was für eine großartige Vorstellung!

Es sollte eine Konvergenz von Kunst und Gesellschaft, eine echte Künstler-Gesellschaft bzw. eine wirklich gesamtgesellschaftliche Kunst geben, die von jedem Arbeiter und jeder Arbeiterin alltäglich geschaffen werden sollte. Das ist immer noch eine schöne Idee und durchaus zu erreichen. Aber im Kapitalismus ist diese Utopie natürlich völlig unrealistisch, weil nur den Herrschenden das Privileg des schönen Lebens möglich ist. Für die überwältigende Mehrheit der Menschen in der Klassengesellschaft ist das Leben durch monotone Arbeit oder frustrierende Freizeit verunstaltet. Nach der Arbeit will man sein Bier trinken oder zum Sport gehen und eher selten die Gesellschaft bewusst künstlerisch gestalten...

Majakowski hielt das aber natürlich nicht davon ab, seine Forderungen weiterzuführen. In der zweiten Ausgabe von "Die Kunst der Kommune" erschien sein Gedicht "Zu früh zur Freude" (Радоваться рано), in dem er den säulenheiligen Dichter des russischen Volkes, "Puschkin, und die anderen Generäle des Klassizismus", d.h. die gesamte bisherige Kunst scharf attackierte. Die alte Kunst - ob romantisch, klassizistisch, realistisch, naturalistisch, symbolistisch oder was auch immer - sollte platt gemacht werden, um auf dem so neu bearbeiteten "sozialistischen" Boden eine völlig neue Gesellschaft mit einer völlig neuen Kultur aufzubauen. Trotzki machte sich über diese Idee lustig, denn er sah darin einen unfehlbaren Weg zum Proleten-Dilettantismus. Abgesehen davon sah der weitläufig gebildete und nüchterne Klassenkämpfer Trotzki die Problematik der "Dichter der Revolution" in klarerem Licht als der allzu leidenschaftliche und enthusiastische Futurist:

"Die futuristischen Dichter beherrschen die Elemente der kommunistischen Weltbetrachtung und Weltauffassung nicht organisch genug, um ihnen im Wort organischen Ausdruck zu verleihen; vielleicht haben sie es noch nicht im Blut. Daraus resultieren die häufigen künstlerischen, im Grunde genommen jedoch psychologischen Mißerfolge, die Schwülstigkeit und das Gepolter über der Leere. In seinen am stärksten der Revolution verpflichteten Werken wird der Futurismus bereits zu einer Stilisierung. [...] Aus eben diesem Grunde hören wir in der Poesie des Futurismus, selbst wenn sie sich voll und ganz der Revolution verschrieben hat, eine mehr bohemehafte als proletarische revolutionäre Einstellung."

Auch und gerade Majakowski traf diese Kritik am Futurismus. Trotzki sagte über ihn zwar: "Majakowski - ist ein großes oder, nach Bloks Definition, ein gewaltiges Talent." Und er lobte ihn noch weit mehr, sah auch seine große Bedeutung für die russische Kunstszene ein:

"Die künstlerische Grundidee Majakowskis ist fast immer bedeutsam, manchmal - grandios. Der Dichter nimmt in seinen Bereich sowohl den Krieg als auch die Revolution, sowohl das Paradies als auch die Hölle auf. Majakowski ist ein Feind der Mystik, des Muckertums in jeder Form, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen - seine Sympathien sind völlig auf seiten des kämpfenden Proletariats". 

Aber das revolutionäre Genie eines Bronstein täuschte sich nicht im Geringsten über die künstlerischen Mängel eines noch so revolutionär gesinnten Künstlers wie Majakowski:

"ihm fehlt das Gleichgewicht, und sei es nur das dynamische. Am schwächsten ist Majakowski dort, wo das Gefühl für Maß und die Fähigkeit zur Selbstkritik verlangt werden. Majakowskis Bejahung der Revolution ist natürlicher als bei jedem anderen russischen Dichter, weil sie sich aus seiner ganzen Entwicklung ergab."

Die ungestüme Art und Kunst Majakowskis erlaubten ihm kein Maßhalten. Er hat in all seine Werke im Grunde stets seine eigene Erfahrung eingebaut und es unübersehbar vor jedermanns und jederfraus Augen gestellt. Zu Zurücknahme seines Egos und zu Rücksichtnahme auf die gebieterischen Ansprüche "guter Kunst" war er kaum fähig. Er universalisierte überall sein Ich. Er war als Künstler "Majakomorphist" und "um den Menschen zu erhöhen, erhebt er ihn zu Majakowski", so schön sarkastisch formuliert Trotzki es. Immer überteibe der exzentrische Künstler es, immer schieße er über den Rand hinaus und begreife das erforderliche Maß nicht, um ganz große Kunst zu machen. Majakowski konnte daher als Lebenskünstler vielleicht sein Ziel erreichen, ein verdammt cooler Dandy zu werden, aber er scheiterte an seinen eigenen Ansprüchen.

Das zeigt sich an solchen Werken wie "150.000.000" oder an "Krieg und Frieden" und "Mysterium Buffo". In allen diesen Fällen übertreibt Majakowski es offenbar mit den Metaphern und Bildern. Er will mit ganzem Herzen die alte Ordnung bloßstellen, stellt aber bloß seine eigene Emotionalität dar. 

"150.000.000" sollte ein Epos der Revolution werden. Der Held sollte, wie in Eisensteins "Der Streik" die revolutionäre Masse von 150 Millionen Menschen werden. Der Antagonist sollte natürlich der faulende Weltkapitalismus sein. Die Wörter Majakowskis sind allerdings viel zu bemüht und sein "Majakomorphismus" kommt klar zum Vorschein, wenn er ganz fantastisch, aber unrealistisch von einem "in Speck verfettendem Wilson" spricht, "der Fett ansetzt, dessen Gebäuch etagenhoch anwächst" und wenn er von einer Unmenge von Generälen und Kapitalisten in Chicago faselt. Das ist offenbar eine reichlich übertriebene Darstellung der USA, ein platter Anti-Amerikanismus. Ähnlich bemüht sind die anderen hochpolitischen Texte von ihm. Trotzki kritisierte den Futuristen dafür scharf. 

"Die Wolke in Hosen" (Облако в штанах) ist ganz anders. Es ist laut unserem vielzitierten Bronstein "ein Poem der unerfüllten Liebe, das künstlerisch bedeutendste, schöpferisch kühnste und das am meisten versprechende Werk Majakowskis." Majakowski brachte darin tatsächlich eine nette Idee zum Ausdruck:

Schüttelst die struppige Mähne? −
Denkst du wirklich,
es weiß
auch nur einer von denen,
die da flattern,
was Liebe heißt?
Bin selbst ein Engel, zumindest gewesen -
blickte drein als putziges Zuckerlamm.
Doch nie wieder schenk ich den Stuten Gefäße
aus schmerzgehärtetem Porzellan.
Deine Allmacht, die uns zwei Arme leiht,
einen Kopf,
ein Knochengerüst,
vermag sie es nicht,
daß man ohne Leid
immer küßt, immer küßt, immer küßt?!

Ultraradikale Bebilderung


Die ultraradikale Dichtung Majakowskis wurde von einer ähnlich ultraradikalen Bebilderung begleitet. Der überzeugte Kommunist produzierte Unmengen an sogenannten "Rosta-Fenstern". Das waren im Grunde Agitationsplakate für die gute Sache. Stets wurde belehrt, zur moralischen Entscheidung zwischen zwei Alternativen oder zum revolutionären Handeln aufgerufen. In einem Rosta-Fenster z.B. fragt er: "1. Willst du die Kälte überstehen? 2. Willst du den Hunger überleben? 3. Willst du essen? 4. Willst du trinken? - Dann tritt ein [in die Partei, versteht sich]!"




In einem anderen Poster sind schlicht ein Stapel voller Bücher mit Ketten an den Seiten und einer Hand auf dem Stapel dargestellt. Wichtig ist die kurze moralische Belehrung: "Wissen zerreißt die Ketten der Sklaverei". Mit dem belehrenden Ton näherte sich Majakowski übrigens sehr stark Bertolt Brechts dialektische Kunst, die immer auf Belehrung und Entscheidung abzielte.


In einem anderen Plakat stellt er wieder den "fetten" Wilson, den amerikanischen Kapitalisten an sich, und den Proletarier an und für sich, dar. Sobald der Proletarier bewusst wird, fürchtet sich der Kapitalist. Die Entwicklung des Szenarios wird durch Montage bildlich gemacht. Ein Bild reicht für die Darstellung von Bewegung in solchem Sinne nicht. Daran ist der italienische Futurismus u.a. gescheitert (auch an seinen Neigungen zu Faschismus). Majakowski nutzt also die Montagetechnik, um die Dialektik, die Veränderung des Objekts und des menschlichen Subjekts darstellen zu können.


In einer weiteren Verbildlichung glorifiziert Majakowski die Komintern, die Kommunistische Internationale, d.h. den Zusammenschluss der sozialistischen Arbeiterparteien, der nach dem Ersten Weltkrieg und dem Verrrat der Sozialdemokratie an allen linken Idealen nötig geworden war. Leider konnte er die bürokratische Natur des Stalinismus und der Komintern nicht recht antizipieren. Dafür war ihm der Kommunismus noch nicht tief genug ins Blut eingegangen. Der unrealistische Schematismus war ein zentraler künstlerischer Fehler Majakowskis. Denn sein abstrakter und utopischer Ultraradikalismus, der 1918 noch revolutionär war, schlug unter den Bedingungen einer nicht mehr revolutionär geführten, sondern von konservativen Bürokraten regierten Sowjetunion um in reine reaktionäre Kunst zur leicht durchschaubaren Verherrlichung einer "staatsbürokratischen Klassengesellschaft". 


In unzähligen weiteren Agitationswerken war er ebenso binär und klischeehaft. Immer gab es auf der einen Seite völlig verhunzte Gestalten auf seiten des Kapitals und stolze Helden auf seiten der Arbeit andererseits, die den Sieg davontrugen. Leider trug Majakowski mit diesen Schemata auch seine eigene revolutionäre Kunst davon. Denn entweder merkte er nicht schnell genug, wie sehr sich die Sowjetgesellschaft nach dem Bürgerkrieg verwandelte oder er ignorierte es bewusst. Jedenfalls wurde er dadurch zum Apologeten des russischen Bürokratismus des Kommunistenschlächters Stalin, der letztlich gemeinsam mit dem westlichen Kapitalismus des "fetten Wilson" die ganze Weltrevolution erdrosselt hat.


Fazit


Wie kann man Majakowskis Werk zusammenfassen? Sein ganzes Leben war ein Versuch, seine futuristische Utopie zu realisieren. Er selbst war ein Kunstwerk. Seine Selbstdarstellung und leidenschaftliche Hingabe an Kunst und Revolution machten ihn zum Dichter der Revolution. Allerdings musste er an seinen Ansprüchen scheitern. Er hätte den Realitäten in die Bürokratenaugen sehen müssen. Dann hätte er seine wirklich rebellische Kunst nicht schematisieren und sein Talent dem Stalinismus opfern müssen. Er hätte wirklich große Kunst schaffen können, indem er die Realitäten Russlands nicht ignorierte, sondern sie kritisierte. Den Humor und das Talent dazu hatte er.

Allerdings lagen Majakowskis Probleme noch tiefer. Die bürokratisierte Sowjetunion war im Grunde immer mehr zu einer Union der gezwungen klatschenden Stalin-Fans geworden. Und diese Stalinisten, Bürokraten und neubürgerliche Snobs konnten oder wollten Majakowskis Anliegen nicht teilen. Sie verstanden ihn kaum.

Was 'ne Sch*€§e! Wie schmerzlich muss es sein, wenn ein so großer Mensch wie Majakowski es war aufgrund mangelnder Kommunikationsfähigkeiten sich in diesem noch viel größeren Universum völlig alleine fühlen muss? Wie selbstverständlich und leicht verständlich muss einem sein Freitod in diesem universellen Rahmen erscheinen? War der Freitod nicht eine unfassbare Erleichterung für seine so unerträgliche Beschwerlichkeit des Seins?

Wahrscheinlich war die Auslöschung seines hungrigen Egos ein erlösender Einzug ins Nirwana. Der Glückliche. Hoffentlich ist er dem ewigen Kreislauf aus Blut und Sch*€§e wirklich entkommen. Man könnte fast neidisch werden... Aber genug der absolut idealistischen Spekulation. Weiter geht's mit einer historisch-materialistischen Auffassung Majakowskis. Trotzki hat sie bereits formuliert und dem ist wohl ganz und gar zuzustimmen:

"Dem Futurismus die intelligenzlerische Hypostase abzustreifen ist ebenso schwer wie die Form vom Inhalt zu trennen. Gelänge dies aber, so würde der Futurismus dadurch eine so tiefe qualitative Umformung erleiden, daß er aufhören würde Futurismus zu sein. Dies wird auch so kommen, nur nicht morgen. Aber schon heute kann man mit Sicherheit sagen, daß vieles vom Futurismus nützlich sein und dem Aufschwung sowie der Wiedergeburt der Kunst dienen wird - unter der Bedingung allerdings, daß der Futurismus sich seinen Weg auf eigenen Füßen bahnt, ohne den Versuch, sich als staatliche Richtung zu dekretieren, wie er es zu Beginn der Revolution getan hat."

Mit Majakowskis Kunst ist aber etwas ganz anderes passiert. Der kommunistische Futurismus, dieses großartige Projekt, ist nicht zu einer echt sozialistischen Kunst geworden. Mit dieser Kunst ist stattdessen geschehen, was mit der ganzen Sowjetgesellschaft geschehen ist: sie wurde kraftlos, einfallslos und verbraucht. Kein Wunder, dass sich der leidenschaftliche Revolutionär und Künstler Majakowski unter solchen Umständen tötete, könnte man meinen...

Об эр ганц футуристиш даран дахтэ,
дасс Руссланддойче кюриллиш лезен кённен?



Infos


Brown, Edward J.: Mayakovsky. A Poet in the Revolution, Princeton 1973.

Kracauer, Siegfried: Theorie des Films, Frankfurt am Main 1985.

Sadoul, Georges: Geschichte der Filmkunst, Frankfurt am Main 1982.

Trotzki, Leo: Literatur und Revolution, Essen 1994.

Ulbrecht, Siegfried: Die Dramatik des jungen Vladimir Majakovskij und des jungen Bertolt Brecht, Frankfurt am Main 1996.

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