Mittwoch, 30. Dezember 2015

(Erfolgs-)Statistik zu Alexитhyмиan? Eine Bilanz zum Jahresende 2015

www.gettyimages.co.uk


Wie misst man den Erfolg eines Blogs?

  • An der Gesamtzahl an Aufrufen seit Beginn? 
  • An der durchschnittlichen Anzahl von Klicks pro Artikel? 
  • An der Erwähnung durch Promis? 
  • An der Kopie von Artikeln durch andere Blogs, etwa auch im Ausland? 
  • Am Reichtum des benutzten Wortschatzes? 
  • An der Schwierigkeit des Vokabulars?
  • Am inhaltlichen Niveau? 
  • Am Nachrichtenwert der Inhalte?
  • Oder am selbst gesetzten Ziel?

Die Gesamtzahl der Aufrufe betrug bis Ende 2015 über fünfundfünfzigtausend. Der am meisten gelesene Artikel ist ein Text über das uigurische Lamm... Das ist wahrscheinlich nicht allzu viel. Die bekannteren Blogger erzielen locker die dutzendfachen Quoten. Einige bekanntere Blogs und Webseiten wie diefreiheitsliebe.de, vineyardsaker.de, borotba.su und selbst die junge Welt (zumindest Mai 2014) und die DKP haben Artikel dieses Blogs zitiert oder ganz übernommen. Der Reichtum des Wortschatzes der deutschen Artikel mag nicht der größte sein, aber der Blog nutzt gelegentlich russisches und chinesisches Vokabular und es wurden diverse Übersetzungen ins Deutsche zuerst an keinem anderen Ort als diesem veröffentlicht. Das Niveau der Artikel schwankt sicherlich, aber es ist höher als das vieler professioneller Presseorgane, deren Nachrichtenwert konstant sinkt. Die Selbstbeschreibung des Blogs umriss seine zentrale Idee bis zum 30. Dezember 2015 noch so:

Dass die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft primär für solche zwischenmenschlichen Probleme die zentrale Ursache sein könnte, ist die zentrale Idee dieses Blogs.
[...]
In marxistisches Vokabular gefasst könnten Lesende dieses Blogs vermuten, dass es um die dialektisch gestellten Fragen von Basis und Überbau geht, die sich mannigfaltig ausdrücken in solch verschiedenen Phänomenen wie dem Ukraine-Konflikt, der Film-Industrie, der schönen Literatur oder den Klassenkämpfen im Nahen Osten.

Die meistgelesenen Artikel dieses Blogs repräsentieren gar nicht schlecht die verschiedenen Themen dieses Blogs, obwohl eher abseitige Texte - Filmkritiken, Anmerkungen zur marxistischen Klassen- oder Kunsttheorie oder futuristische Mythologie - weit weniger gelesen werden. Die tagespolitischen und musikalischen Themen ziehen definitiv am meisten Interessierte an.


  • Das uigurische Lamm wurde aus irgendeinem Grund am meisten geklickt. Ob der Blog wohl viele Veganer*innen oder doch eher viele Fleischfresser hat, ist damit nicht geklärt. Aber womöglich hat der exotische Titel oder das Bild vom Lamm die über viertausend Lesenden neugierig gemacht? 
  • Die praktisch unkommentierte Bebilderung der schiefen Vergleiche im Netz hat über zweitausend Klicks. Das ist nicht übel für so ein abstruses Thema.
  • Der Artikel über den genialen Rapper Cr7z hat ebenfalls über zweitausend Klicks erreicht. Die Hopper wissen ausführliche Besprechungen zu schätzen! Oder es gibt einfach mehr Hopper als Politinteressierte unter den Lesern und Leserinnen dieses Blogs.
  • Wiktor Schapinows Texte über die Ukraine haben zusammen fast viertausend Klicks erreicht. Das ist toll!
  • Paradoxerweise hat der Artikel über Jebsens Linkspopulismus ähnlich viele Leser wie die Besprechung zu Sookees Album "Lila Samt" - neigt Sookee doch eher dem antideutschen Lager zu.
  • Der übertrieben lange Text zu KenFM vom April 2014 hat keine tausend Klicks erreicht, ist aber gewiss einer der anspruchsvollsten Texte auf dem Blog. Sowohl linke wie rechte Köpfe explodieren da schon Mal beim Lesen. Dieser Artikel repräsentiert den Anspruch des Blogs besonders gut, da er zwar eindeutig dem linken Lager zugerechnet werden kann wie die meisten Texte, aber die deutsche Linke selbst scharf kritisiert, da Gerechtigkeit, Wahrheit und Parteilichkeit über gruppenbezogener Loyalität oder Cliquenmoral stehen müssen.
  • Die Rezension zum Deutschrapper Disarstar und der Text von Borotba über Terror durch die Faschisten in Kiew haben etwas über neunhundert Klicks angezogen. 

Ist dieser Blog nun eher erfolgreich oder doch eher irrelevant? Die Kommentare zum Blog liefern zumindest Indizien:

  • "Мы очень благодарны вам за перевод. Если есть такая возможность, переведите, пожалуйста и другие коммюнике, особенно последние. No pasaran!" - Borotba 
  • 【天哪,你中文超级好!!!】 - 中国人关于【ta 與 ta】的新诗 
  • "Deine Chinakenntnisse und deine Einordnung der chinesischen Kenntnisse finde ich sehr beeindruckend – richtig, richtig gut. Das kontrastiert aber m.E. mit einer völlig antiquierten Leninistischen Staatstheorie. Es kommt mir so vor, als schreibest du mit riesiger Wut im Bauch, und heraus kommt, dass der Staat sich darin erschöpfe, Unterdrückungsorgan der herrschenden Klasse zu sein. Heraus kommt dabei m.E. auch, dass deine brillanten Analysen über China ihre Strahlkraft im Rahmen dieser Staatstheorie verlieren." - Anonym über den Artikel "Menschenrechte und Klassenkämpfe in China heute
  • "Weitermachen!" - Anonym über diesen Blog 
  • "Ihr seid gut." - Anonym über diesen Blog 
  • "Sehr gut!! Solch eine Berichterstattung brauchen wir im Rap und nicht immer dieses Pseudo wer is wie lang im Game gelaber." - Anonym über diesen Blog 
  • "Hey, bin über Cr7z hierher gekommen und habe mir nach seinem sofort die Einträge überMaeckes, Disarstar und JAW durchgelesen. Sehr guter Blog!" - Anonym über diesen Blog 
  • "Der ganze Blog scheint recht lesenswert zu sein" - Anonym über diesen Blog 
  • "Hab ich dir schon gesagt, dass dein Blog ziemlich cool ist? Vor allem gut begründete China-Analysen sind in unseren Kreisen selten und deshalb sehr interessant. Weiter so, auch im 2014!" - Anonym über den Blog 
  • "alter das design [...] ist wirklich nichts für meine augen" - Anonym über das Blog-Design


Im Jahr 2016 wird der Blog hoffentlich wieder mehr Artikel bringen, je nachdem, ob die Bloggergemeinschaft hinter ihm wieder total broke und perspektivlos ist oder endlich eine andere, sinnvolle Beschäftigung findet.

2016 ist das Jahr des Affen. Daher wird der freche Affenkönig, der sich keiner Autorität außer vielleicht der Wahrheit unterwirft, den Blog schmücken. Spannend in diesem Zusammenhang ist vielleicht die Literatursoziologie des Sun Wukong. Kommentare dazu sind gern gesehen.

Auf ein Jahr 2016 mit all den anstehenden Kriegen, Bürgerkriegen, medialen Lügen, Komplotten, Verschwörungen und Verschwörungstheorien, die hoffentlich von vielen Kämpfen für sozialen Fortschritt begleitet werden!







Freitag, 18. Dezember 2015

Leo Kofler über die "proletarische Bildung"

Leo Kofler
Der österreichisch-deutsche Marxist Leo Kofler (1907-1995) widmete sich in diversen Schriften und Vorträgen dem Thema der Bildung, wie sie die drei großen Klassen im Kapitalismus - Proletariat, Kleinbürgertum und Großbürgertum - mehr oder wenig selbstverständlich kultivieren. Seine Ideen verbreitete dieser Autodidakt und Pädagoge, der durch Größe beeindruckte, an Volkshochschulen, Universitäten, vor Gewerkschaftern und Studierenden und einfachen Arbeitern. Auch heute noch sind seine Ansichten beachtenswert.

Im Folgenden Auszüge, wie sie in Koflers fast völlig vergriffenen Publikationen immer wieder zu finden sind. Teil 1 der Reihe zur Frage der Bildung bei Kofler und x-ter Teil von Klasse-is-muss.

Leo Kofler über die "proletarische Bildung"


Die Idealisierung des Arbeiters


Individuelle Tragödien wird es immer geben. Unglückliche Liebe ist auch in harmonischen Gesellschaften denkbar. Aber Tragödien ganzer Schichten, Klassen und Gesellschaften sind eine Erscheinung antagonistischer Ordnungen und treten, sonst latent verborgen, besonders in krisenhaften Niedergangsepochen hervor. Von den heute in die tragische Situation geratenen drei gesellschaftlichen Klassen des Bürgertums, des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft trifft sie die letztere am schwersten. Daß dies bei dieser in einem besonderen Sinne geschieht, wodurch sie sich in einer eigenartigen Weise über die beiden übrigen Klassen erhebt, werden wir später zeigen. Das in dialektischer Umkehrung des Loses des Arbeiters hervortretende Besondere in seiner Wesenheit hat schon Hegel bemerkt und analysiert. Allerdings hat Hegel noch den Adeligen als Herrn und den noch halb in Traditionen der Leibeigenschaft steckenden Knecht vor Augen gehabt. Das Herr-Knecht-Verhältnis bot sich ihm noch rein als das Verhältnis von Müßiggang und Tätigkeit dar. Indem Kojève und Sartre die Hegelsche Dialektik des Herr-Knecht-Verhältnisses unkritisch auf die moderne Zeit übertragen, gelangen sie zu Schlüssen, die in ihrer den Arbeiter idealisierenden Gestalt nicht haltbar sind.


In Aknüpfung an Hegel bemerkt Sartre folgendes: Der Arbeiter ist zwar der negativste, der abhängigste Teil der Gesellschaft. Aber indem er als einziger die Dingwelt durch seine Arbeit beherrscht, sie umgestaltet, mit seiner Geschicklichkeit umzubilden in der Lage ist, sie in den Griff bekommt und verändert, hat er in seiner Weise "Bildung". Zwar schreibt ihm der Herr vor, was er zu tun hat, manchmal bis in alle Einzelheiten hinein. Jedoch macht ihn gerade wiederum diese aufgezwungene Regelmäßigkeit seiner Arbeit auch freier, denn er muß nicht mehr wie der Angestellte auf die Eigenarten, die Psychologie des Herrn Rücksicht nehmen, er braucht ihm nicht zu schmeicheln; es genügt, wenn er der inneren und vorgeschriebenen Gesetzmäßigkeit der Arbeit folgt. - Wir müssen uns mit diesen wenigen Hinweisen begnügen, aber sie zeigen bereits, daß angesichts der wirklichen Lage des Arbeiters im Kapitalismus die zugunsten des Arbeiters kritisch sein wollenden Analysen Sartres nichts als eine Art Sophisterei ausmachen, die, wenn auch ungewollt, fast auf eine Art Beschönigung der Lage des Arbeiters hinausläuft. Als Sophisterei entpuppt sich vor allem die These von der Bildung des Arbieters, weil er die gegenständliche Welt umbildet. So sinnvoll eine solche dialektische, weil den Umschlag der tiefsten Abhänigkeit Und [sic!] Unbildung in eine Art von Bildung nachweisende Perspektive noch in Hegels Philosophie sein mochte, so wenig verweisen ihre Resultate auf die soziologische Wahrheit gegenwärtiger Zustände. Der Arbeiter läßt sich nicht begreifen aus der einfachen Beziehung zur Dingwelt, die er bearbeitet, sondern aus den allgemeinen zwischenindividuellen Verhältnisse betrachtet, läßt sich diese Dingbezogenheit in genau entgegengesetzter als der von Sartre herausgestellten Wirkung einsehen: als verdinglichte Versachlichung der Individualität des Arbeiters, als eine Form der Unterwerfung seiner menschlichen Eigenschaften unter dinglich-sachliche Erfordernisse des kapitalistischen Produktionsprozesses. Daß ein Gran Wahrheit in der These liegt, der Arbeiter würde die dingliche Welt im Griff haben, sie und damit in seinem wohlverstandenen Sinne sich selbst "bilden", was oft seinen berechtigten Stolz ausmacht, haben wir oben aufgewiesen, ist aber eine andere Sache und verliert innerhalb des allgemeinen kapitalistischen Entfremdungsprozesses seinen bis zur Verkehrung ins Gegenteil ihm in der isolierten Betrachtung zukommenden Sinn.


Fünf Symptome der proletarischen Tragik


Fünf konkrete Symptome sind es, die die Tragik des heutigen Arbeiters erkennen lassen.

Erstens die totale menschliche Verarmseligung, der proletarische Pauperismus, der völlig unabhängig von der Lohnhöhe unverändert bleibt. Er ergreift das emotionale Leben des Arbeiters bis hin zur Erotik, ebenso sein Bewußtsein, das jene auffallende dialektische Form zeigt, wonach bei steigender Verbürgerlichung der Arbeiterorganisation er zwar hinsichtlich der Anpassung an die bürgerlichen Lebensformen - hoffnungslos - mitzumachen versucht, jedoch sich stets ein klares Wissen um seine proletarische Situation und Wesenheit erhält (auch wenn er es selten ohne äußeren Anstoß artikuliert).

Zweitens ist die Bindung an das "Eigentum" zu erwähnen. Wir meinen hier nicht die Gebundenheit an das kapitalistische Eigentum in der Weise, daß der Arbeiter genötigt ist, seine Arbeitskraft anzubieten, um leben zu können und damit in Abhängigkeit vom kapitalistischen Eigentum gerät. Wir meinen im Gegentail das Eigentum des Arbeiters selbst, das, um in seiner Beengtheit und Armseligkeit erhalten oder um weniges vermehrt zu werden, die ständige Anforderung zu rastloser Tätigkeit und Aufopferung der Arbeiterindividualität stellt. Dieses Eigentum erfüllt jene gesellschaftliche Aufgabe, die seit Freud unter den Begriff des repressiven "Realitätsprinzips" subsumiert wird. Indem es zum autonomen Ziel im Arbeiterleben wurde, wirkt es als treibende dynamische Kraft, die dem einzelnen einredet, im Dienste seines Glücks dieses Ziel erreichen zu müssen, um ihn am Ende seines Lebens wissen zu lassen, daß er ein Opfer eines ideologischen Phantoms geworden ist.

Drittens ist ein zuverlässiges Kennzeichen des proletarischen Pauperismus der Schutz, der ihm durch die Sozialgesetzgebung gewährt wird. Nur der Gefährdete und Schwache bedarf eines solchen Schutzes. Der Bürger bedarf seiner nicht. Schon die Sprache verrät diesen Tatbestand, wenn gesagt wird, daß sich der Arbeiter etwas "leistet", während der Bürger z.B. einen Wagen "erwirbt".

Viertens haben scharfsinnige Beobachter bemerkt, daß die wichtigste Zeit im Leben des Arbeiters, die Arbeitszeit, eine "sterbende Zeit" ist. Sie ist unschöpferisch und von Langweile erfüllt, so daß auf den Europäischen Gesprächen der Gewerkschaften in Recklinghausen Kasnacich-Schmid unter Zitierung von Walter Rathenau sagen konnte:

"Das Arbeitsleid ist eine sehr reale Gegebenheit. Wer mechanische Arbeit am eigenen Leib kennengelernt hat, wer das Gefühl kennt, das sich ganz und gar in einen schleichenden Minutenzeiger einbohrt, das Grauen, wenn ein verflossene Ewigkeit sich auf einen Blick auf die Uhr als eine Spanne von zehn Minuten erweist, wer das Sterben eines Tages nach einem Glockenzeichen mißt, wer Stunde um Stunde seiner Lebenszeit tötet, mit dem einzigen Wusch, daß sie rascher sterbe, der wird das Märchen von der Arbeitslust mit Hohn beiseite schieben..."

Fünftens verweisen wir auf das vieldiskutierte Problem der Freizeit und der "Kultur", auf jene heute herrschende und für den Arbeiter in seiner großen Mehrzahl geltende Kultur, die sich bei genauer Prüfung als ein verdinglichtes Schema erkennen läßt, ausgestattet mit dem Zweck, das Individuum nicht durch Befreiung aus seiner menschlichen Entfremdung zu wandeln, sondern umgekehrt es in den entfremdeten Prozeß einzuordnen.

Bei diesem Punkt setzt die eigentliche Frage der Bildung in ihrer Beziehung zum Arbeiter ein. Auf der pauperisierten Lebensebene ist Bildung entweder nicht möglich oder bestenfalls als Bildung der zweiten Stufe beobachtbar. Jedoch lehnt der Arbeiter diese Bildung konsequent ab, er zieht die völlige Unbildung der Scheinbildung, die er überraschenderweise als solche - wenigstens gefühlsmäßig - durchschaut, vor. Vielleicht liegt in diesem ahnungsweisen Durchschauen der Scheinbildung seine eigentliche 'Bildung', oder besser, die Grundlage zu einer künftigen echten Bildung.

Die drei Formen des Schicksalserlebens


Wie Philosophie, Theologie, Literatur und Alltagsbewußtsein beweisen, kann Schicksal in dreifacher Weise erlebt und aufgefaßt werden: als gesellschaftlich-kollektives Schicksal, dem der einzelne unterworfen ist, mehr oder weniger ohne seine eigene Schuld; als individuelles Schicksal, wobei der gesellschaftliche Hintergrund nicht geleugnet wird, aber die Verantwortung für die Begegnung mit diesem Schicksal dem Individuum aufgelastet wird; als subjektives (versubjektiviertes) Schicksal, dessen Normen voll und ganz von den Bedingungen der objektiven Welt abgetrennt und in das Innere des Menschen verlegt werden. Der allgemeinen Tendenz nach läßt sich sagen, daß die erste Form des Schicksalserlebens für den Arbeiter, die zweite für den Kleinbürger,  die dritte für den Bürger charakteristisch ist - wobei stets hinzugefügt werden muß: in der Epoche der bürgerlichen "Dekadenz", in der sich diese drei Formen schärfer als sonst voneinander abgrenzen. Übrigens ist die dritte bürgerliche Form eine Neuerscheinung der Dekadenz selbst, dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts noch fremd. - So wenig dies auf den ersten Blick einleuchtet, so muß doch unterstrichen werden, daß mit diesen verschiedenen Formen des Schicksalserlebens die verschiedenen Formen der Bildungsauffassung eng zusammenhängen, und in weiterer Folge die verschiedenen geistigen Tragödien, die sich den sozialen anschließen und die sich im Bildungsproblem, wie es sich als ideologisches Problem darbietet, widerspiegeln.

Vom Arbeiter wird entsprechend seiner kollektivistischen Arbeits- und Lebenssituation das Schicksal als von objektiven gesellschaftlichen Mächten begriffen. Von unserem Standpunkt des dialektischen Totalitätsdenkens sind wir geneigt, dem zuzustimmen, wenngleich sich theoretisch die Vermittlungen zwischen dem Individuellen und dem Objektiven komplizierter darstellen, als dies dem naiven Bewußtsein des Arbeiters zugänglich sein mag.


Die proletarische Bildung


Erscheint dem Arbeiter das Schicksal als objektive gesellschaftliche Macht, dann folgt für ihn daraus, daß Wissen und Bildung keine andere Aufgabe zu erfüllen haben als die, diesem Schicksal, das er als bedrückend empfindet, kritisch und verändernd gegenüberzutreten, was nichts anderes als eine praktische Aufgabe. Bildung ist ihm nichts anderes als ein praktisches Werkzeug. Daraus resultiert eine eigenartige Dialektik im Denken des Arbeiters, die als eine tragische zu erkennen ist. Dies äußert sich darin, daß der Arbeiter den Träger des Wissens und der Bildung, den Intellektuellen, hoch einschätzt und achtet, ihm gleichzeitig aber als dem gefährlichen "Verführer" des Menschen im Dienste etwaiger Konservierung der schicksalhaften sozialen Verhältnisse mißtraut. Aber diese Dialektik geht weiter. Gerade weil der Arbeiter in der Bildung eine praktische Einrichtung erblickt, bekümmert er sich um sie nur so weit und nur zu jenen Zeiten, als er die Überzeugung gewinnen kann, sie praktisch-politisch auswerten zu können; er resigniert und wendet sich von ihr ab in Zeiten des Versagens seiner 'Bewegung', wobei sich das Mißtrauen gegen die sonst von ihm geschätzten Intellektuellen steigert. Einerseits ist er gerade wegen seiner praktischen Ausrichtung den andern Klassen insofern überlegen, als er in seiner naiven, ja primitiven Weltansicht und aus seinem unmittelbaren Erleben heraus das heutige gesellschaftliche Verhältnis als ein Herr-Knecht-Verhältnis durchschaut; dieses Durchschauen, das gleichfalls der ersten, unmittelbar empirischen Stufe der Bildung angehört, macht seine Bildung aus. Andererseits lehnt er wegen seiner praktischen Einschätzung aller Bildung im heutigen Zustand der resignierten Dekadenz die Bildung im gegebenen historischen Augenblick als für ihn irrelevant ab, zieht er ganz bewußt die Unbildung vor. Das ist die Lösung des vieldiskutierten Geheimnisses, weshalb der Arbeiter sich weigert, die bereitstehenden Bildungsinstitute auszunützen (z.B. die Volkshochschulen).

                                       
Das bewußte Aufsichnehmen der Unbildung, so sehr sie die Tragik des Arbeiters kennzeichnet, hat eines für sich: Er gibt sich keiner Illusion hin. Das Wissen um die ideologische Gebundenheit des Wissens und das Wissen um die eigene Primitivität verleiht dem Arbeiter eine illusionslose Klarheit, die bewirkt, daß er, besonders im Gegensatz zum Kleinbürger, keine subjektiven Minderwertigkeitsgefühle kennt, sondern nur solche, die aus einer gesellschaftlichen Lage, seiner sozialen Inferiorität kommen, also durch die objektive Realität veranlaßt sind. Deshalb kennt der Arbeiter keine subjektiven Schuldgefühle, was ihm jenen eigenartigen Gleichmut verleiht, der oft beobachtet worden ist. Illusionslos, versucht natürlich auch der Arbeiter sich vom allgemeinen Brotlaib ein Stück abzuschneiden und verlegt seine Träume, die sich in einem krassen Widerspruch zu seiner resignierten Anpassung an die gegebene Ordnung befinden und deshalb bewußtseinsmäßig mehr oder weniger zurückgedrängt werden, in eine ferne Zukunft. Aber diese beiden Momente: das klare Wissen um die eigene gesellschaftliche Inferiorität und der Hang zum Sozialutopischen, der unter Ablehnung der Bildung für sich selbst ihr trotzdem für die tätige Veränderung der Welt in der Zukunft einen hohen Wert zuspricht, bilden die Grundlage für die Ermöglichung jenes dialektischen Umschlags der resignierten Passivität in Aktivität, die noch heute gefürchtet wird, die Grundlage für den Widerstand, wenn die Umstände dies erlauben.


Die Mentalität des Arbeiters und die Mentalität der Arbeiterbewegung


Bei der Einschätzung der Mentalität des Arbeiters wird diese oft mit der Mentalität der Arbeiterbewegung verwechselt. Beide sind keinesfalls identisch. Das resignierte Aufsichnehmen der Unbildung, die geschichtliche und erfahrungsmäßige Gründe hat, hatte zwei vernichtende Folgen: das Verschwinden des in der Arbeiterbewegung unentbehrlichen und einst großartigen Volkstribunentums und die Beseitigung der direkten und indirekten Kontrolle der Organisationen seitens der Mitgliedschaft. Das Ergebnis war die Bürokratisierung der Arbeiterbewegung. An die Stelle der Bewußtseinsbildung trat der Praktizismus, an die Stell der Theorie, die zu befragen war, die Bürokratie, die ungefragt entschied. Die Bewegung und die Mitgliedschaft wurden nicht mehr durch Ideen, sondern durch Manipulation geleitet. Bewirkte der ideelle Einfluß die zustimmende geistige Gefolgschaft, so setzt die bürokratische Manipulation die resignierte Gleichgültigkeit voraus. Auf dieser Basis wird selbst jenes Maß von Bildung überflüssig, das früher unabdingbare Voraussetzung der Gefolgschaft der Arbeiter gewesen ist. Verstärkt der Bürokratismus die Resignation, so erlaubt diese Resignation den bildungsfeindlichen Bürokratismus. Und da aus dem kollektiven, objektivistischen Bewußtsein der Arbeiter heraus Bildung nur den Sinn gewinnt, wenn sie praktisch relevant wird, so lehnt er auch aus diesem zusätzlichen Grunde der Bedeutungslosigkeit der Bildung in den bürokratischen Organisationen sie ab. Ihrerseits bedürfen diese auf bürokratischem Wege gesellschaftlich integrierten Organisationen keiner Bildung, denn Bildung würde infolge ihrer kritisch-tätigen Wirkung diese Integration stören. Selbst als gängige Bildung der zweiten Stufe hat sie für den Bürokratismus nicht einmal den aufgezeigten illusorischen Sinn, denn aller Bürokratismus ist seiner Natur nach bildungsfeindlicher Praktizismus.

Spricht man, wie oft zu hören, von der Verbürgerlichung der heutigen Arbeiter, so steckt zumeist die Verwechslung mit der fortschreitenden Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung dahinter; wobei die Tatsache zur täuschenden Beurteilung beiträgt, daß tatsächlich im unvermeidlichen Anpassungsprozeß an verschiedene Lebensformen der heutigen Gesellschaft gewisse äußerliche Züge der Verbürgerlichung den Habitus des Arbeiters mitformen. Äußerliche, weil eine genaue Beobachtung zeigt, daß es zu einem als tragisch zu beurteilenden Widerspruch zwischen diesen Tendenzen zur Verbürgerlichung und der verbleibenden innersten Wesenheit des Arbeiters kommt.




Interessante Links rund um Kofler








Donnerstag, 17. Dezember 2015

Der neue Russe im Hollywood-Film

Screenshot aus "The Equalizer"
Der Russe an sich ist ein beliebtes Feindbild, wie wir alle wissen. Er ist grob, flucht viel, säuft, baut unnötige Unfälle, kümmert sich nicht um seine eigene Sicherheit und noch weniger um die Sicherheit Dritter. Er ist quasi gemeingefährlich und das oft genug vorsätzlich. Der Russe an sich ist also böse. Zumindest vermitteln uns das die Americana-Medien. Denn sie liefern das Bild vom Russen "an sich", also ein Klischee.

Screenshot aus "Tokarev"
Hollywood greift dieses Klischee vom gemeingefährlichen Moskal geschickt auf, wenn es den russischen Ganoven darstellt. Während vor einigen Jahrzehnten für die amerikanische Filmschmiede noch der Sowjetrusse das Feindbild par excellence war, hält heutzutage der "neue Russe" dafür her (obwohl natürlich viel mehr der Moslem und immer mehr der Chinese diese Rolle eingenommen haben). Der neue Russe ist der Nachfolger des Sowjetrussen, sowohl in der russischen Gesellschaft als auch im Hollywood-Film mit russischen Bösewichten. Und nicht zuletzt ergänzt er das neoliberale Menschen- und Weltbild in den Köpfen der Menschen. Der neue Russe ist zugleich reich, dekadent, verwahrlost, abstoßend und abgrundtief böse. Das liegt in seinem Nationalcharakter begründet. Hollywood hat das längst in etlichen Streifen bewiesen, was hier besprochen wird.

Der amerikanische Held


Held in "Taken 3"
Natürlich beginnt jeder Kampf gegen den russischen Bösewicht mit der Einführung des amerikanischen Helden. Der amerikanische Held ist üblicherweise ein durchaus gefährlicher, kampferprobter und keineswegs zu unterschätzender Elitesoldat, der aber aufgrund seiner überlegenen Moral, seiner Disziplin und Gelassenheit unterschätzt wird.

Held in "The Equalizer"
Denn anders als der Russe an sich will der Amerikaner-Held bloß ein gewöhnliches Leben in Ruhe und Frieden führen, im Grunde einfach nur die abgespeckte Version des American Dream ausleben, das Leben-und-Leben-Lassen des unorganisierten John Doe. Nachdem er in seinem früheren Leben professionell getötet hatte, will er der Hölle des Krieges entgehen und nur noch sein kleines Reich, sein eigenes Paradies aufbauen. Dazu benötigt er ein oder mehrere befriedende Besitztümer, die ihm ein bescheidenes, kleinbürgerliches Dasein ermöglichen.

Helden in "John Wick"
In "The Equalizer" arbeitet unser Held in einem Baumarkt und liest in einem Café "Moby Dick", manchmal motiviert er auch angehende Wächter oder Polizisten, da er nicht mit Erfahrung geizen muss. In "John Wick" hat unser Held seine Frau verloren und das einzige, was ihn noch am Leben hält, ist ein Welpe, den er von seiner Frau geschenkt bekommen hat, und vielleicht das lebensmüde Rasen mit seinem Schlitten. In "Taken 3" will unser Held ein guter Vater für seine Tochter sein und weint seiner Frau hinterher, die ihn für einen reichen Schnösel verlassen hat. In "Tokarev" will unser Held einfach nur ein ruhiges Familienleben mit Tochter und Freundin führen.

Held in "Tokarev"
Unsere zur Ruhe gekommenen Krieger werden jedoch aus ihrem kleinbürgerlichen Paradies gewaltsam herausgerissen. Der Russe ist immer Schuld. Der "Equalizer" kann nicht mit ansehen, wie eine wehrlose Prostituierte brutal zusammengeschlagen wird. John Wick dagegen wird der Schlitten gestohlen und noch dazu wird der Welpe vor seinen Augen gelyncht. Der Vater von "Taken 3" findet seine Ex-Frau ermordet auf und will seine Tochter vor weiterer Gefahr bewahren. Der Familienvater in "Tokarev" verliert hingegen seine Tochter durch einen Schuss aus einer Tokarev, einer russischen Pistole, und will nur noch Rache. In jedem Fall wird der an sich friedliche und tugendhafte Held zur Americanaction gezwungen. Jeder, der unserem Rächer nun im Wege steht, wird vernichtet, um den Oberbösewicht seiner gerechten Strafe auszusetzen, was bei Hollywood meist der Totschlag ist, der als verlängerte Abwehrhandlung interpretiert wird. Der Held muss daher selbst (wieder) zur Killermaschine werden, um die russischen Killer auszuschalten.


Der (russische) Bösewicht


Der böse Russe in "Tokarev"
Der Oberbösewicht ist nicht notwendigerweise ein Russe, aber meistens doch. Der russische Bösewicht repräsentiert geradezu das Gegenteil des Helden. Immer gehört er der russischen Mafia an. Immer ist er abgrundtief böse. Fast immer trägt er einen Anzug. Er hat Stil. Er hat Macht. Er hat viele loyale Anhänger. Viele Frauen hat er. Seine Opfer sind noch viel zahlreicher. Und er hat einige Konkurrenten und Feinde, die aber nicht lange leben. Es sei denn, sie sind unser amerikanischer Rächer.

böse Russen in "John Wick"
Was der neue Russe nicht hat, das ist Tugend, Skrupel, echte Loyalität. Für seine Interessen verrät er jegliche Anhänger und opfert zur Not auch die eigene Sippschaft. Sofern nötig, findet er in der Verletzung seiner Sippe einen grandiosen Rechtfertigungsgrund, um Anderen großes Leid anzutun. Und üblicherweise trifft es nicht Schuldige, sondern Unschuldige.

Der böse Russe in "Taken 3"
So werden in den entsprechenden Drehbüchern eine Prostituierte, ein Welpe, eine Ex-Frau und eine Tochter ermordet, obwohl diese Figuren völlig unschuldig waren. Solch eine Bluttat muss natürlich gesühnt werden. Daher schaltet sie im Kopf des Helden einen Hebel um, der ihn wieder in einen blutrünstigen Killer verwandelt. Denn wenn der Moskal* keine Gnade kennt, dann darf auch der Action Hero keine Milde walten lassen. Denn der Russe an sich ist KEINER, der Birken liebt, sondern ein blutrünstiges Untier aus den Tiefen der sibirischen Steppe. Da er selbst kein Pardon kennt, sondern nur die Sprache der Gewalt, muss er entsprechend gestoppt werden.


Die Funktion des feindlichen Russen ist daher die Auslösung eines gerechten Vergeltungsschlages, der die ursprüngliche Balance von Gut und Böse oder den idyllischen Urzustand am Anfang der Handlung in gewisser Weise wiederherstellt. Im Grunde wird im amerikanischen Rachefilm die bestehende Ordnung mit viel Selbstjustiz auf eine neue Ebene gehoben, die von den korruptesten Elementen bereinigt ist. Das System selbst wird nicht angetastet. So radikal ist Hollywood nur in Ausnahmefällen. Meist reicht den Filmemachern der individualistische Rachefeldzug im höheren Auftrag.

Der dekadente Russe


böse Russen in "Tokarev" zerschießen eine Bude

Der Russe an sich ist natürlich nicht nur böse, sondern auch moralisch verwahrlost - ganz im Gegensatz zum bescheidenen US-Heroen. Diese Verwahrlosung oder Dekadenz lässt sich als elitäres Selbstverständnis und Gehabe des Russen an sich begreifen, der seine Macht nur für niedere Zwecke missbraucht. Natürlich läuft er im Anzug herum, trägt Goldketten, fährt teure Schlitten, bewohnt Luxusvillen und hat etliche willige Frauen um sich herum. Er lebt wie ein beliebter König, ungeachtet dessen, dass er vor allem ein Tyrann ist. Sein loyales Gefolge und seine Groupies behandelt er nicht gerade zimperlich. Sie sind ihm bloß Mittel, nicht aber Zweck. Kant würde da kategorisch den moralischen Zeigefinger erheben. Aber das kümmert den neureichen Russen eher wenig.

böser Russe in "John Wick" chillt im Pool

Hier treffen gottgefällige Tugend des christlichen Amerikaners und die gottlose Dekadenz des heidnischen Russen aufeinander. Das macht den Koflikt selbstverständlich episch. Denn es kämpfen nicht nur ein isolierter Held und viele Wichte gegeneinander, sondern höhere Werte und Prinzipien ganzer Nationen, die sich absolut ausschließen. Das Reich des Guten kämpft gegen das Reich des Bösen. Die Bilder der Dekadenz fehlen in keinem der entsprechenden Filme.

böser Russe in "Taken 3" chillt im Pool

Der verwahrloste Russe


verwahrloster Russe in "John Wick"
Der dekadente Russe ist nicht bloß böse und gottlos, sondern auch physisch verwahrlost. Wenn er nicht im Anzug protzt, prollt er im Jogginganzug, mit Tank-Top oder mit Tattoos herum. Dabei sieht er schmutzig und schmierig aus. Das stört ihn nicht, denn er kümmert sich weder um das Urteil Gottes noch um das Urteil Dritter. Sein edles Outfit im Anzug mit viel Schmuck etc. ist daher bloße Maskerade, um völlige Verwahrlosung von innen und von außen zu verdecken, sofern es nützlich erscheint. Anders als beim US-Heroen, der wirklich authentisch bescheiden ist, ist der ärmliche Aufzug des neuen Russen ein Ausdruck seiner moralischen Armut. Die Bilder sind eindeutig.

Der trunkene Russe


Russen und Alkohol in "Taken 3"
Selbstverständlich ist der verwahrloste Russe oft trunken. Nie fehlen die Bilder des Russen an sich mit seinem Alkohol. Das Klischee des russki Besoffski muss bedient werden. Zwar saufen Amis statistisch gesehen kaum weniger als Russen, aber man assoziiert den amerikanischen Bösewicht weniger mit Trunkenheit. Der nicht-saufende Russki dagegen ist ein Oxymoron. Der Russe ist einer, der Wodka liebt.


                                        

Oder?

*Moskal ist ein unter westlich orientierten Ukrainern beliebtes Schimpfwort für Russen. Es hat eine rassistische und orientalistische Färbung.

Gedanken zum neokonservativen "Gesetz der Rache"

Der Film "Gesetz der Rache" (Law abiding citizen) war einer dieser coolen Rachefilme aus Hollywood. Vordergründig geht es um die Rache eines Familienvaters an den Mörder seiner Frau und Tochter und an den korrupten und selbstherrlichen Rechtsverdrehern, die den Mördern die gerechte Strafe nicht zuteil ließen.

Der historische Kontext


Tatsächlich geht es in dem Film um weit mehr. Der Film ist von 2009. Nach 9/11 hat der US-amerikanische Staat Recht und Gesetz verbogen, um seine Interessen durchzusetzen. Nach außen wurden UN-Sicherheitsrat und Proteste aus anderen Staaten ignoriert, als die US-Regierung Kriege mit der Bevölkerung in Afghanistan und Irak begonnen hat. Nach innen wurden - seit mit dem U.S.A. P.A.T.R.I.O.T. Act ("Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism Act of 2001") - immer wieder Bürgerrechte und allgemein die Menschenrechte in den USA ausgehebelt. Guantanamo wurde nicht geschlossen und es wurden unter Mithilfe der US-Regierung weiterhin Länder mit Krieg und Bürgerkrieg überzogen. Mittlerweile ist die Polizei zum Aufstandsbekämpfungsmittel gegen Occupy-Protestierende und Schwarze in den Vereinigten Staaten mutiert.

Dieser geopolitische und innenpolitische Hintergrund ermöglicht es erst, den sozialen Gehalt und die ideologische Wirkung des Rachestreifens mit Gerard Butler und Jamie Foxx zu deuten. Es geht nicht bloß um Rache. 

Die Handlung folgt der Gerechtigkeit


Der gesetzestreue Clyde Shelton (G. Butler), der die gerechte Strafe für seine Widersacher ersehnt, spricht das sogar aus. Es geht ihm demnach nicht um Rache, sondern um Strafe oder Gerechtigkeit. Da sein Anwalt Nick Rice (J. Foxx) und die anderen Gesetzesvertreter die Mörder von Sheltons Familie nicht angemessen bestrafen, sondern einen "Deal" aushandeln, wobei nur der eine Täter eine Todesstrafe erhält, während der eigentliche Mörder nur eine Haftstrafe erleiden muss, sieht sich sich der Super-Ingenieur dazu gezwungen, zu Selbstjustiz zu greifen. Soweit ist der Film als schlichter Rachefilm deutbar.

Allerdings machen die Dialoge und die Handlung eine weitere Auslegung denkbar. Shelton betont, dass es ihm nicht bloß um Rache geht. Er will vor allem Gerechtigkeit und Strafe. Und Genugtuung. Dafür tötet und foltert er seine Feinde körperlich und seelisch. Einen der Mörder seziert er bei lebendigem Leibe. Der Sadismus, den er dabei entwickelt, ist wohl unübertroffen im amerikanischen Film (über die Japaner wollen wir hier nicht reden). Den anderen Täter lässt er sehr schmerzlich sterben. Andere explodieren oder sterben auf die eine oder andere kreative Art und Weise. Da der geniale Ingenieur seinen Gegnern immer weit voraus ist, kann er sogar nach seiner Inhaftierung weiter töten und das verfaulte Justizsystem der USA bloßstellen. Dieses dreht sich um "Deals", die von Anwälten und Anklägern ausgehandelt werden, um für alle das Beste rauszuschlagen. Gerechtigkeit kommt nur als Phrase vor. Aber wenn die Strafe zu gering ausfällt, dann kommen eben Ingenierue der Gerechtigkeit dazu, das Strafmaß eigenmächtig zu revidieren. Shelton kontrolliert voll und ganz die Handlung bis zum Finale, da er seinen Kontrahenten intellekuell, moralisch und technisch haushoch überlegen ist. 

Im Verlauf der Handlung zeigt sich, dass auch Shelton nicht die Gerechtigkeit verkörpert. Er ist anderen Figuren im Film gegenüber ungerecht. Seine Strafe übersteigt das Strafmaß, das gerecht wäre, da er auch weitgehend Unschuldige tötet oder bestraft. Die Tochter seines Anwalts muss die oben beschriebene Folterung mit ansehen. Dessen Mitarbeiterin explodiert sogar. Dabei haben beide nichts mit dem Mord und der Untat des Advokaten zu tun. Eine Richterin wird ganz "kopflos", weil sie offenbar so irregeleitet ist, dass sie Shelton nicht wegen Mordes verurteilen will, nur weil ein Geständnis fehlt. Ihr Kopf platzt daher dank einer Sprengfalle. 

Die Vertreter des Gesetzes und ihre Angehörigen werden wie die eigentlichen Mörder bestraft. Die Strafe gilt also im Grunde nicht bloß den offensichtlichen Tätern, sondern auch den Anstiftern, den Profiteuren und heimlichen Mittätern im Rechtssystem. Immer mehr zeigt sich, dass Shelton selbst unter seinem Tun leidet und Gewissensbisse hat. Er weiß, dass er im Grunde Unschuldige bestraft. Aber er muss den Bogen überspannen, um das verbogene Recht wieder "zu Recht" zu biegen. Dafür nimmt er die Bürde auf sich, Unrecht an Anderen auszuüben. Die Erinnerung an die verlorenen Angehörigen hindert ihn nicht an seinen eigenen Untaten, aber sie lässt ihn leiden. Die christliche Nächstenliebe wird von der alttestamentarischen Idee der Vergeltung überdeckt, aber nicht völlig ersetzt. Shelton handelt letztlich aus Nächstenliebe, selbst wenn er sich schuldig macht und aus Hass tötet.

Sein Widersacher, Nick Rice, hat zwar selbst Unrecht begangen als er seinen "Deal" abschloss. Aber er musste so handeln, weil das System so funktioniert - und er an das System glaubt. Gleichzeitig wäre es Rice lieber gewesen, die Mörder der Sheltons gerecht zu strafen. Seine persönliche Einstellung widerspricht seiner professionellen. Er äußert das mehrfach. Aber da er ein Vertreter des Rechtssystems ist, muss er Shelton aller Sympathien zum Trotz wie jeden anderen Verbrecher strafrechtlich verfolgen. Das bindet ihm die Hände, sein Glaube an das System bindet ihm die Hände - zunächst. Er kann Shelton nichts nachweisen, sodass dieser seine Opfer immer weiter abstrafen kann. Glaube ist ohnehin ein wichtiges Thema im Film. Man achte auf die Aussagen des Mörders, auf die Worte von Rice und Anderen in Bezug auf den Glauben und auf christliche Symbolik. 

Erst als sich der Advokat dazu entschließt, Shelton zu töten, wendet sich das Blatt. Er selbst bricht mit dem System, von dem er so profitiert, und wendet sich dem Gesetz der Rache zu. Die Tötung Sheltons durch Rice symbolisiert daher nicht den Sieg des korrupten Rechtssystems über die Selbstjustiz. Der ganze Film zielt auf die Auflösung des Konflikts zwischen beiden Formen der Gerechtigkeit. Die Zuspitzung des Konflikts, verkörpert durch die beiden Kontrahenten, symbolisiert die schwierige Weiterentwicklung und Leid schaffende Umsetzung der Gerechtigkeit. Im Finale treffen sich Legislative und Exekutive in der Bluttat des Gesetzesvertreters wieder. Die Gerechtigkeit setzt sich durch, aber nicht, ohne das Gesetz zu beugen. 

Die Legitimierung des Neokonservatismus


Mit diesem Film wird zwar nicht direkt die Selbstjustiz wild gewordener Polizisten in den USA gegen Opfer staatlicher Gewalt gerechtfertigt, aber er legitimiert die ausufernden Befugnisse des amerikanischen Polizeistaates seit 9/11. Und er legitimiert die völkerrechtswidrige Vorgehensweise der amerikanischen (Privat-)Armeen im Ausland, ob durch die Führung von Angriffskriegen oder durch die Lenkung von Bürgerkriegen in Ländern wie der Ukraine, in Syrien, im Irak oder in Libyen und Afghanistan. 

Wie schafft der Film das? Solche Filme haben eine subtile psychologische Wirkung auf die Zuschauer, die wiederum ideologische Folgen hat. Zuschauer werden von Moral ergriffen und speichern diese als legitim ab. Das macht sie nicht zu Helden oder Bösewichten. Aber es macht sie anfälliger für politische Propaganda außerhalb der Kinos und Wohnzimmer. Der Film ist nicht bloß Unterhaltungsmedium, sondern natürlich auch ein Lehrvideo. Neben Unterhaltung liefert er auch Moral. 

Und die Moral dieses Films ist nicht die Moral der Bergpredigt, sondern die Moral der neokonservativen Eliten, die in den USA herrschen und die den eigentlichen Gehalt des Films ausmachen. Diese Moral ist die Rache der Selbstgerechten und Mächtigen an den Massen, sie ist die Rache des Staates an Menschen, die unschuldig sind, an Zivilisten in Ländern, die zerbombt und zerschossen werden, nur um die imperialen Interessen, Profiteure und Mitverursacher des Terrors zu verteidigen. Nächstenliebe zählt dabei nicht mehr, sondern nur das kapitalistische System, das von amerikanischer Selbstjustiz gestützt wird.

Samstag, 12. Dezember 2015

Die Hetze ist gewaltig im Schlande oder: Solidarität mit vereinzelten Friedensaktivisten und Linkspopulisten

Die Hetze ist gewaltig im Schlande. Nach und nach werden Pazifisten und Friedensaktivisten diffamiert, um sie zu schwächen und zu isolieren. Denn die Bundeswehr wird seit Jahren auf Angriffskriege umgestellt und die Regierung braucht dafür die Rückendeckung der in Panik versetzten Bevölkerung. Es erinnert an das Vorgehen damals im Jugoslawien-Krieg als perfider Weise behauptet wurde, man müsse einen (Angriffs-)Krieg gegen einen neuen Hitler in Serbien (Milosevic) führen, um einen zweiten Holocaust in Europa zu verhindern. Damals ließen sich Sozialdemokraten und Grüne von dieser Wahnidee erfassen und legitimieren seither immer wieder eine aggressive Außenpolitik Deutschlands, der EU und der NATO. Ein Teil derjenigen, die sich als links verstehen, folgten dieser Argumentation. Und auch heute lassen sich Teile der Linken von den herrschenden Ideen voll und ganz aufs Glatteis führen, indem sie ebenso mithetzen - für Krieg oder zumindest gegen Friedensaktivisten. Und die Medien- und Meinungsmacher freuen sich gewiss. Dann unterstellt man auch noch einem deutschen Juden, der zufällig solidarisch und befreundet ist mit dem Sänger, Christen und pazifistischen Populisten Xavier Naidoo, dass er sich von ihm distanziert habe. Alles nur, um ehrliche Menschen medial auszuschalten.

Was sagt der Mann selber? Marek Lieberberg korrigiert die Darstellung der Medien über ihn und Naidoo:

Lieberberg: Ich distanziere mich überhaupt nicht von Xavier Naidoo. Das habe ich auch nie in irgendeiner Form geäußert. Er ist mein Künstler, mit dem ich seit mehr als zwanzig Jahren sehr vertrauensvoll und freundschaftlich kooperiere. Den ich nach wie vor sehr schätze, mit dem ich gerne weiter zusammenarbeite. Es wurden Dinge völlig aus dem Zusammenhang gerissen und in einen neuen Kontext gestellt. Und meine klaren Antworten falsch interpretiert.
... 
Ich habe mich an gewissen Textstellen gerieben. "Muslime tragen den neuen Judenstern", diese Aussage hat mich irritiert. Weil Xavier eine nach meiner Auffassung falsche Parallele zog.
... 
Wir haben in aller Ruhe und Freundschaft darüber diskutiert. Er hat meine Meinung zur Kenntnis genommen. Aber er sieht die Welt mit seinen Augen und seinem Glauben. Und er verspürt eine Verpflichtung, seine Wahrnehmung zum Ausdruck zu bringen. Er hat sich auf ermordete Muslime bezogen, seine Ansicht begründet er mit Forderungen des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, der ja jüngst eine Kennzeichnung von Muslimen gefordert hat. Xavier und ich finden in diesem Punkt möglicherweise zu keinem Konsens. Aber es ändert nichts an meiner Gewissheit, dass Xavier weder homophob noch anti-jüdisch oder antisemitisch ist. Ja, es gibt einige wenige ambivalente Textstellen, z.B. als Xavier Naidoo in "Raus aus dem Reichstag" sang, dass "Baron Totschild" den Ton angibt.

Kriegs... eh, Verteidigungsministerin
von der Leyen (CDU) schwört uns auf
einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg
der Bundeswehr gegen Syrien und weitere
Maßnahmen gegen Störenfriede und
Friedensliebende ein
Nun gut. Ein kluger Mann, der selbst jüdischer Herkunft/Religion ist, unterstützt kritisch-solidarisch den Pazifisten, Liebesprediger und Christen Xavier Naidoo, dem man systematisch Antisemitismus, Verschwörungstheorien, Homophobie, Menschenhass etc. nachzuweisen bemüht ist, aber doch irgendwie daran scheitert. Dass Nazis Naidoo nicht ab können, dürfte nicht wundern. Er ist schwarz, er tritt seit langem auf antifaschistischen Konzerten auf, macht offen linkspopulistische Lieder, kritisiert scharf den Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft und und ist gegen Krieg. Klar hassen ihn Nazis. Dass ihn sogenannte "Antideutsche" hassen, ist auch klar, denn sie hassen jeden, der halbwegs verständliche Kapitalismuskritik formuliert und Massen politisiert und mobilisiert. Dass Grüne, Sozialdemokraten, Christdemokraten und so weiter Naidoo hassen, dürfte ebenfalls nicht wundern, sind ihre Führungen doch Kriegstreiber und keineswegs christlich motiviert. Meist sind sie auch noch biodeutsch und teils sogar rassistisch und antisemitisch wie etwa der überzeugte Sozialdemokrat Thilo Sarrazin, den die SPD auf keinen Fall rausschmeißen möchte. Innerhalb der SPD darf nämlich Rassismus und Antisemitismus vertreten werden, wenn man ein Bänker ist und der SPD dient. Wenn man aber Banken kritisiert und den allgemeinen Rassismus im Land, dann ist man für die SPD ein ganz Böser. Soweit so schlimm.

Aber auch innerhalb der Linkspartei und innerhalb linker Kreise wird Xavier Naidoo teils genauso platt betrachtet. Welche linken Kreise sind das? Eher die wohlsituierten, nicht-migrantischen, weißen, biodeutschen und an politischer Karriere orientierten Genossen und Genossinnen. Oder Linksradikale, Autonome, sogenannte "Antinationale" und theoretisch wenig geschulte Menschen, die bauchlinks sind, aber nicht couragiert genug, um jemanden wie Naidoo vor Verleumdung zu verteidigen. Man hetzt lieber mit, so als würde das die Popularität der Linken stärken. Man passt sich den herrschenden Ideen an, man biedert sich an. Das funktionierte schon 1914. Damals biederte sich die noch linke SPD den Herrschenden an und stimmte für die Kriegskredite. Nur die wirklich gut geschulten und proletarisch orientierten Milieus in der SPD bekämpften diesen Opportunismus. Heute gibt es nicht einmal solch eine Opposition von links, die eine neue linke Partei gründen könnte, wie etwa damals Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und ihre engsten Genossen und Genossinnen. Heute gibt es zwar die Linkspartei, die sich prinzipiell gegen den Krieg stellt, die aber von Kriegsfreunden und heimlichen SPD-Anhängern infiltriert ist und sich nicht traut, eine mutige und konsequente Friedensbewegung aufzubauen. Einige Teile dieser Partei wollen unbedingt regierungsfähig werden und Mehrheiten gewinnen, ohne den Kapitalismus dabei zu bekämpfen. Und sie geben die dominanten Ideen innerhalb der linken Szene in Deutschland vor. Damit prägen sie auch den linken Flügel der Linkspartei und die Gruppen links von dieser Partei, also die Linksradikalen und Marxistinnen.

Auch die besser geschulten Marxisten haben Abscheu vor Menschen wie Naidoo oder Ken Jebsen, die beide eine diffuse, linkspopulistische Kritik an der heutigen Gesellschaft und Politik formulieren und eine uneindeutige Perspektive fördern. Sie verkörpern eine Mischung aus Popularität und linker Kritik, die breite Massen erfassen kann. Das ist daher der Linkspopulismus, vor dem die Herrschneden in Europa große Angst haben müssen. Während der Rechtspopulismus nämlich keine Lösung bieten kann für die gesellschaftlichen Probleme und den Kapitalismus nicht ernsthaft angreifen kann, außer mit einem ausufernden Krieg vielleicht, kann der Populismus von links beides leisten, sofern er die Massen wirklich erfasst und von einer intelligenten Strategie begleitet wird. Die Ideen der Herrschenden würden einem linkspopulistischen Projekt schnell weichen, wenn die Linke im Land nicht so elitär, konservativ und sektiererisch wäre wie sie leider momentan noch ist. Unglücklicherweise verzichtet die deutsche Linke auf den Kampf um die Hegemonie.

Das Tragische ist dabei, dass gerade in einer Zeit, in der die Vernetzung von Teilen des Staates mit den Neonazis von der NSU immer offensichtlicher wird, in der die Hetze gegen Geflüchtete, gegen die Russen, Griechen, Moslems etc. eine lange nicht mehr gesehene Zuspitzung erfährt, sogar Antikapitalisten zu bewussten und unbewussten Anhängern der herrschenden Meinungen werden. Lächerlich wird es, wenn biodeutsche Parteimitglieder einer Partei, die Kriegstreiber und SPD-Liebhaber duldet, und die den Mittelschichten entstammen - ganz gleich, wie links sie vorgeben zu sein - gerade einem Pedram Shahyar, einem Ken Jebsen oder einem Xavier Naidoo - alle mit migrantischen Hintergrund und linkspopulistisch und friedenspolitisch engagiert - unterstellen, Rassisten, Neurechte oder Querfrontler zu sein. "Ist es nicht die eigentliche Krise, dass man sich auf seine eigenen Leute nicht mehr verlassen kann?", fragte Ken Jebsen mit Bezug auf die deutsche Linke. Ja, das ist die eigentliche Krise. Stimmt, lieber Ken.

Die Hetze ist gewaltig im Schlande - und es ist Zeit, ihr etwas entgegenzusetzen, was über die linken Minizirkel hinausgeht: Eine populäre Massenbewegung, die sich gegen Krieg, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie und den Kapitalismus als Ganzes stellt. Solange die Linke sich nicht von den Ideen der Herrschenden löst, wird sie diese Aufgabe nicht lösen können. Aber wenn das Herz links schlägt, dann stirbt auch die Hoffnung in die Linke zuletzt.



Donnerstag, 10. Dezember 2015

Die Hölle als Zuschauertribüne des Himmels




Populäre Rap-Musik kann provozieren. Die wunderbar provokative Hitler-Hymne von KIZ ist ein Beispiel dafür. Der Musik-Clip zum Track überragt den Text sogar noch.

Jedenfalls endet das Video damit, dass der auferstandene Hitler sich wieder selbst erschießt, aber an der Tür zum Himmel abgewiesen wird. Der Türsteher schließt das Tor und es wird wieder dunkel um den allein gelassenen Diktator. Fast könnte man Mitleid mit dem Ausgestoßenen bekommen. Fast. Oder auch nicht.

Diese letzte Szene regt den futuristischen Blogger dazu an, über eine mögliche Variante der Strafe für verstorbene Verbrecher zu spekulieren: Die Hölle als Zuschauerbank des Himmels.

Da sämtliche Verbrecher dazu neigen, ihre Verbrechen zu rechtfertigen, glauben sie sich sicher. Entweder erfinden sie legale oder moralische Rechtfertigungsgründe für ihre Straftaten, sodass sie als tragische Figuren in den Himmel oder nach dem Tod ins Nirvana eingehen können. Hitler dachte womöglich wirklich, dass er einen irgendwie gerechten Kampf gegen eine "jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung" austragen musste. Sein feiger Selbstmord sollte ihn der Bestrafung durch das Weltgericht der Bolschewisten entziehen. Und in seinem kranken Hirn stellte er sich das Nachleben entweder als Himmel für Diktatoren oder als Nirvana-Nichts vor. So wäre er ja glimpflich davongekommen.

Aber vielleicht endet die Geschichte für die Terroristen-Verbrecher nach ihrem Ableben doch eher wie im Video von KIZ? Der Diktator erhofft Himmel oder Nirvana für sich, aber tatsächlich gelangt er auf die Zuschauertribüne des Himmels. Alle guten, unschuldigen Menschen und reuigen Sünder gehen an ihm vorbei und werden vom Türsteher des Himmels ins Paradies gelassen. Für alle Ewigkeit vergnügen sie sich wahlweise mit Daim, Bitterschokoladeneis, World of Warcraft oder ganz vielen Jungfrauen und -männern oder Trauben - oder was auch immer das sündige Herz der Himmelsbewohner so begehrt.

Der enttäuschte Aussetzige dagegen und seine Kameraden, die Schwule für ihre Liebe zu Männern zusammengeschlagen haben; seine Kollegen von ISIS, die echten Moslems Köpfe abgeschnitten haben; die Kolonialisten-Siedler, die anderen Völkern ihr Land mit teuflischer Gewalt geraubt haben; die Militaristen und Imperialisten, die ihr eigenes Land und andere Länder unterworfen und zerstört haben; die demokratisch gewählten Feinde der Demokratie - sie alle sammeln sich vor der Himmelstür und kommen für alle Ewigkeit nicht rein. Zugleich hören sie von weitem die freudigen Himmelsbewohner und können durch einen Türspalt oder das Schlüsselloch alle tausend Jahre mal einen Blick hineinwerfen. Ihre Strafe ist so vielleicht viel schmerzhafter als die gewöhnliche Vorstellung von Hölle.

Obwohl man ihnen durchaus einen Gang durch sämtliche Stufen der Höllenqualen im tibetischen Buddhismus wünschen kann. Oder noch besser: Das Weltgericht durch die Bolschewiki dieser Welt, solange man ihrer habhaft werden kann. Oder eine Neuauflage der Nürnberger Prozesse. Ja, das wäre wirklich eine angemessene Strafe, von der auch die Erdenbürger noch was hätten. Man wird ja wohl noch träumen dürfen.


Montag, 7. Dezember 2015

Pjotr Werchowenskij und Stawrogin im Dialog über den Schigalewismus

Der Dialog entstammt Dostojewskijs Roman "Die Dämonen", der im 19. Jahrhundert im Zarenreich spielt. Die zwei jungen Verschwörer Werchowenskij und Stawrogin unterhalten sich über ihre dystopische Vision für Russland.

„Hören Sie, wir werden einen Aufstand erregen“, flüsterte jener schnell und wie im Fieber. „Sie glauben nicht, dass wir das können? Wir werden, sag’ ich Ihnen, einen Aufruhr zustande bringen, dass alles aus den Fugen geht. Karmasinoff hat recht, wenn er sagt, dass nichts da ist, woran man sich festhalten könnte. Karmasinoff ist sehr klug. Nur noch zehn solcher Gruppen in ganz Russland und ich bin nicht zu fangen.“

„Und lauter ebensolche Dummköpfe!“ entfuhr es Stawrogin wider Willen.

„Oh, seien Sie selbst etwas dümmer, Stawrogin, seien Sie selbst etwas dümmer! Wissen Sie, Sie sind doch auch gar nicht so klug, dass man Ihnen dies noch wünschen müsste. Sie fürchten sich nur, Sie glauben nicht, dass Ausmaß schreckt Sie. Und warum sollen sie Dummköpfe sein? Sie sind gar nicht mal solche Dummköpfe. Heutzutage hat niemand seinen eigenen Verstand. Heutzutage gibt es furchtbar wenig selbständig denkende Köpfe. Wirginskij ist ein außergewöhnlich reiner Mensch, zehnmal reiner als solche wie wir; übrigens, mag er dabei bleiben. Liputin ist ein Spitzbube, aber ich kenne an ihm einen bestimmten schwachen Punkt. Es gibt keinen Spitzbuben, der nicht seinen eigenen schwachen Punkt hätte. Nur Lämschin allein ist ohne solchen Punkt, aber dafür habe ich ihn ganz in der Hand. Noch ein paar solcher Gruppen, und ich habe überall Pässe und Geld – beachten Sie schon das allein! Was das allein schon ausmacht! Und dazu sichere Verstecke. Mögen Sie dann suchen! Die eine Gruppe reißen sie heraus, und auf die andere setzen sie sich ahnungslos. Wir wiegeln auf, wir bringen es zu Unruhen überall im Land … Glauben Sie denn wirklich nicht, dass wir zwei dazu vollkommen genügen?“

„Nehmen Sie sich dazu Schigaljoff, mich aber lassen Sie in Ruh …“

„Schigaljoff ist ein genialer Mensch! Wissen Sie auch, dass er ein Genie ist à la Fourier, aber kühner als Fourier, stärker als Fourier! Ich werde sein Werk noch studieren. Er hat die „Gleichheit“ erdacht!“

,Er hat offenbar Fieber und phantasiert. Es muss ihm etwas etwas ganz Besonderes widerfahren sein’, dachte Stawrogin, indem er ihn noch einmal ansah. Sie gingen, ohne stehen zu bleiben.

„In seinem Manuskript ist das wunderbar“, fuhr Werchowenskij fort, „ dass er die Spionage einbezieht. Bei ihm beaufsichtigt jedes Mitglied der Gesellschaft jedes andere und ist zur Anzeige verpflichtet. Jeder gehört allen und alle jedem. Alle sind Sklaven und in der Sklaverei einander gleich. In extremen Fällen wird mit falschen Aussagen und Mord vorgegangen, aber die Hauptsache ist die Gleichheit. Die erste Folge davon wird sein, dass das Niveau der Bildung, der Wissenschaften und der Talente sinkt. Ein hohes Niveau der Wissenschaften und Talente ist nur höher Begabten zugänglich, aber höher Begabte brauchen wir nicht! Höher Begabte haben immer die Macht an sich gerissen und sind Despoten gewesen. Höher Begabte können gar nicht umhin, Despoten zu sein, und stets haben sie mehr demoralisiert als Nutzen gebracht; man verjagt sie deshalb oder richtet sie hin. Cicero wird die Zunge ausgeschnitten, Kopernikus werden die Augen ausgestochen, Shakespeare wird gesteinigt, das ist Schigalewismus! Sklaven müssen gleich sein: ohne Despotismus hat es noch nie weder Freiheit noch Gleichheit gegeben, in einer Herde aber muss Gleichheit herrschen, und das ist eben Schigalewismus! Hahaha! Sie wundern sich? Ich bin für den Schigalewismus!“

Stawrogin bemühte sich, seinen Schritt zu beschleunigen, um schneller nach Haus zu kommen. ,Wenn dieser Mensch betrunken sein sollte, wo hat er sich dann inzwischen betrinken können?’ fuhr es ihm durch den Kopf. ,Sollte wirklich der Kognac dazu genügt haben?’

„Hören Sie, Stawrogin: Berge einzuebnen, das ist ein guter Gedanke, nicht etwa ein lächerlicher. Ich bin für Schigaljoff! Wir brauchen keine Bildung, wir haben genug Wissenschaft! Auch ohne Wissenschaft reicht das Material für tausend Jahre, aber was unbedingt eingeführt werden muss, dass ist Gehorsam. Nur an einem ist Mangel in der Welt, an Gehorsam. Durst nach Bildung ist bereits ein aristokratischer Trieb. Kaum ist Familie oder Liebe da, so stellt sich auch schon der Wunsch nach Eigentum ein. Wir bringen ihn um, diesen Wunsch: wir verbreiten Trunksucht, Klatsch, Anzeigerei; wir verbreiten unerhörte Demoralisation; jedes Genie wird schon in der Kindheit ausgelöscht. Alles wird auf einen Nenner gebracht, um der vollständigen Gleichheit willen. ,Wir haben ein Handwerk erlernt und sind ehrliche Leute, das genügt uns’, das war vor kurzem die Antwort englischer Arbeiter. ,Notwendig ist nur das Notwendige’, das wird von nun an der Wahlspruch des Erdballs sein. Aber ab und zu muss es auch so etwas wie einen Krampf geben; dafür werden wir schon sorgen, wir Regenten. Sklaven müssen Regenten haben. Vollkommener Gehorsam, vollkommene Unpersönlichkeit, aber alle dreißig Jahre einmal sieht Schigaljoff auch eine Konvulsion vor, eine Art Erschütterung, und dann fangen auf einmal alle an, einander aufzufressen, bis zu einer gewissen Grenze natürlich, einzig damit es ihnen nicht zu langweilig werde. Langeweile ist eine aristokratische Empfindung; im Schigalewismus wird es keine Wünsche geben. Wünsche und Leiden für uns, für die Sklaven aber Schigalewismus.

„Sich selbst schließen Sie aus?“ entschlüpfte es Stawrogin wieder ungewollt.

„Und Sie. Wissen Sie, anfangs dachte ich daran, die Welt dem Papst zu übergeben. Mag er allein zu Fuß und barfüßig herauskommen und sich dem Pöbel zeigen, sozusagen: ,Seht, wie weit man mich gebracht hat!“ – und alles wird ihm zuströmen, selbst das Heer. Der Papst oben, wir um ihn herum und unter uns die Schigaljoffsche Herde. Dazu wäre nur erforderlich, dass sich die Internationale mit dem Papst einverstanden erklärte; was sie auch tun wird. Das alte Männlein selbst wird natürlich sofort einverstanden sein. Es wird ihm ja auch gar kein anderer Ausweg übrig bleiben, behalten Sie meine Worte, hahaha! – Dumm etwa? Sagen Sie, ist das dumm oder nicht dumm?“

„Genug davon!“ brummte Stawrogin ärgerlich.

„Gut, genug davon! Hören Sie, ich habe den Papst fallen lassen! Zum Teufel mit dem Papst! Und der Teufel hole auch den Schigalewismus! Wir brauchen das, was heute die Gemüter erregt, die aktuelle Wut, und nicht den Schigalewismus, denn der ist eine Juwelierarbeit. Ist ein Ideal, kommt erst in der Zukunft in Frage. Schigaljoff ist ein feiner Juwelier und dumm wie jeder Philanthrop. Zunächst tut grobe Arbeit not, Schigaljoff aber verachtet die grobe Arbeit. Hören Sie: der Papst mag im Westen regieren, bei uns aber, bei uns – Sie!“

„Lassen Sie mich in Ruh, Sie sind ja betrunken!“ brummte Stawrogin und beschleunigte seine Schritte.

„Stawrogin, Sie sind schön!“ begann Pjotr Stepanowitsch wie in einem Rausch. „Wissen Sie es auch selbst, dass Sie schön sind? Das ist ja das Kostbarste an Ihnen, dass Sie sich manchmal gar nicht dessen bewusst sind. Oh, ich habe Sie studiert! Wie oft habe ich sie heimlich, aus einem Winkel, ganz unbemerkt beobachtet! In Ihnen ist sogar Aufrichtigkeit und ist echte Naivität vorhanden! Sie leiden gewiss unter dieser Aufrichtigkeit, und leiden aufrichtig. Und ich, ich liebe Schönheit. Ich bin Nihilist, aber ich liebe Schönheit. Ich bin Nihilist, aber ich liebe Schönheit. Lieben denn Nihilisten das Schöne etwa nicht? Die lieben doch bloß Abgötter nicht, ich aber, nun, ich liebe einen Abgott! Sie …Sie sind mein Abgott! Sie beleidigen keinen, und doch werden Sie von allen gehasst; Sie verhalten sich zu allen wie zu Standesgenossen, und doch werden Sie von allen gefürchtet, das ist gut. An Sie wird niemand herantreten, um Sie auf die Schulter zu klopfen. Sie sind ein unheimlicher Aristokrat. Wenn ein Aristokrat sich zu Demokraten gesellt, ist er bezaubernd! Ihnen macht es nichts aus, ein Leben zu opfern, sei es Ihr eigenes, sei es ein fremdes Leben. Sie sind genau die Gestalt, die nötig ist. Und ich, ich brauche gerade so eine, wie Sie sind. Außer Ihnen wüsste ich keinen. Sie sind der geborene Anführer, Sie sind die Sonne, und ich bin ihr Wurm …“

Und plötzlich küsste er ihm die Hand. Kalt lief es Stawrogin über den Rücken, und erschrocken entriss er ihm seine Hand. Sie blieben stehen.

„Wahnsinnniger!“ flüsterte Stawrogin.

„Vielleicht deliriere ich, vielleicht deliriere ich“, fiel dieser hastig ein, „aber ich habe den ersten Schritt ersonnen. Niemals wird ein Schigaljoff darauf verfallen, mit welchem ersten Schritt man anfangen muss. Es gibt viele Schigaljoffs! Aber nur ein Einziger, ein Einziger in Russland hat den ersten Schritt erfunden und weiß, wie er zu machen ist. Dieser Mensch bin ich. Warum sehen Sie mich so an? Ich brauche aber Sie dazu, Sie, ohne Sie bin ich eine Null. Ohne Sie bin ich eine Fliege, eine Idee in verkorkter Flasche, bin ein Kolumbus ohne Amerika!“

Stawrogin stand und sah unverwandt in Werchowenskijs irre Augen.

„Hören Sie zu, wir stiften zuerst nur Unruhen im Land“, redete dieser wie gehetzt weiter, während er immer wieder Stawrogins linken Ärmel anfasste. „Ich habe Ihnen schon gesagt: wir dringen unmittelbar ins Volk ein. Wissen Sie auch, dass wir auch jetzt schon furchtbar stark sind? Zu uns gehören nicht nur die, die da brandstiften und morden, oder klassische Schüsse abfeuern oder in Schultern beißen. Solche stören nur. Ohne Disziplin ist mir überhaupt nichts möglich. Ich bin doch ein Spitzbube, aber kein Sozialist, haha! Hören Sie zu, ich habe sie bereits alle zusammengezählt: der Lehrer, der sich mit den Schulkindern über ihren Gott und über ihre Wiege lustig macht, ist schon unser. Der Advokat, der den gebildeten Mörder damit verteidigt, dass dieser geistig entwickelter sei als seine Opfer und daher, um sich Geld zu verschaffen, nicht umhin konnte, zu morden, ist schon unser. Die Schuljungen, die einen Bauern totschlagen, nur um das Gefühl kennen zu lernen, das man dabei empfindet, sind unser. Die Geschworenen, die alle Verbrecher ohne Ausnahme freisprechen, sind unser. Der Staatsanwalt, der bei der Gerichtsverhandlung davor zittert, er könne nicht liberal genug erscheinen, ist unser, unser. Unser sind Beamte und Literaten, oh, unser sind viele, unglaublich viele, und sie wissen es selbst nicht einmal, dass sie unser sind. Auf der anderen Seite hat der Gehorsam der wenigen Schüler und Dummköpfe den höchsten Grad erreicht; bei denen aber, die sie leiten und belehren sollten, ist offenbar die Gallenblase geplatzt. Überall eine Hoffart von unvorstellbarem Ausmaß, tierische, unerhörte Begierde … Wissen Sie, wissen Sie auch, wie viele wir schon allein mit fertigen Ideechen einfangen? Als ich Russland verließ, wütete hier gerade die These Littrés, nach der Verbrechen Wahnsinn sei; ich kehre zurück, und schon ist Verbrechen nicht mehr Wahnsinn, sondern geradezu die gesunde Vernunft selbst, beinahe eine Pflicht oder zum mindesten ein edler Protest. Sozusagen: ,Wie soll denn ein geistig entwickelter Mensch nicht morden, wenn er doch Geld braucht?’ – Aber das sind vorerst nur so kleine Beeren. Der russische Gott hat vor dem billigen Fusel schon den Rückzug angetreten. Das Volk ist betrunken, die Mütter sind betrunken, die Kinder sind betrunken, die Kirchen sind leer, und an den Gerichtshöfen heißt es: ,Zweihundert Rutenhiebe, oder schlepp einen Eimer Schnaps herbei.’ Oh, lassen Sie nur diese Generation noch heranwachsen! Es ist nur schade, dass wir keine Zeit haben zu waren, sonst könnte man sie noch betrunkener werden lassen! Ach, und schade, dass es noch keine Proletarier gibt! Aber es wird, es wird sie schon geben, dazu trägt ja alles bei …“

„Schade ist es auch, dass wir zu verdummen anfangen“, brummte Stawrogin und setzte seinen Weg fort.

„Hören Sie, ich habe selbst ein sechsjähriges Kind gesehen, das seine betrunkene Mutter nach Hause führte, und die beschimpfte es dafür mit garstigen Worten. Glauben Sie, dass mich das gefreut hat? Bekommen wir es in die Hand, so werden wir es vielleicht auch gesund machen … falls nötig, treiben wir es auf vierzig Jahre in die Wüste hinaus … Aber eine oder zwei Generationen mit Sittenverderbnis sind vorerst unbedingt erforderlich, - mit unerhörter, niederträchtiger Sittenverderbnis, in der sich der Mensch in nichts als einen widerlichen, feigen, grausamen, selbstsüchtigen Abschaum verwandelt – gerade das ist es, was jetzt nötig ist! Und dann noch etwas ,frischvergossenes Blut’, damit er sich daran gewöhnt. Warum lachen Sie? Ich widerspreche mir durchaus nicht. Ich widerspreche nur den Philanthropen und dem Schigalewismus, nicht mir! Ich bin ein Spitzbube, aber kein Sozialist. Hahaha! Schade nur, dass wir so wenig Zeit haben. Ich habe Karmasinoff versprochen, im Mai zu beginnen und zu Mariä Fürbitte zu beenden. Schnell – wie? Haha! Wissen Sie, was ich Ihnen sagen werde, Stawrogin: im russischen Volk hat es bisher noch keinen Zynismus gegeben, obschon es mit schmutzigen Wörtern geschimpft hat. Wissen Sie auch, dass dieser leibeigene Sklave sich selbst mehr geachtet hat, als Karmasinoff sich achtet? Man hat ihn geprügelt, aber er hat seine Götter verteidigt, während Karmasinoff das nicht tut.“

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Der Alte und sein neuer Sohn

Nach dem Sport traf ich gestern Abend auf zwei Männer - einen jungen und einen alten. Der Junge betreute den Alten offenbar, kannte ihn aber erst seit wenigen Stunden. Sein Schützling habe etwas an der Seele. Der Alte war betrunken und nervlich offensichtlich am Ende. Auf meine Frage hin, ob man ihm helfen könne und alles ok sei, kam er aggressiv auf mich zu, wurde aber vom Jüngeren abgehalten. Ich möge bitte den Notruf anrufen, bat letzterer. Ich kam dem nach. Aber der Ältere lehnte ab, mit den Nothelfern mitzukommen. Ich bot an, ein Wasser oder Ähnliches für den Alten zu holen. Aber der Alkohol war gar nicht das Problem, sondern verschlimmerte die Katastrophe nur. Einige Stunden zuvor hatte er seinen Sohn beerdigt, der bloß 12 Jahre alt war. Das war sein dritter verstorbener Sohn, wie er später sagte... Ich schlug vor, dass wir uns in ein Café auf einen Tee hin setzen und ihm zuhören könnten bis es halbwegs besser sei. Beide wollten lieber Bier. Also lud ich sie in dem Dönerladen am Neumarkt auf ein Kölsch ein. Zum Glück bin ich diesen Monat nicht ganz so pleite wie sonst immer. Der Alte erzählte uns unter Tränen seine Geschichte, trug uns zur eigenen Aufmunterung Gedichte von irgendeinem Heinz Erhardt vor (u.a. "Pechmariechen) und wiederholte mehrfach, der Junge sehe wie sein verstorbener Sohn aus, der auch noch den selben Vornamen trage. Zumindest der Zweitname war der selbe wie der Vorname des Verstorbenen. Die Ähnlichkeit des Jüngeren mit dem verstorbenen Sohn sei kaum zu fassen, so der gebrochene Mann. Er schluchzte, mit dem demütig nach unten zum Tisch gesenktem Kopf, während der Junge dessen leicht verletzte Hand mit beiden Händen fest hielt. Dieser schlich irgendwann - offenbar völlig überfordert - unmerklich hinaus, während ich noch vor dem weinenden Mann saß, um ihn zu beruhigen. Aber er beruhigte sich kaum. Die Flucht seines neuen Sohnes ohne Verabschiedung machte ihm zu schaffen. Er sprach davon, abtreten zu wollen. Er halte sein Leben nicht mehr aus. Und er werde den Jungen, der wie sein Sohn aussehe, nie wieder sehen. Auf dem Weg zum HBF sang er mir ein Lied auf Hebräisch und eines auf Englisch vor - und kippte um. Ich rief wieder die Notärzte. Diesmal nahmen sie ihn mit.


Das Pechmariechen


Zu Ostern in Hersfeld die Mutter spricht:
"Bald ist es Zeit für's Festtagsgericht.
Drum geh' meine Tochter hinab in den Keller
und fülle mit Sauerkraut, hier, diesen Teller."
(Jetzt ist die Tochter dran.)
"Oh Mutter, oh Mutter mir träumte neulich
von einem Mann, der Mann war abscheulich.
Lass' uns den Keller vergessen,
woll'n wir was anderes essen."
(Wieder die Mutter)
"Mein Kind, mein Kind ich seh' es genau.
Du kommst in die Jahre, wirst langsam Frau.
Siehst überall Männer, die lauern.
Geh' hol' von dem Kraut, dem sauern."

Die Tochter tut es. Sie gehet hinab.
Hinab in den Keller, der finster wie's Grab.
Sie füllet den Teller, den Teller aus Blech;
doch solang' sie auch füllt, es kommt kein Mann
so'n Pech.....

(...drum Pechmariechen)