Donnerstag, 5. Dezember 2013

Georg Lukács und der Realismus in Puškins "Evgenij Onegin" (Serie: Marxismus und Kunst, Teil 1)

Teil 1 der Serie zu Marxismus und Kunst. Dieser Artikel behandelt Georg Lukács und Aleksandr Puškin.

Puškin 
Es geht vor allem darum, wie Lukács, einer der wichtigsten Marxisten
und Literaturtheoretiker des 20. Jahrhunderts, dazu kommen konnte, Puškin, einen der größten russischen Dichter, einen Realisten und dessen Roman Evgenij Onegin einen realistischen Roman zu nennen.

Es geht auch darum, in wiefern diese Interpretation (wissenschaftlich) haltbar ist. Die wissenschaftliche Gemeinschaft ist sich schließlich schon seit langem grundsätzlich einig darüber, dass Puškin ein romantischer Dichter und der Onegin ein romantischer Roman war. Aber kann Kunst nicht zugleich romantisch und realistisch sein?

Wissenschaft und Dogmatik


Lukács
Ist diese Frage also nicht überflüssig? Georg Lukács hätte diese Frage verneint. Ausgehend von der Marxschen Ästhetik sieht Lukács in gewissen Kunstwerken realistische Kunst und in anderen „antirealistische“ Kunst. Da Lukács zugleich marxistische Geschichtsinterpretation, Literatursoziologie, normative Poetik und Literaturkritik in seiner Realismustheorie vereinte, bewertete er zudem die zuvor analysierte Kunst anhand eines Maßstabs, den er Hegel und Marx entnommen hat. Alle in seinem Sinne realistische Kunst galt ihm als „schön“. "Antirealistische Kunst" war für ihn hingegen mangelhaft.

Da solch eine normative marxistische Poetik eher selten ist und zudem aus Sicht einer „wertneutralen“ Literaturwissenschaft wie auch aus Sicht einer werkimmanenten Hermeneutik oder rein formalen Ästhetik bedenklich scheinen muss, mag die ganze Fragestellung uninteressant wirken.

Aber wie im Allgemeinen trifft es auch auf die Wissenschaft zu, dass die Mehrheit selten Recht hat und dass auch Wissenschaft gegen den Verfall in Dogmatik nicht immun ist, sodass die immer wieder neue Aufarbeitung auch dieser Fragestellung gerechtfertigt ist. Wissenschaft muss vermeintlich gesicherte Erkenntnis stets von neuem überprüfen. Abgesehen davon ist so etwas in der autoritärer werdenden BRD immerhin bislang noch erlaubt. Solange das noch erlaubt ist, ist Lukács‘ Perspektive also in Frage gestellt und nicht einfach ausradiert.

Um uns seiner Perspektive anzunähern, werde ich nach dieser Einleitung die marxistische Ästhetik von Lukács und dessen Realismustheorie darstellen, die marxistisch ist, sich aber wesentlich von der erbärmlichen stalinistischen unterscheidet. 

Lukács‘ eigene Ästhetik basiert auf der Ästhetik Hegels, der Marxschen Literaturkritik und diversen eklektisch sich dazu gesellenden Gedanken etwa von Kant oder anderen Denkern. Es werden vor allem die Schülerschaft gegenüber Hegel und Marx sowie zentrale Kategorien der Ästhetik von Lukács vorgestellt. 

Daraufhin behandle ich die Frage, wie man anhand der Theorie von Lukács den Onegin als realistischen Roman verstehen kann. 

Im Anschluss wird diese Sicht im Fazit geprüft, indem die bis dahin erbrachten Ergebnisse zusammengeführt werden und die eingehende Frage behandelt wird.

Die marxistische Realismustheorie von Georg Lukács


Ästhetik und der historische Materialismus


Lukács kann als Schüler sowohl von Marx als auch von Hegel verstanden werden. Vom hegelianischen Idealisten entwickelte sich Lukács zum Marxisten. Er ging nach der Oktoberrevolution vom historischen Materialismus aus, um gesellschaftliche Phänomene zu untersuchen. Diese Weltanschauung sollte eine wirklich konkrete, dialektische und wissenschaftliche Ästhetik und Kunstkritik ermöglichen.

Gegen den Vulgärmarxismus bei Sozialdemokratie und Stalinismus war Lukács bestrebt, den ganzen Gehalt der Hegelschen und der Marxschen Methode auszuschöpfen. Anders als diese verstand er unter Marxismus nicht dogmatische Lehrsätze aus einer Sammlung dunkelblauer Bibeln und eschatologische Heilsgewissheit, sondern einen lebendigen Umgang mit der Welt und sozialen Phänomenen.

Arbeit und Kunst


Eine ganz wesentliche Bedeutung spielte für Lukács daher die „Hegel-Marxsche Lehre: daß die Menschen ihre eigene Geschichte selbst machen, freilich nicht unter selbst gewählten Umständen und mit Resultaten, die von ihren Absichten grundlegend abweichen“. Damit ist auf den Begriff der Arbeit bzw. Praxis verwiesen, auf die den Menschen definierende Tätigkeit. 

Die Arbeit impliziert die Bewusstseins- und Sprachfähigkeit ebenso wie die Fähigkeit, Kunst bzw. Literatur zu produzieren. In diesem Zusammenhang kann Literatur nicht mehr aus der allgemeinen menschlichen Praxis abstrahiert werden. Sie muss aus der Praxis abgeleitet und verstanden werden. 

Damit ist auch ausgeschlossen, Literatur frei von Interessen und Ideologie zu verstehen. „Ästhetizismus“ und „Formalismus“ werden verworfen. Literatur ist immer standortgebunden, nie völlig autonom. Und es gibt auch so etwas wie „reine“ Literaturkritik oder "reine" Interpretation nicht.

Vulgärmarxismus der Stalinisten und der Marxismus von Lukács 


Allerdings darf man diese allgemeine Bestimmung nicht gleichsetzen mit vulgärmarxistischen oder soziologistischen Ansätzen, Literatur zu betrachten. Lukács greift stattdessen die spärlichen literaturkritischen Aussagen von Marx und Engels auf, die er in eine systematische marxistische Ästhetik ausbauen wollte. Von diesen ausgehend kann man schnell den Gegensatz von stalinistischem „Sozialistischem Realismus“ und marxistischer Ästhetik im Sinne von Marx, Engels und Lukács feststellen. 

Literatur wird als soziales Produkt, aber auch als relativ autonom verstanden. Im Rahmen des Marxismus kann man dies als ein Problem der häufig irreführenden Basis-Überbau-Debatte verstehen. Im orthodoxen Marxismus á la Lukács wird Ideologie nicht als ein bestimmter gedanklicher Inhalt verstanden, der direkt aus der „Ökonomie“ komme, sondern als ewiger Bestandteil menschlicher Praxis, der nur vermittelt, auf komplizierte Weise, die gesellschaftlichen Verhältnisse ausdrückt.

Daher wird auch nicht die Klassenzugehörigkeit oder politische Gesinnung in der Kunst als Maßstab der Ästhetik genommen, sondern die genuin ästhetische Kategorie der "Schönheit". Ein politischer Reaktionär wie Balzac etwa wird hoch gelobt, ein Schriftsteller des Proletariats wie Zola hingegen wird scharf kritisiert. Kunst wird also nicht als einfaches Sprachrohr politischer Gesinnung oder sozialer Interessen verstanden, sondern ihr wird eine relative Autonomie von sozialer, politischer und gar individueller Neigung des künstlerischen Subjekts zugestanden. 

Die künstlerische Autonomie ist also ein Mittelding aus sozialer Bedingtheit und ästhetischer Freiheit. Als soziales Produkt kann Literatur wissenschaftlich, d.h. literaturwissenschaftlich und auch literatursoziologisch durchleuchtet werden. Als ästhetisches Produkt muss es aber auch ästhetisch durchleuchtet werden. Die Literatursoziologie von Lukács ist ein Versuch, beiden Aspekten gerecht zu werden. In ihr sollen sich marxistische Wissenschaft und dialektische Ästhetik vereinen.

Hegels Kunstphilosophie


Die dialektische Ästhetik entstammt natürlich „Hegels Ästhetik“, die, so Lukács, „auf dem Gebiete der Kunstphilosophie den Gipfelpunkt des bürgerlichen Denkens, der fortschrittlichen bürgerlichen Traditionen“ ist. Trotz seiner Kritik an der Abstraktheit und Willkür des Hegelschen Idealismus, stellt Lukács würdigend fest:

"Vor allem überwindet die Hegelsche Ästhetik den Kantschen subjektiven Idealismus, seinen falschen Dualismus, der den angeblich außerhalb der Ästhetik liegenden, den ästhetischen Kategorien vollkommen fremden Inhalt der immer abstrakt und subjektivistisch aufgefaßten, wenn auch ästhetisch bezeichneten Form gegenüberstellt."

Hegels Ästhetik war insofern gegen den Idealismus von Kant und subjektivistische Ästhetiken gerichtet, die sich willkürlich auf die Frage des ästhetischen Empfindens der individuellen Subjektivität beschränkten: „infolge des Formalismus jedoch, der den subjektiven Idealismus begleitet, fällt aus dem Begriff der Aktivität die wirkliche gesellschaftliche Rolle des Individuums heraus und mit ihr jeder gesellschaftliche Inhalt der Kunst. Es ist kein Zufall, daß Kant den Begriff des Schönen mit der Interesselosigkeit verknüpft.“ 

Die dialektische Ästhetik verteidigt dagegen „die organisch unzertrennliche Einheit von Künstlertum und gesellschaftlicher Aktivität“ und den „Versuch, die grundlegenden Kategorien der Ästhetik zu historisieren“ womit der „Grund für eine wissenschaftliche Ästhetik, die gleichzeitig und unzertrennlich theoretisch und geschichtlich ist“ gedüngt worden sei. Lukács selbst hat beabsichtigt, solch eine Ästhetik zu entwickeln. Die Kunst sollte aus der Gesellschaft abgeleitet und mit der Geschichte erklärt werden. 

Ob ihm das gelungen ist, ist wichtig zur Beantwortung der Frage, ob mit dem Realismusbegriff von Lukács Puškins Onegin adäquat zu erfassen ist. Hegels Ästhetik war aus der Sicht von Lukács nur das selbst noch unvollkommene Vorbild. Dennoch habe Hegel einen Fortschritt erreicht, indem er die dialektische Einheit von ästhetischer Form und historischem Gehalt herausarbeitete:

"Der Gehalt also, von dem hier die Rede ist, ist der jeweilige Entwicklungszustand der Gesellschaft und der Geschichte (Weltzustand), den das aktive ästhetische Subjekt vom Standpunkt der Anschauung aus betrachtet und aufarbeitet. Für die Aktivität des ästhetischen Subjekts folgt also die Notwendigkeit, die Aufgabe, diesen und nur diesen Gehalt künstlerisch zu reproduzieren, sich ihn anzueignen, ihn mit den der Kunst eigenen Mitteln auszudrücken. Wobei diese der Kunst eigentümlichen Mittel (Formen) nach der Hegelschen Ästhetik ohne Ausnahme diesem Gehalt entwachsen. Die Hegelsche Ästhetik beruht daher auf der Dialektik, auf der dialektischen Wechselwirkung von Gehalt und Form"

Idealisierung der Antike bei Hegel, Marx und Lukács 


Mit Hegels philosophischem Idealismus, „der mit dem Anspruch auftritt, die vom menschlichen Bewußtsein unabhängige objektive Wirklichkeit zu erkennen und sie in gedanklicher, rationell-dialektischer Form auszudrücken“, geht die Idealisierung der Antike einher. „Hegels Ästhetik“, so Lukács, betrachte „die Antike als die echte, eigentliche Kunstperiode“. In der Antike habe die Kunst eine unwiederbringliche Blüte erreicht, während mittelalterliche und moderne Kunst bei Hegel abgewertet werden. Die antike Kunst stelle stets das Ideal des Menschen dar und sei daher Maßstab und Muster für alle Kunst:

"So wird die ganze Ästhetik zur großangelegten Offenbarung der humanistischen Prinzipien: zum Ausdruck des allseitig entwickelten, unverzerrten, noch nicht durch die ungünstige Arbeitsteilung zerstückelten Menschen, des harmonischen Menschen, in welchem die körperlichen und seelischen Eigenschaften, die individuellen und gesellschaftlichen Züge ein unzertrennbares organisches Ganzes bilden. Diesen Menschen zu gestalten, ist in den Augen Hegels die große objektive Aufgabe der Kunst. Natürlicherweise schafft dieses Ideal der Humanität das absolute Kriterium für die Bewertung jedes künstlerischen Stils, jeder Kunstgattung oder eines einzelnen Werkes."

Kunst soll mit Hegel also das Ideal des Menschen oder den Menschen unter idealen Bedingungen widerspiegeln. Hegel war laut Lukács nicht konsequent wissenschaftlich, weil er noch im Idealismus verfangen war.

Wissenschaftlichkeit und materialistische Dialektik nach Lukács

Lukács behauptet daher:
"Nur die materialistische Dialektik, die nicht - wie Hegel - die abstrakt geistige, sondern die wirkliche materielle Arbeit zur Basis der Menschwerdung und Entwicklung des Menschen macht, ist imstande, auch in den ästhetischen Fragen die Wirklichkeit richtig, wissenschaftlich zu formulieren."

Wissenschaftlichkeit ist die Bedingung für eine so gedachte marxistische Ästhetik, aber diese hat über die Wissenschaft hinausgehende ästhetische Zwecke: 

"Die Aufgabe der marxistischen Ästhetik ist es, die Kategorien des Ästhetischen genau zu erkennen, zu formulieren, ihren Platz in der allgemeinen Theorie der Widerspiegelung wissenschaftlich zu bestimmen."

Das Spezifische von Kunst und Ästhetik nach Lukács


Das einheitliche Prinzip in Lukács' Ästhetik, das seine nicht-marxistische Frühästhetik und seine spätere marxistische Ästhetik verbindet, ist das Bemühen um die Spezifizierung von Kunst und Ästhetik im Gegensatz zu Alltagsdenken, Wissenschaft oder Philosophie. Während aber die Frühästhetik im Wesentlichen willkürlich-idealistisch, formalistisch (nur auf die Form von Kunst bezogen) und nur scheinbar historisch war, sollte seine marxistische Ästhetik objektiv, wissenschaftlich, konkret und konsequent historisch werden. Lukács wendete sich der Literatursoziologie und –kritik von Einzelwerken zu. Mahmoud Ebadian bemerkte in Die Problematik der Kunstauffassung Georg Lukacs' dazu:

"Der unter dem Druck der politischen Ereignisse unternommene kunstanschauliche Positionswechsel Lukacs' verleiht den Schriften dieser Periode einen doppelten oder zwiespältigen Charakter, der darin besteht, daß die Behandlung der neuen Probleme von der alten Kunstauffassung geprägt sind."

Detailanalysen und idealistische Poetik bei Lukács


Konkrete Werkanalyse und abstrakte normative Poetik vereinen sich bei Lukács. Einerseits analysiert Lukács seit er Marxist geworden ist, Texte im Detail, andererseits ist sein ästhetischer Maßstab noch immer die idealisierte Kunst der griechischen Antike. Für ihn war die antike Kunst ein anzustrebendes, aber unerreichbares Muster für Schönheit und Realismus. 

Lukács spricht zwar davon, „die grundlegenden Kategorien der Ästhetik zu historisieren“. Gleichzeitig aber behält er die Hegelsche und Marxsche Überhöhung der antiken Kunst bei und macht dieses überhistorische Ideal zum Maßstab aller Kunst. „Die Grundlage einer“, Lukács sagt sogar „nie veraltenden Schönheit“ „ist eben die Erfassung und Darstellung der menschlichen Inhalte in ihren richtigen Proportionen.“ 

Realismus und Idealismus bei Lukács


Daher ist für Lukács der Realismus, die antike Schönheit bzw. die Darstellung des ganzen Menschen in jedem einzelnen Werk, in jeder einzelnen ästhetischen Totalität das Ziel jeder Kunst. Für Lukács ist Kunst immer auch ein Erkenntnismittel, nie einfach nur „schön“ oder unterhaltend. Kunst soll die Realität, die Gesamtheit der Erscheinungen, die Totalität, wie der Dialektiker sagt, ästhetisch angemessen erfassen und darstellen, damit sie Genuss von Schönheit mittels angemessener Erkenntnis ermöglicht. 

Tut sie das nur unzureichend, ist sie weder realistisch noch schön, überhaupt keine Kunst. Realismus ist für ihn das künstlerisch angemessene Mittel der Erkenntnis. Unter Realismus verstand Lukács keinen Stil und keine Technik. Er verstand darunter eine ganz bestimmte künstlerische Umsetzung der Widerspiegelung der Realität aus der Haltung des Künstlers zur Realität heraus. Gregory Fuller schrieb dazu in Realismustheorie. Ästhetische Studie zum Realismusbegriff:

"Hier tritt die ästhetische Dialektik von Erscheinung und Wesen ins Spiel. Realismus hat nicht die Erscheinung als Erscheinung abzubilden, Realismus ist immer versucht, zum 'Wesen' durchzudringen. Der vergesellschaftete Mensch erscheint in der realistischen Kunst so, wie er eigentlich ist. Wenn der Realismus zum Wesentlichen durchdringt, so ist mitgesetzt, daß der Realismus 'Wahrheit' darstelle, also die wirkliche Wirklichkeit abbilde."

 Stefan Neuhaus erklärt den realistischen Stil in der Literatur als "Idealismus":

"Der Realismus ist eigentlich ein Idealismus, insofern er vom Autor verlangt, bestimmte soziale wie ästhetische Grenzen einzuhalten und mit der kritischen Darstellung des bürgerlichen Alltags auch gleich Ideen und Anregungen zur positiven Veränderung mitzuliefern."

Theodor Fontane, einer der wichtigsten realistischen Dichter, erklärte auch, was Realismus nicht ist:

"Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten"

Der Ästhetiker Lukács erhält also Rückendeckung von einem der wichtigsten literarischen Realisten und von anderen Literaturwissenschaftlern.

Kunst = Schönheit = Realismus


Die Spezifizierung von Kunst und Ästhetik besteht bei Lukács ganz wesentlich darin, dass das humanistische und realistische Wesen der Kunst in jedem einzelnen künstlerischen Werk durchscheint, und dass die Ästhetik die dialektische Einheit dieses Wesens mit ihren Erscheinungen interpretiert, aufdeckt und kritisiert. 

Kunst, Schönheit und Realismus werden so bei Lukács (dialektisch) identisch, d.h. „Kunst und Realismus sind so untrennbar wie Ästhetik und Realismustheorie.“ Fontane hat diese Einschätzung ziemlich drastisch und wörtlich bestätigt: 

"Der Realismus in der Kunst ist so alt als die Kunst, ja noch mehr: er ist die Kunst. Unsere moderne Richtung ist nichts als eine Rückkehr auf den einzig richtigen Weg, die Wiedergenesung eines Kranken."

Wenn man Lukács also Dogmatismus und Marxismus wegen seiner Literaturtheorie vorwirft, muss man auch dem großartigen Poeten Fontane marxistischen Dogmatismus vorwerfen.

Totalität und dialektische Widerspiegelung in der realistischen Kunst


Von Hegel kommt die Vorstellung, dass die Realität dialektisch ist, sich durch einander widersprechende Tendenzen bewegt und entwickelt. Realität wird als Totalität, als umfassende Gesamtheit der Einzelphänomene, verstanden. Die Gesellschaft ist für Hegel gleichbedeutend mit dieser Gesamtheit. Erst die Erkenntnis ihrer Tendenzen im Einzelnen ermöglicht die Erkenntnis der ganzen Gesellschaft und ihrer Entwicklungstendenz insgesamt. Diese Erkenntnis ist das prozesshafte Verstehen der Teile durch das Ganze und des Ganzen durch die Teile. Das ist im Grunde der hermeneutische Zirkel, der wesentlich ist für eine dialektische Erkenntnistheorie. 

Lukács meint, dass der Künstler bei der Erfassung der Realität und ihrer Darstellung prinzipiell so verfahren muss, dass er den genannten hermeneutischen Zirkel durch jedes Kunstwerk provoziert.

"Das Kunstwerk soll den Schein einer Totalität hervorrufen."

Als Marxist will sich Lukács natürlich nicht mit einer immanenten Werkinterpretation begnügen. Ihm ist an einer ganzheitlichen Betrachtung der ästhetischen Praxis gelegen. Es sind bei Lukács mehrere Aspekte dieser Praxis unterscheidbar: die gesellschaftliche Totalität, die Haltung des Kunstproduzenten zur Totalität, seine konkreten künstlerischen Mittel und die Wirkung auf den Kunstkonsumenten bzw. die Gesellschaft. 

Zunächst schließt sich Lukács Hegel an, wenn er über günstige und ungünstige gesellschaftliche Totalitäten für gute Kunst schreibt:

"Hegel meint nicht, daß jede Entwicklungsphase der Kunst gleich Wertvolles zu schaffen imstande sei, daß wie dies der dekadent bürgerliche Relativismus behauptet, die geschichtliche Notwendigkeit der Entstehung gewisser Stile in gewissen Perioden die ästhetischen Wert- und Rangunterschiede auslöschen könne, die zwischen den einzelnen Perioden, Stilen bestehen. Er meint im Gegenteil, es folge aus dem Wesen der Kunst, daß ein bestimmter Gehalt für den künstlerischen Ausdruck geeigneter ist als der andere, daß gewisse Entwicklungsstufen der Menschheit für das künstlerische Schaffen noch nicht oder nicht mehr geeignet sind."

Hegel, Marx und Lukács sahen in der Antike einen passenden Gehalt für Kunst, Realismus und Schönheit. Hingegen ist festzuhalten, dass „die Kunst der russischen Realisten“, so kritisiert Lukács an Hegel, eine Richtung war, „die für Hegels Ästhetik sozusagen überhaupt nicht existierte“, während die marxistische Ästhetik gerade den Realismus ab dem 19. Jahrhundert hoch schätzte. Die Bedingungen für den Realismus verbesserten sich wieder, was Hegel laut Lukács noch ausgeschlossen hatte. Der soziale Gehalt ist nicht Garant einer vorherrschenden Sorte von Kunst, sondern bloß Voraussetzung für sie.

Weiterhin ist eine realistische Haltung des Künstlers nötig. Der Künstler erfasst mit der realistischen Haltung die wichtigen Tendenzen in der Gesellschaft, die Einzelphänomene, und kann daher die ganze Gesellschaft im Wesentlichen verstehen. Hat er die Tendenzen und die Gesamttendenz erfasst, wird er als Künstler diese Tendenzen im Kunstwerk angemessen widerspiegeln. Der Realismus muss die Totalität der Gesellschaft ästhetisch widerspiegeln. Tut er das nicht, bricht seine dichterisch-realistische Haltung ab.

Widergespiegelte Totalität ist die Vermittlung der vielen Teile mit dem Ganzen im angemessenen Verhältnis. Im realistischen Werk muss also das passende Verhältnis von Teil und Ganzem gefunden werden. Das richtige künstlerische Verhältnis wird durch Abgleich mit der Wissenschaft von der Gesellschaft erfasst. Dieses passende Verhältnis kann nicht durch idealistische Ästhetik, Poetik oder Literaturtheorie gefunden werden. Die nämlich heben sich von der Gesellschaftswissenschaft ab und bleiben so notwendig einseitig und spekulativ. 

Wissenschaft kann sich das aber nicht erlauben, sondern muss stets über bisherige Grenzen hinausweisen. Mitunter muss sie nach umfassender, objektiver und intersubjektiv nachvollziehbarer Erkenntnis streben. Im Sinne von Lukács kann einzig die soziologisch fundierte Literaturtheorie, die Literatursoziologie, einen wissenschaftlichen Maßstab für realistische Literatur liefern. Der Realitätserkenntnis wegen sollen Literatur und Literatursoziologie dialektisch und materialistisch sein.

Dialektik in der Kunst


Von großer Wichtigkeit ist für Lukács also Dialektik in der Kunst. Er kritisiert Kunst, in der die Dialektik irgendwie zerrissen wird, wie er meint. Beispiele sind: romantische, naturalistische und „sozialistisch-realistische“ Kunst. Sie waren für Lukács furchtbar undialektisch, weil einseitig und starr, ohne die komplizierten Widersprüche der realen Welt darzustellen. Gregory Fuller stellt ganz in diesem Sinne fest:

"Alle Kunst, die nicht realistisch ist, ist in letzter Instanz und ohne unlautere Absicht im schlechten Sinn Ideologie. Alle nichtrealistische Kunst stützt mehr oder minder den Status quo, weil sie nicht am Status quo rüttelt"

Solch „Antirealismus“ verschleiere die Wirklichkeit. Nichtrealistische Kunst verfehle laut Lukács das Spezifische an der Kunst, ihr realistisches und ästhetisches Wesen, das in jedem Kunstwerk aufscheinen muss. 

Realistisch und schön ist Literatur dann, wenn sie durch die Oberfläche der Realität dringt und zugleich ihre Entwicklungstendenzen aufscheinen lässt. Schön Literatur müsse die „Prosa“ der wirklichen Welt und die mögliche „Utopie“ zugleich und ineinander organisch verwoben darstellen. Und sie müsse die widersprüchlichen Einzelaspekte der Realität gleichzeitig beibehalten. 

Dies werde mit den Kategorien des Typischen bzw. des Besonderen in der Kunst gewährleistet.

Das Typische und das Besondere


Die Kategorie der "Totalität" ist in der Ästhetik von Lukács von den Kategorien des "Besonderen" und "Typischen" nicht zu trennen. Hierin spiegelt sich erneut die krasse Kompromisslosigkeit von Lukács beim Ziel und der Definition der Kunst wider. In diesem Sinne wird Lukács nach Ebadian zitiert: 

"Nur wenn in diesem Ganzen als Ganzes etwas entscheidend, etwas für die Menschheit unverlierbar Typisches zum Ausdruck kommt, verdient ein Produkt der Kunst Kunstwerk genannt zu werden."

Kunst wird zur Totalität, die die künstlerische Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit ist und sich mit der Kategorie des Typischen oder Besonderen spezifizieren lässt. Ebadian erklärt weiterhin:

"Die ganze Theorie der Literaturinterpretation Lukacs' ist hauptsächlich auf der Konzeption des Typischen als der zugespitzten Spannung begründet."
Und Gregory Fuller fügt hinzu:
"Die „Dialektik von ‚dieser‘ Erscheinung und ‚dem‘ Wesen wird im Typischen offenbar. Das Typische vereint die Gegensätze in eins. Identität der Identität von Erscheinung/Wesen.“ 

Das Typische bei Lukács soll eine Kategorie sein, die das Einzelne mit dem Allgemeinen, den Teil mit dem Ganzen vermittelt, ohne einen der beiden Aspekte auszulöschen. Die Spannung zwischen beiden Seiten spiegelt die lebendige Dialektik der Realität wider. Ist diese Spannung nicht vorhanden, so wird die Literatur banal und schematisch. Genau das passiert bei den nicht-realistischen Werken, so Lukács.

Wie stellt der Künstler aber konkret die Tendenzen in der Gesellschaft und die Vermittlung von Teilen und Ganzem dar? Das wichtigste Merkmal ist der realistische Figurentypus. Die typische Figur ist das Typische einer Gesellschaft in Protagonisten. Lukács definiert:

„Der Typus wird dadurch charakterisiert, daß in ihm alle hervorstechenden Züge jener dynamischen Einheit, in welcher die echte Literatur das Leben widerspiegelt, in ihrer widersprüchlichen Einheit zusammenlaufen, daß sich in ihm diese Widersprüche, die wichtigsten gesellschaftlichen, moralischen und seelischen Widersprüche einer Zeit, zu einer lebendigen Einheit verflechten.“

Das Typische bzw. Besondere zielt, so Ebadian, auf die

„Erfassung und Entfaltung der inneren Widersprüche und Zusammenhänge eines komplexen Dinges. Der Mensch ist ein Ensemble der sozialen Verhältnisse, die im Hinblick auf seine soziale Praxis zu klären sind. Dementsprechend stellt sich seine Integrität heraus, indem er im Prozeß der gesellschaftlich notwendigen Praxis dargestellt wird; denn dies ist das Gebiet, auf dem die Menschen als Subjekt der Geschichte tätig sind und ihre Interessen und Ideale zu objektivieren.“

Kurz, der realistische Typus soll Lebhaftigkeit und Stimmigkeit ausstrahlen, eine Figur sein, die sich notwendig aus der Handlung entwickelt. Der Typus soll vor allem lebendige Dialektik verkörpern. Tut eine Figur dies nicht, ist sie nicht typisch, sondern stereotyp oder eine handlungsfremde Schablone, die starr oder unverständlich wirken muss. 

Puškins Evgenij Onegin in Lichte von Lukács‘ Ästhetik


Russische Revolution und russische Literatur


Nun endlich, nach dieser längeren Erläuterung der Ästhetik von Lukács, kann ich hoffentlich halbwegs nachvollziehbar die Anwendung dieser Ästhetik auf Puškins Onegin thematisieren. Lukács behauptet, der Onegin und die russische Realität seien erst nach 1917, erst vor dem Hintergrund der russischen Revolution wirklich zu verstehen. 

Die Oktoberrevolution war eine Erhebung der russischen Massen gegen die knechtenden und entmenschlichenden Verhältnisse im Zarenreich. Damit zeigte sich die Geschichte der russischen Literatur und der Nationalkultur in einem neuen Licht. Das Schönheitsideal bzw. die „Schönheitssehnsucht der Periode“ waren „eng verwandt mit den wirklichen Problemen der entstehenden neuen Welt“, wie Lukács meint.

Die politische Opposition musste im ganzen 19. Jahrhundert in den Untergrund gehen, während die Literaten öffentlich wirken konnten. Die politische Kritik mag sich so auf die Literatur verschoben haben, denn die Literatur war eine Möglichkeit für die russische Intelligenzija, die erbärmlichen russischen Verhältnisse zu verarbeiten und auf eine bessere Zukunft zu verweisen. 

Der Realismus in der russischen Literatur war teils der literarische Ausdruck des fortschrittlichen Idealismus der russischen Intellektuellen. Dieser idealistische Realismus beleuchtete die russische Gesellschaft künstlerisch und lieferte damit bis heute eindrückliche Bilder der damaligen Gesellschaft. 

Lukács versteht die realistische Kunst dieser Zeit als „Ruf nach einer noch nicht geborenen Zukunft, als das Zum-Leben-Erwachen jener Tendenzen der gegenwärtigen Wirklichkeit, die diesem Ausblick zustreben.“ 

Der realistische Gehalt in Evgenij Onegin


Die damaligen Verhältnisse waren so empörend, dass sogar die russische Obersicht, der Adel, gegen den Zarismus revoltierte. Der russische Adel war Anfang des 19. Jahrhunderts stark von westlichen Ideen beeinflusst und wollte eine Modernisierung des Landes. Der Zar und fand 1825 im Aufstand der Dekabristen seinen ersten großen politischen Ausdruck.Puškins Werk ist in diesem Lichte als eine ästhetische Revolte des fortschrittlichen Adels zu verstehen.  Puškin war kein revolutionärer Dekabrist, wie wir wissen, aber selbst als an den Adel und den Zarismus gebundener Künstler konnte er immerhin gewisse Realitäten in der russischen Gesellschaft erfassen. Auch konnte er die Wirkung des antiken Ideals vom Menschen künstlerisch darstellen. 

Puškin war demnach Realist, weil er die (vor)revolutionäre Situation in ihrem Keim erfasste und angemessen darstellte und Onegin war für Lukács ein Paradebeispiel für realistische Kunst:

„Belinskij sagt richtig über Eugen Onegin, daß dieses Werk ein Roman und kein Epos sei, nicht einmal ein sogenanntes modernes Epos. Es ist ein Roman, der die Totalität des damaligen russischen Lebens enthält und über den Belinskij wieder richtig sagt, er sei die Enzyklopädie des russischen Lebens. Es ist ein Roman, und zwar ein epochemachender Roman größten Stils, denn Puschkin erfaßt und gestaltet in ihm die wichtigen Typen seiner Gegenwart in einer solchen Tiefe, daß sie als die sekulär bedeutenden Typen der späteren russischen Entwicklung vor uns stehen.“

An romantischen und naturalistischen Werken kritisiert Lukács die Einseitigkeit. An Puškins Werk, gerade am Onegin lobt er im Gegenteil die Fülle, die volle Erfassung der Realität, eben dass er „eine Enzyklopädie des russischen Lebens“ (Belinskij) ist. Das genau macht für ihn den Onegin zum realistischen Werk. Der Gehalt im Onegin ist „die aus der Struktur der Klassengesellschaft (konkret: der zerfallenden feudalen Gesellschaft) notwendig erwachsende Ungerechtigkeit, die keinen Strahl Hoffnung auf eine Lösung zuläßt.“

Die Figuren im Onegin sind objektiv und „mit sichtbarer Notwendigkeit“ aus dieser zerfallenden Klassengesellschaft herauswachsende Figuren. Es sind ganz typische Menschen jener Zeit. „Puschkin geht nie über die Gestaltung ‚normaler‘ Menschen hinaus. Sein Empörer zeigt nie menschlich verzerrte Züge, im Gegenteil, aus jeder seiner Taten strömt eine geistige und moralische Überlegenheit und beleuchtet um so schärfer die Verdorbenheit der sich auflösenden Gesellschaft.“

Puškin behält auch dadurch durchgehend eine optimistische Perspektive, obwohl er „alles“ sieht und „alles“ offen ausspricht, was in der Klassengesellschaft den Menschen verdirbt. Nach Lukács ist das Problem der deprimierenden und hoffnungslosen Klassengesellschaft als Gehalt der Schönheit im Onegin dadurch überwunden, dass dieser Gehalt nur Inhalt, nicht aber das „formende Prinzip“ ist. Das formende Prinzip ist stattdessen, „inmitten der notwendigen Verzerrungen, die die Klassengesellschaft erzeugt, die menschliche Integrität, das Ideal der menschlichen Totalität zu retten“.

Lukács versucht, die dargestellten Proportionen im Onegin aus den Proportionen der Gesellschaft abzuleiten:

"Nach der Klärung dieser Fragen können wir konkreter an die nähere Bestimmung der Puschkinschen Schönheit herangehen. […] jede seiner Gestaltungen, mag sie ein Gefühl oder ein Ereignis darstellen, entspricht inhaltlich und formell, ihrem quantitativen und qualitativen Gehalt nach genau den tiefsten und wahrsten Richtungen der objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit […] wichtig bleibt, daß der gestaltende Blick des Dichters, der diese richtigen Proportionen feststellt, immer über den Tag, über die Vorurteile der Oberfläche hinausweis und diese Proportionen immer – gerade aus dem Gesichtspunkt der Zukunft, des Fortschritts – korrigiert."

Die Geschichte stelle den Onegin in einem neuen Licht dar, zeige die prophetische Weisheit dieses Textes. Einseitig romantisch oder dekadent wäre das Werk, wenn von vorne bis hinten Onegins Erkrankung an der Langeweile und Sinnlosigkeit als ganz natürlich und hinzunehmend oder als von vornherein unmöglich dargestellt wäre und wenn die Liebe Tat’janas zum Beispiel durchgehend als völlig unrealisierbar oder umgekehrt als ganz einfach zu erreichende Sache beschrieben wäre. Das wäre extrem einseitig und würde nicht das angemessene, realistische Verhältnis von Teil und Ganzem simulieren.

Das aber passiert nicht, sondern es wird ganz konkret gezeigt, wieso die Ideale und Wünsche der beiden sich nicht durchsetzen lassen, also ein angemessenes Verhältnis widergegeben. Onegin gehört nun Mal zum Typus des überflüssigen Menschen, der Liebe daher auch nur kaum akzeptieren kann, und Tat’jana kann als typisch russische Frau (des Adels) in einer zutiefst konservativen und frauenfeindlichen Gesellschaft eben nicht einfach ewig ledig bleiben oder ihren Ehemann der Liebe wegen verlassen. Soziale Zwänge hindern die beiden an ihren persönlichen Ansprüchen.

Ebenso steht es mit dem getöteten Idealisten Lenskij. Es ist dies der „Grundwiderspruch zwischen individuellem menschlichem Wollen, das an der nicht durchschaubaren Bewegung des Lebens und der Natur scheitert“ Die Ideale siegen also nicht an der Oberfläche der Handlung, weil die soziale Realität der Handlung es nicht erlaubt. Aber gerade deswegen siegen sie hintergründig moralisch, ideell gegen diese hinderliche Realität. Die Veränderung dieser Realität erscheint als die mögliche und notwendige Lösung für den Konflikt von nach Freiheit strebendem Individuum und Freiheit verhindernder Gesellschaft. Zur konkreteren Analyse dieser drei Figurentypen kommt es im Folgenden.

Die Hauptfigur Onegin


In der Hauptfigur Onegin vereinen sich offenbar der realistische Figurentypus von Lukács mit dem zentralen Figurentypus des russischen Realismus und der tragischsten Figur der realen russischen Gesellschaft bis zum Aufkommen der russischen Arbeiterbewegung. Die Darstellung Onegins ist realistisch und schön, weil er ganz vortrefflich die typischen Tendenzen der damaligen hohen Gesellschaft in sich verkörpert, zwischen denen er letztlich moralisch zerrieben wird.

Als (halb-)gebildeter Mann von Welt, als Dandy, hat er hohe Ideale erfahren, aber da ihm sein anerzogener Konformismus und seine rückständige Gesellschaft ein Ausleben der Ideale nicht gerade leicht machen, sind bei ihm die Ideale nur Schmuck. Er wäre gewiss gern eine „schöne Seele“ im Sinne Schillers, schmückt sich mit einer solchen charismatischen Aura aber letztlich nur wie mit dem schönen Pelz eines zuvor getöteten Tieres. Damit repräsentiert er wunderbar den Typus des „überflüssigen Menschen“, „des sozial funktionslosen russischen Adligen, dessen reiches Potential an Gütern und Geist ohne sinnvolle Aufgabe brachliegt.“

Schon in der dritten Strophe macht Puškin einen zentralen Grund für die Mängel seiner Hauptfigur deutlich: dessen weitreichende, aber eigentlich seichte Bildung und Moral bloß „in leichten Döschen“. Puškin zeigt, dass durchaus mehr drin wäre, dass Onegins Bildungsprozess aber sozial (d.h. künstlich durch bewusste Tätigkeit) begrenzt wird. Seine Erziehung zielt nicht auf die Heranbildung eines unverzerrten und harmonischen Menschen, sie zielt höchstens auf eine Karikatur dessen: einen verzerrten, verbildeten Menschen.

Das Resultat ist ein hässliches Wesen mit allenfalls schönem Schein. Denn obwohl Onegin mittels der antiken Vorbilder Juvenal, Vergil, Homer und Theokrit ebenso wie mittels eines Adam Smith oder seiner Liebeslyrik mit „Bildung glänzen“ und klugschwätzen kann, beschränkt er sich darauf, bei „ernsten Themen stillzuschweigen“ und „war für Weltgeschichte taub“.

Onegins Beziehung zu Frauen ist zunächst ebenso oberflächlich wie zur Welt allgemein. Dennoch vermag er die wohl ebenso oberflächlichen Damen zu begeistern: „Имел он [...]/И возбуждать улыбку дам/Огнем нежданных эпиграмм“. Die Verführung war ohnehin das einzige Gebiet, in dem er wirklich glänzen konnte:

"Как рано мог он лицемерить,/Таить надежду, ревновать,/Разуверять, заставить верить,/Казаться мрачным, изнывать,/Являться гордым и послушным,/Внимательным иль равнодушным!/Как томно был он молчалив,/Как пламенно красноречив,/В сердечных письмах как небрежен!/Одним дыша, одно любя!/Как он умел забыть себя!/Как взор его был быст и нежен,/Стыдлив и дерзок, а порой/Блистал послушною слезой!"

In den Strophen, in welchen Puškin am eindringlichsten auf die Beziehung Onegins zu den Frauen eingeht, wird ziemlich deutlich, dass Onegin an etwas wie Dekadenz (im sogleich ausgeführten Sinne) leidet: „Wo Unschuld Vorbehalte macht“, und in „schwachen Augenblicken“ „aller leichten Fraun“, da vermag Onegin es, „Verstand und Glut ins Feld zu schicken“, wobei er dennoch stets gelangweilt bleibt.

Solch eine Dekadenz kann definiert werden als „durch Krisenerscheinungen einer überreif gewordenen Ordnung erzwungener Antihumanismus und Nihilismus unter Beibehaltung der durch Differenzierung des Empfindungs- und Geisteslebens gekennzeichneten Höhe des echt Elitehaften“, so Leo Kofler, ein Schüler von Lukács.

Genau dieses Phänomen tritt im Falle Onegins allzu deutlich zu Tage, wenn man den Kontrast zwischen seiner Gleichgültigkeit „ernsten Themen“ gegenüber und seiner elitären Differenzierung in der Kunst der Verführung betrachtet. Dass Onegin bei Frauen Feuer und Flamme wird - und dass Puškin selbst durchaus kein antizaristischer Revolutionär war - sollte den Leser nicht darüber hinwegtäuschen, dass Onegin selbst darin bloß ein Heuchler und ein erbärmliches Opfer der überreif gewordenen zaristischen Ordnung ist.

Onegin langweilt sich selbst noch in der Leidenschaft, denn das ist es, „worum sich von früh bis spät/Sein Müßiggang gelangweilt dreht“. Onegins Geringschätzung seines Freundes und romantischen Idealisten Lenskij zeigt, dass er trotz seiner Nähe zur „schönen Seele“ Lenskijs nicht fähig ist, sich von seinem deprimierenden Konformismus bzw. Ritualismus zu lösen.

Den Konflikt mit Lenskij wegen eines unbedeutenden Flirts provoziert Onegin bereitwillig und ihr anschließendes Duell bereitet ihm nicht einmal eine schlaflose Nacht. Onegin tötet seinen Freund erbarmungslos. Immerhin zeigt er danach Reue, was wieder seine bloß sozial bedingte Verzerrung beweist. Onegin tötet mit Lenskij im Grunde symbolisch seine eigenen Ideale.

Tat'jana und Lenskij


Einzig Tat’jana vermag es gegen Ende des Romans, in Onegin die Menschlichkeit und ungeheuchelte Liebe entflammen zu lassen. Er bereut seine Fehler und legt sein Schicksal in ihre Hände, aber es ist sein zuvor selbst gewähltes Los, in Tat’janas Abweisung die Strafe für seine unmenschliche Dekadenz zu erhalten. Allerdings zeigt sich bereits zuvor, nämlich bei der Abweisung Tat’janas durch Onegin, dass er nicht einfach ein Unmensch ist, sondern trotz seiner Dekadenz noch einen Funken Menschlichkeit zeigt, indem er ihr nichts vorheuchelt, sondern sie zu ihrem eigenen Besten klar mit der Begründung abweist, sie würden eine Ehe der Langeweile und Entfremdung leben, wie es typisch für den Adel war.

Lenskij ist trotz seines Idealismus keine unrealistische Figur, sondern er verkörpert eine mögliche Tendenz der russischen hohen Gesellschaft, in der sich neben Dekadenz und Überfluss zu jener Zeit alles fortschrittliche Leben abspielte. Er gehört immerhin zum Schlag der humanistisch gesinnten adeligen Jugend, die mit dem Dekabristenaufstand von 1825 den ersten sichtbaren Riss im Zarismus bedeutete und von revolutionären Demokraten und Sozialisten beerbt wurde. Sein Idealismus ist ein romantischer, da Lenskij als Adeliger nicht die gesellschaftliche Kraft darstellen kann, die die menschliche Revolution möglich machen würde.

Erst die Arbeiterbewegung macht es möglich. Seine Ideen konnten nur aus dem ovalen Kopf Hegels auf den schmalen Schultern des deutschen Idealismus in der Welt geistern, wie es damals üblich war. Abgesehen davon ist Lenskij romantischer Poet. Sein Idealismus bleibt daher abstrakt und lyrisch.

Die Tötung Lenskijs durch Onegin ist gewiss ein Symbol für die Ohnmacht des dergestaltigen menschlichen Ideals gegenüber der „Prosa“ des wirklichen Lebens jener Zeit, und sie ist „eine Allegorie der Tötung/Beendigung der [romantisch-idealistischen] Epoche.“ Lenskij ist damit zugleich die tragische Figur des zu früh gekommenen Revolutionärs, der nur scheitern kann.

Tat’jana hat ihre eigene Tragik. Ihre anfängliche Naivität, durch die sie sich in Onegin verliebt, verschwindet in ihrer gesellschaftlichen Integration. Der Konformismus macht sie zu einer Dame von Welt. Dennoch ist sie keine völlig geistlose Seele geworden. Sie hat ihre Ideale und ihre Liebe nur versteckt und unterdrückt. Sie heiratet wie so viele Menschen damals (wie heute) nicht aus Liebe, sondern aus Konvention oder sozialer Notwendigkeit.

Das gesteht sie Onegin sogar. Weiterhin erklärt sie ihm, dass sie ihn noch immer liebe, aber aus ihrer Situation nicht heraus könne. Im Grunde verinnerlicht sie ihre Ideale und veräußert sie damit zugleich. Sie opfert ihre Individualität den Anforderungen der Gesellschaft an sie als Frau.

Wie haltbar ist die Realismustheorie von Georg Lukács, angewandt auf Puškins Evgenij Onegin?


Idealismus und Materialismus der Realismustheorie von Lukács


In den vorherigen Kapiteln wurde die heute noch vorhandene Relevanz der Realismustheorie von Lukács und deren Anwendung auf Puškins Onegin vorgestellt. Es zeigte sich, dass Lukács im Wesentlichen die ästhetischen Anschauungen von Hegel und noch mehr von Marx übernommen und systematisiert und in höherem Maße in seiner Literaturkritik konkret angewandt hat.

Anhand der Realismustheorie von Lukács konnte ein Werk wie der Onegin als realistisch dargestellt werden, da es alle wesentlichen Merkmale eines realistischen Werkes nach Lukács aufweist. Puškin hat als Künstler die wesentlichen Tendenzen seiner Gesellschaft erfasst und angemessen dargestellt, also eine realistische Haltung bewiesen. Evgenij Onegin kann als realistischer Text durchgehen, obwohl er der Form nach ein lyrischer Roman in Versen ist und romantische Topoi aufgreift.

Aber weder Lyrik noch romantische Elemente schließen Realismus aus. Denn die Hauptforderung an die Kunst, sie solle die den ganzen Menschen ideell, ästhetisch angemessen erfassen und darstellen, ist im Onegin erfolgreich erfüllt. Die gesellschaftliche Totalität wird anhand ihrer widersprüchlichen Tendenzen, verkörpert durch die typischen Figuren wie Onegin, Tat’jana und Lenskij, dargestellt.

Die Dialektik kommt da nicht zu kurz. Es gibt keine Einseitigkeiten, sondern immer nur Einschränkungen von Ideen. Die Liebe verliert in der Handlung, siegt aber ideell. Die Emanzipation erleidet gegenüber dem Konformismus und der Dekadenz in der Handlung zwar eine Niederlage, aber sie siegt doch, weil ihre moralische Überlegenheit eindeutig ist. Lenskij wird zwar von Onegin getötet, aber sein Tod ist nicht der Tod seiner Ideen. Immerhin verfällt selbst der abgeklärte Nihilist Onegin daraufhin selbst der Liebe.

Eigentlich lächerliche gesellschaftliche Rituale verhindern das Glück der Figuren im Roman. Geschichtliche Schranken für die harmonische Entwicklung des Menschen werden hier also ziemlich deutlich dargestellt und die humanistische Forderung nach ihrer Überwindung könnte daraus folgen. Mit Lukács‘ Realismustheorie kann Onegin als realistisch deklariert werden.

Aber wie steht es mit dieser Theorie in Gänze? Natürlich wäre ein konkreter Vergleich mit nicht-realistischen Werken und ein Vergleich mit Kritiken der gegen Lukács argumentierenden Wissenschaftler in Bezug auf den Onegin geboten, um die Problematik annähernd vollständig zu erfassen.

Allerdings scheint dies gar nicht nötig zu sein, um die Unzulänglichkeit der Hegel-Marx-Lukácschen Ästhetik zu kritisieren. Bei der Darstellung der Ästhetiken von Hegel, Marx und Lukács zeigte sich nämlich, dass alle drei eine besondere und problematische Form normativer Poetik vertreten: eine Ästhetik, die einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit mit der normativen Forderung nach Darstellung des Ideals der Humanität, welches „das absolute Kriterium für die Bewertung jedes künstlerischen Stils, jeder Kunstgattung oder eines einzelnen Werkes“ sei, in sich vereinen sollte. Anders aber als subjektivistische Literaturkenner wohl meinen, ist das eigentliche Problem einer solchen Ästhetik weniger die herausposaunte Normativität, die die Idealisten bloß unter den Teppich kehren wollen, ohne dass sie dadurch verschwindet.

Nicht die Forderung nach Einheit von Wissenschaftlichkeit und Normativität, nicht die Forderung nach einer Literatursoziologie, die zugleich eine soziologische Basis für ästhetische Beschäftigung mit Literatur im engeren Sinne bieten soll, nicht „der Mensch das Maß aller Dinge“ sind das Problem. Das Problem ist ein anderes: Der Anspruch der vorgestellten Lukácsschen Ästhetik wird genau genommen dem eigenen Anspruch nicht gerecht. Im Gegenteil: Die mangelhafte Umsetzung seines Anspruchs ist das eigentliche Problem. Das soll an einigen Teilaspekten des Problems ausgeführt werden.

Lukács will die ästhetischen Kategorien konsequent historisieren und soziologisieren, sie aus Gesellschaft und Geschichte ableiten und erklären. Zugleich ist sein ästhetischer Maßstab die Darstellung der Totalität des Menschen bzw. des Ideals des Menschen wie in der antiken Kunst in jedem Einzelwerk. Seine Betrachtung wird so tendenziell ahistorisch und abstrakt. Rolf Günter Renner kritisiert das sehr schön in Ästhetische Theorie bei Georg Lukács:

"Resultat dieses Festschreibungsprozesses ist, daß seine Analyse ästhetischer Gegenstände die Einheit und Gültigkeit von dialektischem und historischem Materialismus nur durch wenige Fixpunkte einer ästhetischen und einer historischen Analyse belegen will. Dies gilt besonders, weil Lukács die historisch verlorene Totalität des gesellschaftlichen Seins mit dem Zerbrechen der Totalität ästhetischer Form belegt. Als Überwindung dieses Zerfallsprozesses aber weiß er nur ein inhaltlich-abstraktes Geltendmachen der Totalität, vom 'Standpunkt' der 'Gattung', der 'Gesellschaft' oder des für Totalität einstehenden proletarischen Individuums oder der 'Klasse' zu nennen."

Die Beschränkung auf das inhaltlich-abstrakte „Geltendmachen der Totalität“ führt Lukács ästhetisch zurück zum objektiven Idealismus à la Hegel! Lukács ist zwar an einer ganzheitlichen und objektiven Betrachtung der ästhetischen Praxis gelegen. Er widmet sich auch ganz wunderbar dem historischen Hintergrund und der „Haltung“ des Künstlers wie auch den konkreten Kunstmitteln, die eine werkimmanente Darstellung des menschlichen Ideals liefern oder auch nicht liefern.

Er betont auch gerne implizit und teils explizit die erkenntnisfördernde und schöne Wirkung realistischer Literatur auf den Leser („Das Kunstwerk soll den Schein einer Totalität hervorrufen.“), allerdings tut er das nicht konsequent genug. Er betreibt weder Rezeptionsforschung noch Lesersoziologie, sondern begnügt sich mit Spekulationen über die Wirkung von Literatur! Daher kann er ausschließen, dass nicht-realistische Kunst in seinem Sinne eine realistisch-humanistische, schöne Wirkung auf den Leser haben kann.

Wenn Lukács seine ästhetischen Kategorien ahistorisiert und zugleich über gesellschaftliche Dialektik spekuliert, so fällt er zurück in eine idealistische und spekulative Ästhetik, eine Ästhetik des objektiven Idealismus wie bei Hegel. Er hintergeht damit den eigens erklärten Anspruch, eine konsequent wissenschaftliche Ästhetik "ohne illegitime Voraussetzungen“ zu formulieren. Schon mit seinem Schüler Kofler kann Lukács darin scharf kritisiert werden, denn dieser betrachtet die „soziologische Methode“ als „die einzige wissenschaftlich zulängliche Methode überhaupt“, auch in Bezug auf Kunst und Literatur.

Sogar Lukács‘ ästhetisches Hauptwerk, die große Ästhetik, kommt, so der mit Lukács sympathisierender Kritiker Ebadian, „mit der antiken Kunsttheorie, der deutschen klassischen Ästhetik und der marxistischen Kunstauffassung nicht zurecht" und „verfehlt ihre Bestimmung, die Eigenart des Ästhetischen zu erfassen."

Ein neues Verständnis von Realismus ist nötig


Ist der Anspruch von Lukács damit falsch oder unmöglich zu realisieren und kann man seiner Theorie wissenschaftliche Mängel in Bezug auf die Erfassung realistischer Werke vorwerfen? Sicher, wenn man dogmatisch an seinen Lehrsätzen festhält. Aber eine kritische Weiterentwicklung seiner Realismustheorie ist wohl möglich, wenn man sich seine Definition des orthodoxen Marxismus als kritische Methode zu Herzen nimmt. Lukács schreibt über die Wirkung von Kunst: „Nur wenn in diesem Ganzen als Ganzes etwas entscheidend, etwas für die Menschheit unverlierbar Typisches zum Ausdruck kommt, verdient ein Produkt der Kunst Kunstwerk genannt zu werden.“ Er bezieht solche Aussagen immer auf das Einzelwerk, nie auf die Kunst insgesamt.

Wieso aber sollte eine dialektische Ästhetik dazu verdammt sein, so engstirnig wie das ästhetische System von Lukács zu sein? Die Realismustheorie müsste auf Kunst insgesamt ausgeweitet werden. Marxistische Ästhetiken, die wissenschaftlicher und zugleich ästhetisch tiefsinniger als die von Lukács sind, gibt es denn auch bereits. Leo Kofler hat z.B. hat Lukács sinngemäß erweitert und Lucien Goldmann sowie Peter Bürger etwa haben marxistische Lukács-kritische Ästhetiken entwickelt.

Entscheidend ist, dass die Ästhetik wirklich historisiert wird und an die Stelle von Spekulation die wirkliche und konkrete Erforschung aller Ebenen der Kunst tritt. Die spekulative Ästhetik kann so zu einer historisch-materialistischen Literatursoziologie werden, deren Zweige für die einzelnen Aspekte von Kunst zuständig sind. Ihre Verbindung impliziert eine ganzheitliche Betrachtung der künstlerischen Praxis und auch der Realismustheorie. Kunst und Realismus können so weiterhin im Sinne von Lukács identifiziert werden, während die rigiden Anforderungen eines Lukács an jedes Werk aufgegeben werden können.

Die Kunst kann so wirklich als Gesamtheit, samt ihren sozialen Bedingungen, verschiedensten Ausprägungen, künstlerischen Haltungen und Interpretationen wie Wirkungen auf den Konsumenten erfasst werden. Realismus ist dann nicht mehr auf das Einzelwerk fixiert, sondern auf die Kunst insgesamt. Kunst als Ganzes hat dann immer noch den Auftrag, die das menschliche Ideal ästhetisch zu vermitteln. Die künstlerisch, humanistisch gebildete Gesellschaft von Kunstkennern kann prinzipiell auch nicht-realistische und nicht-schöne Produkte im Sinne der Realismustheorie von Lukács genießen, aus ihr also Erkenntnis und Genuss ziehen. Letztlich kann in derselben Richtung sogar nicht wesentlich ästhetisch intendierte Praxis ästhetisch, d.h. als Kunst, betrachtet werden. Kunst und Gesellschaft bedingen sich schließlich gegenseitig, gehen stets zusammen, werden so gesehen zur dialektischen Einheit.

Solch eine Perspektive führt, so kann furchtbar pompös geschlossen werden, theoretisch zum erklärten Ziel von Lukács: zu einer wirklich dialektischen und wissenschaftlichen Ästhetik, vielleicht gar in einer humanen und künstlerischen Gesellschaft, die - nicht mehr wie die Klassengesellschaften das reiche Potential an Gütern und Geist ohne sinnvolle Aufgabe brachliegen lässt oder milliardenfach zerstört, damit eine verschwindend kleine Minderheit sich austoben darf - wegen ihres demokratischen Gehalts alltäglich künstlerischen Realismus erzeugt und prinzipiell jedem Menschen Kunstproduktion und –genuss ermöglicht, also ein „Reich der Freiheit“ (Marx) ist.

Infos


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Gregory Fuller: Realismustheorie. Ästhetische Studie zum Realismusbegriff, Bonn 1977.

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Joachim Hirsch: Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen, Hamburg 2002.

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Leo Kofler: Geschichte und Dialektik. Zur Methodenlehre der marxistischen Dialektik, Oberaula 1970.

Leo Kofler: Zur Theorie der modernen Literatur. Der Avantgardismus in soziologischer Sicht, Düsseldorf 1974.

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Petr A. Kropotkin: Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur, Frankfurt am Main 1975.

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Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart, München 2000.

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Rolf Günter Renner: Ästhetische Theorie bei Georg Lukács. Zu ihrer Genese und Struktur, Bern 1976.

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