Dienstag, 9. Februar 2016

Vom berühmten Fettsack mit dem Marx-Tattoo und der makellosen Badenixe

"Ewige Jugend" (englischer Titel: "Youth") ist ein toller Film. Schaut ihn. Leider ist er nicht ganz einfach. Vermutlich ist das sogar einer dieser Filme, die man zehn Mal sehen muss, um ihn wirklich schätzen zu lernen. Aber immerhin: Man kann viel aus dem Film lernen. Wovon handelt er aber? Unter anderem von einem berühmten Fettsack mit Marx-Tattoo und einer makellosen Badenixe - ja, im Ernst - und von einem depressiven Hitler. Natürlich, diese drei Figuren werden bloß von Nebendarstellern gespielt. Jedoch verkörpern sogar sie die tiefschürfende Idee, um die sich die ruhige Handlung des Films herum aufbaut.
Szene aus "Ewige Jugend": Fred und Mick
bestaunen "Gott", d.h. Miss Universum

Der Ex-Komponist Fred (Michael Caine) und der Regisseur Mick (Harvey Keitel) verbringen als Freunde ihren gemeinsamen Lebensabend in den Alpen. Während Fred resigniert wirkt, scheint Mick noch voller Hoffnung zu sein. Fred lehnt das Angebot der britischen Königsfamilie ab, für sie ein Konzert zu spielen. Stattdessen lässt er sich von jungen Frauen rein äußerlich beglücken. Mick plant hingegen seinen letzten großen Film und will seinem Schöpfertum erneut Ausdruck verleihen. Der Film ist ein ehrliches "Erschrecken vor der eigenen Bürgerlichkeit", wie ein Kritiker es ausdrückte. Umgeben sind die beiden Hauptfiguren von nicht minder bürgerlichen Karikaturen, die alle samt leidenschaftlich mit ihrem Selbstbild kämpfen.

Lena (Rachel Weisz), die Tochter Freds, verliert ihren Verlobten, den Sohn von Mick (Ed Stoppard), an eine "Schlampe", d.h. an eine extrem oberflächliche Pop-Sängerin (Paloma Faith). Der Grund dafür ist der Sex, wie ihr Ex-Verlobter gesteht. Der elegant gekleidete Betrüger meint, nun endlich in der unterdurchschnittlichen Sängerin eine spannende Frau gefunden zu haben. Paloma selbst bildet sich ein, eine große Künstlerin zu sein. Und Lena gefällt sich als Antwort auf diese Verletzung in ihrer Rolle als unwiderstehliche Verführerin. Allen möglichen Männern umwerfende Blicke zuwerfend will sie sich ihren Sex-Appeal wieder zurückholen. Der Maradona-Verschnitt (Roly Serrano) ist übergewichtig und träumt von seiner Vergangenheit als Fußballstar. Jimmy Tree (Paul Dano), ein frustrierter Schauspieler, der nur für seine Rolle als Roboter bekannt ist, will nichts sehnlicher als eine extrem anspruchsvolle Rolle spielen - in diesem Fall Hitler. Auch Jane Fonda hat als die alternde Schauspielerin Brenda Morell ihren Moment der Offenbarung, als sie im Flugzeug zusammenbricht und ihre Perücke verliert. All diese Charaktere haben ihren großen Auftritt im Film. Sogar Miss Universum (Madalina Diana Ghenea) will nicht bloß als hübsches Dummchen gelten und beweist ihre Intelligenz in einer großartigen Szene und eine tiefsinnige Masseuse mit Zahnspange (Luna Zimic Mijovic) würde gerne ihre Weisheit als Pop-Sängerin in die Welt hinausposauen.

Die Schauspieler spielen ihre Rolle perfekt. Man musste sie deswegen hier namentlich erwähnen. Selbst Miss Universum und Paloma Faith waren wunderbar selbstironisch und grandios. Den Schauspielern und ihren Figuren geht es um ihre Identität bzw. ihr "wahres", inneres Wesen. Hinter ihrer Oberfläche verbirgt sich ihr Kern. Deswegen hat dieser Film eine gewisse Tiefe. Allerdings bleibt die Frage offen, ob die Oberfläche oder das innere Wesen die Wahrheit der Charaktere ist. Ist der Fettsack mit dem Marx-Tattoo nun in Wirklichkeit ein weltberühmter Fußballer oder ein nostalgischer Fettsack? Und ist Miss Universum eine makellose Badenixe oder nur eine geradezu obszön hübsche Frau? Die Antwort wird nicht wirklich gegeben. Aber ausgerechnet Hitler, der größte Betrüger und kleinste Mensch, erkennt die große Botschaft des Filmes. Der Schauspieler Jimmy Tree, der für seine leichte Rolle als Roboter bekannt und damit überaus unzufrieden ist, erkennt im besoffenen Zustand als verkleideter Hitler seine Bestimmung, für den Drehbuchautor und Regisseur Sorrentino das einende Band aller Menschen zu benennen:

"Ich studiere die Hotelgäste schon seit Wochen. Ich habe alle minutiös beobachtet. Sie und Fred, Lena, die Russen, die Araber, die Jungen, die Alten... Und ich bin zu einem Schluss gelangt. Ich muss mich entscheiden. ICH muss mich entscheiden, wovon ich erzählen will: Schrecken oder Sehnsucht? Und ich wähle die Sehnsucht. Sie, jeder einzelne von Ihnen, hat mir die Augen geöffnet, hat mich begreifen lassen, dass ich mein Leben nicht darauf verschwenden darf, sinnlosen Schrecken darzustellen. Ich kann nicht Hitler spielen. Nein, ich möchte von Ihrer Sehnsucht erzählen, so pur, so völlig unmöglich, so unmoralisch. Aber das ist völlig egal, denn erst sie macht uns so lebendig."

Szene aus "Ewige Jugend":
Der Fettsack mit dem Marx-Tattoo ist nicht mehr allzu fit
Dass ausgerechnet "Hitler" den Widerspruch zwischen Oberflächenschein und Wesenskern im Film ausspricht, ist kein Zufall. Dem Schrecken, den Hitler verkörpert, soll man nicht unnötig viel Beachtung schenken. Vielmehr soll man den Sehnsüchten der Menschen die aller größte Aufmerksamkeit zuteil kommen lassen. Das ist die Erlösung im menschlichen Jammertal, das im Film von den Alpengipfeln umgeben ist. Nicht umsonst schwebt ein buddhistischer Mönch in der nächsten Szene durch die Gegend, womit er dieses Elend hinter sich lässt. Und nicht umsonst nennt Mick die nackte Miss Universum "Gott" und den Genuss ihrer Perfektion "das letzte wahre Idyll unseres Lebens", das den Menschen geblieben sei. Es ist gewiss auch kein Zufall, dass Maradona zu Anfang des Streifens ebenfalls "Gott" genannt wird.

Es wäre noch viel über den Film zu sagen. Man könnte zehn weitere positive Rezensionen mit Fokus auf die Musik, die Symbolik oder den Schnitt verfassen. Das hier soll aber vorerst genügen. "Ewige Jugend" ist eine Offenbarung. Die bösen Kritiker des Meisterwerks von Sorrentino sollten es womöglich noch einige Male anschauen, um seine Tiefe zu begreifen. Oder sie sollten diese Rezension hier lesen und sich in Grund und Boden schämen, weil ein Türsteher und Prolet mehr von ihrem Fach versteht als sie, die kleinbürgerlichen Kunstkritiker.

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