Sonntag, 10. November 2013

Die Lebenden und die Toten – und die lebenden Toten




Die lebenden Toten


Das Zombie-Genre lebt! Denn die TV-Serie The Walking Dead hat die gruseligste Form der Sozialkritik wiederbelebt und Millionen von Zuschauern wöchentlich einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Sie reiht sich damit ein in das Erscheinen so verschiedener Zombiefilme wie Dawn of the Dead, Land of the Dead, die Parodie Shaun of the Dead und meinen Zombie-Favoriten 28 Days later.

Das Szenario ist bekannt: eine kleine Gruppe von Überlebenden muss irgendwie in einer postapokalyptischen Welt der Hirn fressenden Untoten und verkommenen Unmenschen überbestehen. Die sogenannten “Walker” sind wie die Untoten in den Zombiefilmen der 70er und 80er äußerst dumm und träge. Sie sind dennoch der blanke Horror für die Lebenden, da sie nicht nur stets hungrig, ansteckend und schmerzunempfindlich sind, sondern auch zu Überraschungsattacken neigen.

Die “Walker” bringen unerträgliches Leid über die Menschen. Ohne Gewissen wird zugebissen und gefressen. Ob Kinder, schwangere Frauen, ältere Menschen oder muskelbepackte Machos – niemand wird geschont. Jeder Biss infiziert, führt zum baldigen Tod und zur Wiederauferstehung des nunmehr lebenden Toten. Das Gehirn der Untoten verkümmert, sodass von der individuellen Persönlichkeit des Toten nichts mehr übrig bleibt. Scheinbar bleibt einzig die primitivste Hirnregion, die für Hunger und Aggression, völlig intakt.

Nur die Zerstörung des untoten Gehirns besiegt die “Walker”. Ansonsten kriechen sie auch ohne Gliedmaßen weiter, um die Lebenden ebenfalls in lebende Tote zu verwandeln. Die praktisch hirnlosen Zombies scheinen daher so gut wie unaufhaltsam zu sein. Außerdem sind sie in der Überzahl. Und die wenigen Überlebenden haben auch intern gewaltige Probleme, die zuweilen ebenso gefährlich sind wie die Zombies.

Die Lebenden und die Toten


Die Konfrontation mit den lebenden Toten löst bei den Lebenden eine eigenartige Dynamik aus. Die Charaktere entwickeln sich in dieser nervenaufreibenden Katastrophe oft zum Schlechten, teils aber auch zum Guten, wenn sie an den Hindernissen reifen. Rick, ein ehemaliger Sheriff, wird aufgrund seiner Tugendhaftigkeit und Führungsqualitäten zum Helden der Serie. Er wurde vor der Zombieoffensive bei einem Einsatz angeschossen und wachte im Krankenhaus erst auf als seine alte Welt schon unwiederbringlich untergegangen war. Bevor er die kleine Gruppe um seine Frau Lori und seinen besten Freund Shane findet, fangen letztere zwei eine Affäre an, weil sie Rick für tot halten. Lori kehrt zu Rick zurück, was Shane nicht akzeptieren will. Anders als Rick entwickelt sich Shane daher zum Schlechten. Diese Ausgangssituation alleine ist schon konfliktgeladen, wird aber durch diverse weitere interne Konflikte zwischen den Überlebenden in und außerhalb der Gruppe verschärft.

Fast immer, wenn die Gruppe auf unbekannte Überlebende trifft, entsteht eine eindringlich unangenehme Atmosphäre. Die Lebenden sind nicht immer besser als die lebenden Toten. Manchmal sind sie sogar gefährlicher. Es kommt immer wieder zu Raub, Mord, Verrat und Betrug. Auch innerhalb der eingeschweißten Gruppe. Menschen bekämpfen einander auch im Kampf gegen Untote noch. So kommt es auch immer wieder vor, dass eine Fraktion der Lebenden eine andere opfert, um den Untoten zu entkommen. Solche Situationen werfen die große existenzielle Frage auf, was der Unterschied zwischen Zombies und Menschen ist, wenn auch Menschen kein Gewissen besitzen.

Moralische Fragen werden überhaupt ständig neu gestellt und hinterfragt. Die Grenzsituation spitzt die Widersprüche zwischen den Überlebenden zu, anstatt sie zu dämpfen. Dabei spielen auch Partikularinteressen eine Rolle. Aber sogar da, wo es nicht um Interessengegensätze geht, kommt es oft zu äußerst scharfen weltanschaulichen Auseinandersetzungen zwischen den Überlebenden, die sich um das Schicksal der Menschheit drehen: Welche Einzeltaten dienen dem Gesamtinteresse der Gruppe? Welche moralischen Gebote müssen geopfert und welche unter allen Umständen geachtet werden? Was ist der Sinn eines Lebens in einer so schlechten Welt? Gibt es Hoffnung auf eine Besserung der Welt?

Unsere Gesellschaft und die lebenden Toten


Das Zombie-Genre lässt viele Deutungen zu. Das macht es besonders diskussionswürdig und provokativ. Sind die Zombies nur ein packendes Horrorszenario? Oder stellen sie nicht weit mehr dar? Sind Zombies nicht wie David McNally in seinem BuchMonsters of the Market: Zombies, Vampires, and Global Capitalism suggeriert, eine Reaktion auf die Gefahren des Kapitalismus?

Sind die Zombies nicht eine Verkörperung der Verrohung und Verblödung durch Fernsehen und Boulevard-Presse? Oder stellt der Konflikt zwischen Zombies und Menschen nicht vielleicht sogar den Kampf zwischen der perspektivlosen Ideologie der bürgerlichen Parteien und der humanistischen Perspektive der globalen Linken dar?

Immerhin kämpft einzig die Linke weltweit für eine Perspektive jenseits der unmenschlichen Verhältnisse im Kapitalimus. Denn noch immer heißt es: Sozialismus oder Barbarei. In welcher Form die Barbarei uns droht, können wir nicht genau vorhersagen. Aber man kann ahnen, dass uns nichts Gutes blüht, wenn wir wie Zombies vor dem Bildschirm sitzen bleiben oder ausschließlich unseren Hunger nach stillen als wären wir gedankenlose Zombies.

Man kann zwar keine eindeutige Antwort auf die obigen Fragen geben, aber schon Konstantin Simonow thematisierte das Problem der Deutung von Moral, Aufopferung und nötiger Strategie in seinem Kriegsroman Die Lebenden und die Toten.

The Walking Dead tut dies ebenfalls, wenn auch auf modernere Weise. Die Serie stellt Millionen von Zuschauern noch immer aktuelle Fragen der Menschheit in der düstersten Form, die künstlerisch bislang realisierbar ist. Und sie sagt uns viel über unser Verhältnis zum Leben.

Werden wir uns in eine Masse gedankenloser lebender Toter verwandeln, die sich gegenseitig fressen und vernichten? Oder bemühen wir uns zusammen mit unseren Mitmenschen um eine Zukunft, in der jeder und jede ein menschenwürdiges Leben führen kann?

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