Sonntag, 10. November 2013

Lehren aus der Geschichte des Antisemitismus - eine Buchrezension

Im Jahr 2007 erschien “Antisemitism. A Very Short Introduction” des liberalen Historikers Steven Beller. 2009 erschien diese gute Einführung bei Reclam auch auf Deutsch. 172 Seiten sind natürlich viel zu kurz, um so ein gewaltiges Problem abzuhandeln, aber die Stärke der Broschüre liegt ohnehin darin, dass sie die bedeutendsten Lehren zum Thema kurz und verständlich anhand der Geschichte selbst zusammenfasst. Diese Rezension geht auf einige wichtige Lehren ein, die man aus der Broschüre ziehen sollte.


Das Freilegen der sozialen Wurzeln des Antisemitismus


Abgesehen von den heute noch sehr wichtigen Lehren aus der Geschichte, die sich dem Leser geradezu ins Herz brennen, und der Kürze des Textes ist es sein größter Vorzug, dass der Antisemitismus trotz seiner Komplexität verständlich wird.

Der Autor mystifiziert ihn nicht als etwas bloß Irrationales und damit Unbegreifliches (wie nicht wenige frühere und heutige Autoren zum Thema), sondern versucht, den Antisemitismus trotz seiner irrationalen Seiten konkret im Zusammenhang mit Geschichte und Gesellschaft zu sehen.

Denn das "wird uns helfen, den Antisemitismus zu verstehen, und legt zudem einige Lehren hinsichtlich der Bekämpfung des Antisemitismus und anderer Formen des Vorurteils in Gegenwart und Zukunft nahe." Beller warnt: "Ein Verzicht auf das Begreifen und Erklären des Antisemitismus in all seinen Formen dagegen würde heißen, die Lehren hinsichtlich seiner Bekämpfung nicht ziehen zu wollen."

Verschiedene Ansichten zum Antisemitismus


Keine eindeutige Definition von Antisemitismus


Beller liefert selbst keine eindeutige Definition des Antisemitismus, aber er erklärt:

"Je nach Definition bezeichnet der Begriff ‘Antisemitismus’ unterschiedliche Dinge: einen Judenhass, der sich über Jahrtausende und Kontinente erstreckt, eine verhältnismäßig moderne politische Bewegung und Ideologie, die im Mitteleuropa des späten 19. Jahrhunderts entstand und ihren Höhepunkt, den Gipfel des Bösen, in der Schoah erreichte, sowie die irrationale, in psychologischer Hinsicht pathologische Variante eines zugleich ethnozentrischen wie auf die Religion konzentrierten Antijudaismus, der aus der Auseinandersetzung des Christentums mit seinen jüdischen Wurzeln herrührt und in der Schoah gipfelte, oder aber eine Verbindung all dieser Erscheinungen."

Diese etwas diffuse Charakteristik deutet das Problem an. Es geht Beller darum, den Antisemitismus in seiner Komplexität zu erfassen, ihn aus den häufig widersprüchlichen gesellschaftlichen Umständen zu erklären. Die Widersprüche in der Gesellschaft erzeugten die Widersprüchlichkeit des Antisemitismus. Es müsste daher eigentlich nicht von einem monolithischen Antisemitismus gesprochen werden, sondern von verschiedenen Formen des Antisemitismus, von Antisemitismen.

Einseitige und ahistorische Ansichten über Antisemitismus


In diesem Zusammenhang macht Beller klar, dass frühere Ansichten zum Thema häufig einseitig waren. Obwohl er antisemitische Verdrehungen von Opfern und Tätern zurückweist, die den Juden selbst die Schuld am Antisemitismus zuschieben wollen, warnt er zugleich davor, die europäischen Juden und ihre soziale Lage selbst nicht als bedeutsamen Faktor für den Antisemitismus mit zu bedenken:

"Beschützt man die Juden bei der Erforschung des Antisemitismus vor jeglicher Aussage, nach der sie für seine Verursachung mitverantwortlich seien, so bestreitet man ihnen folgerichtig auch jede positive Verantwortung in der Geschichte des Westens und verewigt ironischerweise eine der ursprünglichen Wurzeln des antisemitischen Vorurteils: die Idee, die Juden stünden 'außerhalb der Geschichte'."

Insofern sei das Hauptproblem der Diskussion um das Thema, "dass sie sich lediglich auf der diskursiven Ebene abspielt, so als weise der Antisemitismus keinerlei Beziehung zur Wirklichkeit jüdischer Existenz im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auf."

Letztlich führe diese Diskussion auf rein diskursiver Ebene in eine Sackgasse, die unter anderem in die unheilvolle Theorie der “jüdischen Selbsthasser” führt, nach der die Juden bloß Objekt und absolut passive Opfer der nichtjüdischen Geschichte seien: "Die moderne jüdische Geschichte ist aus dieser Perspektive – unabhängig von der Schoah – weitgehend ein Erzeugnis des Antisemitismus."

Diese Perspektive enthistorisiert die Lage der europäischen Juden also. Andererseits gibt es unpassende Krankheitsmetaphern für die Antisemiten und den Antisemitismus, so "als besitze er [der Antisemitismus] einen eigenen Willen oder als handele es sich um einen ansteckenden Virus, der den Einzelnen unfähig mache, ihn zu kontrollieren und zu bekämpfen."

Diese Perspektive macht also umgekehrt die Täter zum bloßen Objekt und zu Opfern des “ansteckenden Virus” Antisemitismus. Solche unhistorischen und eigentlich unwissenschaftlichen Perspektiven vermeidet Beller, da sie kaum Erklärungskraft haben und eigentlich alles einfach resigniert so hinnehmen, wie es kommt.

Sozialwissenschaftliche Erklärungen der Antisemitismen


Beller hingegen beschränkt sich nicht auf rein diskursive, ideologische oder psychologische Pseudoerklärungen, sondern bemüht sich stattdessen um wissenschaftliche, sozialgeschichtliche Erklärungen.

Den historischen Anfang des Antisemitismus erkennt Beller in der christlich-theologischen Feindseligkeit gegenüber den Juden seit dem Kirchengründer Paulus. Da die Juden als “Christusmörder” betrachtet wurden, sei ihre Diskriminierung und die Feindschaft ihnen gegenüber anfangs religiös motiviert gewesen. Dennoch schützte die Kirche sie zugleich gewissermaßen aufgrund ihrer Funktion als Zeugen für die Überlegenheit der Kirche. Vereinzelt gab es seit dem Judenverfolgungen, aber erst mit den Kreuzzügen kam es “zu einem bedeutsamen Ausbruch eines volkstümlichen Judenhasses”.

Dieser Hass wurde in Folge immer irrationaler und wahnhafter, Verschwörungstheorien und Wesensbeschreibungen “des Juden” entwickelten sich. Die Diskriminierung der Juden zeigte sich unter anderem an ihrem Ausschluss aus Landwirtschaft und Handwerk, sodass es “zu einer Konzentration der Juden im Gewerbe des Geldverleihs” kam, da den Christen das Einnehmen von Zinsen theoretisch verboten war.

Da Juden funktionell mit Geld in Zusammenhang gebracht wurden, identifizierte man sie schließlich damit, obwohl die meisten Kredite in der mittelalterlichen Wirtschaft noch immer von Christen zur Verfügung gestellt wurden.

Unabhängig von der Wirklichkeit schrieb man Juden also nur aufgrund theologischer Dogmen und selektiver Wahrnehmung ein bestimmtes die Geschichte überdauerndes, außergeschichtliches Wesen zu. Dennoch gab es verschiedene, sich widersprchende Wesensbeschreibungen des Judentums durch Antisemiten.

Irrationalistische und romantisch-nationalistische Antisemiten sahen in den Juden eine Gefahr für die nationale “Gemeinschaft”. Rationalistische Antisemiten behaupteten dagegen, die Juden seien rückständig und könnten nicht auf die selbe Stufe der Modernität kommen wie nichtjüdische Staatsbürger. Eigentlich war es gleichgültig, welche Wesensbestimmung der Antisemit gegenüber den Juden vornahm, in jedem Fall bestimmte er das Wesen “des Juden” als überhistorisch und negativ.

Diese (Un)Logik führte auf ideologischer Ebene mit letzter Konsequenz in die Vernichtung der Juden durch die Nazis, denn wenn die Juden unveränderlich und Feinde seien, wäre keine positive Veränderung möglich, sondern nur die “Endlösung” der Massenvernichtung.

Beller warnt allerdings implizit davor, die Schoah als logische Notwendigkeit jedes Antisemitismus, als Grund zum antimodernen Pessimismus oder als unvermeidlichen Rückschritt der Geschichte zu sehen. Es gab durchaus bemerkenswerte Fortschritte für die europäischen Juden und eine Zurückdrängung des Antisemitismus.

Integration, Emanzipation und Nationalismus der europäischen Juden


Liberalismus und Judentum


Die Feindseligkeit des Christentums in Europa den Juden gegenüber führte zur “Judenfrage”. Die Frage war, wie die Diskriminierung der Juden beendet werden konnte.

Die Aufklärungsphilosophie und die Kämpfe für bürgerliche Freiheiten in den fortgeschrittensten Ländern wie England, Holland und Frankreich führten zu einem neuen Verständnis des Menschen, das die Individualität und die Rechte jedes Staatsbürgers ins Zentrum stellte. Juden wurden in diesen Ländern daher zum großen Teil als gewöhnliche Staatsbürger anerkannt und konnten zu beachtlichem öffentlichem Ansehen kommen. Dort gab es “eine starke liberal-demokratische, individualistische und pluralistische Gegenströmung.”

Andererseits wandten sich viele Juden früh der Aufklärung und dem neuen Verständnis von Nationalität und Staatsbürgertum zu. Viele Juden wurden so zu glühenden Vertretern ihrer jeweiligen Nation, in dem Glauben, sie würden dadurch sich und der Nation helfen.

Jüdischer Nationalismus


Als sich in ganz Europa -, in Osteuropa vor allem im russischen Zarenreich, aber auch in Frankreich und Deutschland – die liberale Hoffnung auf vollständige Integration der Juden in den kapitalistischen Nationen als Illusion herausstellte, entwickelte sich ein eigenständiger jüdischer Nationalismus:

Eine Antwort auf das Aufkommen des Rassismus und Ethno-Nationalismus hatte darin bestanden, dass sie ihre eigene Identität auf die gleiche Weise definierten: Der Zionismus Theodor Herzls akzeptierte sowohl die Behauptung, die Juden seien in der Tat ein fremdes ‘Volk’, als auch die Kritik, der zufolge sie an einer moralischen Krise litten.

Der Zionismus war eine konservative und resignierte Antwort auf den Antisemitismus. Nicht die Antisemiten oder die Juden sollten sich ändern, sondern es brauchte einfach nur einen Nationalstaat für die jüdische “Nation”, in der sie in den eigenen Grenzen sicher sein sollte vor antisemitischer Anfeindung. Später sollte vielen Juden diese nationalistische Antwort als einzige mögliche erscheinen.

Sozialismus und Judentum


Es gab neben dem aufgeklärten liberalen Nationalismus und dem eigenständigen jüdischen Nationalismus aber noch eine dritte Antwort auf den Antisemitismus: den Sozialismus. Viele Juden hatten seit Mitte des 19. Jahrhunderts erkannt, dass ihre Integration trotz aller Bemühung gescheitert war und wandten sich dem Sozialismus zu. Berlin und Wien wurden im Laufe der Zeit die herausragenden Inseln der Verbindung von Juden und Sozialisten in mitten eines antisemitischen Umfeldes:

"Berlin und Wien, die beiden Städte mit der bei Weitem größten jüdischen Bevölkerung der Region, wurden von sozialistischen Verwaltungen regiert, die gewährleisteten, dass Juden gleiche Rechte und Chancen besaßen [...] Das Berlin der Weimarer Republik und das rote Wien waren Höhepunkte der jüdischen Teilhabe am Denken und der Kultur der Moderne."

Im Vorkriegs-Österreich “beherrschten die ‘Christlich-Sozialen’, die religiösen und wirtschaftlichen Antisemitismus miteinander verbanden, die Stadtverwaltung Wiens”, während in Deutschland bald die Nazis vom Schlage Hitlers aktiv werden würden. Im zaristischen Russland, das sich lange Zeit gerühmt hatte, frei von Juden zu sein, wandten sich große Teile der marxistischen Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung zu.

Viele führende Köpfe der revolutionären Bolschewiken, die den Zarismus siegreich bekämpften, waren Juden. Marx, der Namensgeber des Marxismus, kam ebenfalls aus einer jüdischen Familie. Die Sozialisten mit jüdischem Hintergrund hofften, die Emanzipation der Juden mit der Emanzipation aller Menschen in einer solidarischen Gesellschaft frei von Nationalismus und Staatlichkeit erreichen zu können.

Die Krise in Mitteleuropa und die Ursachen für die Schoah


Der Antisemitismus der herrschenden Konservativen und Rechten


Dass die Verbindung von Juden und Sozialismus den herrschenden Konservativen gefährlich werden konnte, wussten diese auch. Sie attackierten entsprechend mit ihrem aggressiven Nationalismus beide:

"In Deutschland leitete Bismarck nach 1871 die Herausbildung einer stärkeren nationalen Identität durch einen Prozess der ‘negativen Integration’ ein, der die Deutschen identifizierte, indem er festlegte, wer sie nicht waren."

Diese Identitätenpolitik sollte Juden nicht integrieren, sondern ihre eigenständige Identität als Juden zerstören oder sie ausschließen. "Bismarck gab der Idee, die Juden seien nicht wirklich Deutsche, seinen stillschweigenden Rückhalt [und auch] die Sozialisten wurden als undeutsch identifiziert und deswegen verfolgt."

In die selbe Richtung sollte der Antisemitismus der Rechten seit Bismarck die Judenfrage beantworten. Es hatte für den antisemitischen Dogmatiker durchaus Plausibilität, wenn er die soziale Stellung vieler Juden betrachtete. Überdurchschnittlich viele Juden waren etwa Intellektuelle, im Finanzwesen, Kapitalisten oder Sozialisten, weil man ihnen nicht viel mehr übrig gelassen hatte.

Das daraus entstandene Konstrukt der Umzingelung durch Juden war Teil einer antisemitischen Verschwörungstheorie. Antisemitische Verschwörungsfantasien, z.B. in den von Antisemiten gefälschten “Protokollen der Weisen von Zion”, "legten Elemente eines jüdischen Plans dar, den Kapitalismus und Sozialismus zu benutzen, um die Nichtjuden gegeneinander aufzuhetzen und so die Welt zu erobern."

Eine nicht-liberale Form des Kapitalismus als Nährboden des Antisemitismus


Um die besonderen Gründe für die besonders krassen Formen des Antisemitismus in Mitteleuropa zu verstehen, muss man aber auf die geschichtliche Sonderstellung dieser Region blicken. Denn was sich in Mitteleuropa entwickelte, war eine nicht-liberale Form des Kapitalismus:

"die Version der Moderne, die zur Schoah führte, entsprang einer Kultur und Gesellschaft, die seit Langem eine Deutung der Moderne verfochten hatte, die eine Alternative zur westlichen, liberal-demokratischen, kapitalistischen Moderne bot und in welcher der Antisemitismus gedeihen konnte, eine ideologische Perversion, die eines holistischen, kollektivistischen und korporatistischen Denkens bedurfte, um plausibel zu erscheinen."

Beller stellt entsprechend fest, es sei vor diesem und dem heutigen Hintergrund "eine bequeme Illusion unserer Zeit, zu glauben, die ‘rationalistische Moderne’ sei nur auf den individualistischen Kapitalismus des westlichen liberal-demokratischen Modells zugeschnitten."

Die liberale und individualistische Tradition der Demokratie war wegen der rückständigen Verhältnisse in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert schwach, die Romantik, der Irrationalismus und der Konservatismus hingegen stark. Daher war das Tor hier für antisemitische Konstrukte weiter offen als in Westeuropa und daher wurde hier das Judentum hier viel mehr als Bedrohung der eigenen romantisch-nationalistischen Vorstellungen empfunden:

Ein kultureller Irrationalist oder konservativer Nationalist im Mitteleuropa des späten 19. Jahrhunderts konnte ohne Weiteres Juden mit dem assoziieren, was er fürchtete und verabscheute, weil die meisten Juden im deutschsprachigen Mitteleuropa – als Produkte der Emanzipationsbewegung – in Wirklichkeit Protagonisten der Ideale der Aufklärung, des Liberalismus und des Fortschritts, mit anderen Worten, der rationalistischen Moderne waren.

Eine Reaktion auf Aufklärungsdenken, kapitalistische Demokratie und Sozialismus


Die späteren Nazis und Faschisten fanden somit in der Identifikation von Judentum und Fortschritt ihre abstrakte Rechtfertigung für die Feindschaft gegen beide. Konkret wurde Juden durch Antisemiten aber sowohl mit der Aufklärungsbewegung, der parlamentarischen Demokratie, dem Sozialismus und den Kapitalisten identifiziert. Ein krudes und in sich widersprüchliches Gemisch aus Gleichsetzungen sollte das Judentum völlig diskreditieren. Eine Integration der Juden in die Nation wurde für die Nazis undenkbar. Das Resultat war der Holocaust bzw. die Schoah.

Der Höhepunkt des Antisemitismus und zugleich der größte Zivilisationsberuch der bisherigen Geschichte, der Versuch durch systematischen Massenmord die europäischen Juden in der Schoah auszulöschen, wurde häufig als völlig unbegreiflich, als völliger Bruch mit der Moderne, als das absolut unerklärliche Böse dargestellt. Aber die Schoah lässt sich erklären und man muss versuchen, sie zu erklären, um Ähnliches zu verhindern.

Nicht jede Form des historischen Antisemitismus hatte die Vernichtung der Juden von vornherein als Ziel. So stellt Beller fest: "Antisemitismus und Schoah stehen zwar offenkundig in einem engen Zusammenhang, sind aber nicht miteinander gleichzusetzen."

Vernichtungswille gegen die europäischen Juden und die sozialistische Arbeiterbewegung


Der Vernichtungswunsch gegenüber den Juden erstarkte in Mitteleuropa erst als Resultat der katastrophalen gesellschaftlichen Entwicklung seit dem ersten Weltkrieg:

"Dass Hitler zum ‘Führer’ Deutschlands werden und seinen Traum der Vernichtung der Juden in die Tat umsetzen konnte, lässt sich nur im Licht des Zusammenbruchs und der Traumatisierung der europäischen Kultur während des Ersten Weltkriegs, des Aufstiegs des bolschewistischen Russland sowie des anschließenden Misslingens des Versuchs erklären, in Europa die ‘Normalität’ wiederherzustellen und die globale Wirtschaft zu stabilisieren."

Das Trauma nach dem Weltkrieg, die Angst vor dem Kommunismus und die globale wirtschaftliche Krise, die Millionen Menschen in die Armut und Unsicherheit trieb, waren ein “wirksames Gemisch, in dem autoritäre Reaktion und die Durchsetzung nationaler Macht häufig mit Antisemitismus einhergingen.”

Der Antisemitismus lieferte eine einfache Erklärung der Krise und eine einfache Lösung, die nichts mit dem befürchteten internationalistischen und die Gleichheit betonenden Sozialismus zu tun hatten:

"Der Antisemitismus im deutschsprachigen Mitteleuropa lässt sich daher zum großen Teil als extremer Versuch deuten, den Wohlstand nach ethnischen Kriterien anstatt nach Klassenzugehörigkeit neu zu verteilen."

Der ‘Nationalsozialismus’ unter Hitler, die übelste Verbindung von Nationalismus, Rassismus und Antikommunismus, “wollte nicht nur die Kommunisten auslöschen, sondern auch die [russischen] Juden, die er als Verbündete des Bolschewismus betrachtete.”

Der Vernichtungswille gegen Juden und die sozialistische Arbeiterbewegung unter dem NS führte sowohl zum zweiten Weltkrieg als auch zum Holocaust. Krieg und Völkermord verbanden sich dabei.

Lehren für heute


Sozialabbau, Krieg und Krise als Nährboden des Antisemitismus


Steven Beller ist als guter liberaler Historiker bemüht, nicht nur zu beschreiben, sondern auch aktiv Lehren aus der Geschichte zu ziehen, um den Antisemitismus bekämpfen zu können.

Beller fragt, wie es vom bisherigen Antisemitismus zur Schoah kommen konnte. Er schreibt zunächst, “es fällt auf, dass auf das Ende der liberalen Vorherrschaft in Mitteleuropa um 1879 nahezu unmittelbar die Entstehung des politischen Antisemitismus folgte” und merkt weiterhin an, dass die Massenverarmung und -verunsicherung nach dem ersten Weltkrieg zum Aufstieg des “Nationalsozialismus” geführt haben.

Weiterhin macht er deutlich, dass es weniger eine aktive Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung war, die die Nazis unterstützt hätte, sondern eher die Apathie, d.h. die stillschweigende Akzeptanz der Ungerechtigkeit durch die große Masse. Mangelnder Widerstand war der letzte Grund für die Möglichkeit der Verbrechen der Nazis.

Es sollte also heute heißen, gegen Sozalabbau, Krieg und die katastrophalen Wirkungen ökonomischer Krisen vorzugehen und gemeinsam mit allen fortschrittlichen Kräften gegen Rassismus und Antisemitismus wirksam Widerstand zu leisten.

Die Rolle der Sozialdemokraten und Kommunisten im Widerstand


Was Beller leider zu sehr ausblendet ist z.B. die Rolle der Sozialdemokraten und Kommunisten im Widerstand. Er erwähnt nicht, dass beide Parteien zusammen bis in die NS-Zeit die Mehrheit der Arbeiter auf ihrer Seite hatten und einen wirksamen gemeinsamen Widerstand nicht erreichten, weil sie sich teilweise noch mehr bekämpften als die Nazis.

Andere Gegner der Nazis wie der russische Kommunist Trotzki, selbst jüdischer Abstammung, forderten die Einheitsfront der beiden Arbeiterparteien gegen die Nazis. Aber es war nicht Trotzki, der die deutschen Kommunisten anführte, sondern bereits die russische Bürokratie unter Stalin. Die KPD war bereits stalinistisch geworden.

Und die SPD war auch nicht mehr die revolutionäre Sozialdemokratie, die sie noch vor dem ersten Weltkrieg gewesen war. Sie war bereits eine Partei geworden, die den Kriegskrediten zugestimmt hatte und teils Arbeiteraufstände niederschlagen ließ.

Heute sollte man sich wohl wieder für einen breiten und entschlossenen Widerstand der Kräfte in der Tradition von Sozialismus und Demokratie einsetzen, wie es z.B. bei den Anti-Nazi-Blockaden in Dresden in den letzten Jahren immer erfolgreicher geschehen ist, sodass sogar SPD und Grüne sogar mitmachten.

Mit dem Bankrott der verächtlichen Sozialdemokratie des Westens und des erniedrigenden und knechtenden Kommunismus des Ostblocks erschien gerade nach dem Holocaust der Zionismus als die einzige gangbare Lösung für die Juden. 

Zionismus und Israel


Mit der Gründung des Staates Israel wurde das Ziel des Zionismus, einen jüdischen Staat zu errichten, erreicht. Damit ist aber der Rassismus und Antisemitismus auf der Welt trotz aller offiziellen Zurückdrängung beider nicht verschwunden. Diskriminierungen existieren überall auf der Welt weiter.

Auch wird selbst Israel wegen seines Nationalismus und seiner diskriminierenden Politik kritisiert, wo es eine ethnisch und religiös begründete Ungleichbehandlung Bevölkerung auf rechtlicher, religiöser, politischer und ökonomischer Ebene gibt. Israel ist ein Teil der staatlichen Unterdrückungssysteme geworden. Als Reaktion auf die israelische und zionistische Politik ist der sozialistische Antizionismus entstanden, dem sich auch Juden anschlossen.

Der Unterschied von Antizionismus und Antisemitismus


Allerdings, so schreibt Beller völlig zu Recht, ist “die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus aber zutiefst verfehlt.” Weiterhin schreibt er: “Es ist zudem theoretisch undifferenziert und würdigt die Erinnerung an jene herab, die die grauenhaften Folgen des wahren Antisemitismus erlitten haben.” Beller verweist darauf, dass es einerseits Antisemiten gibt, die den Zionismus unterstützen, dass es andererseits humanistische Gegner antisemitischer Diskriminierung gibt, die den Zionismus als verfehlte Antwort auf die “Judenfrage” und den Antisemitismus betrachten.

Viele entschiedene Verteidiger der Rechte der Juden in der politischen Linken, ob nun liberal oder sozialistisch, taten dies auf der Grundlage der jüdischen Rechte als vollgültige, gleichberechtigte Bürger der staatsbürgerlichen Nation oder einer universalen Menschheit und lehnten den Zionismus ab, weil er aus ihrer Sicht eine unnötige, falsche Barriere für die Integration der Juden darstellte. Auch zahlreiche jüdische Führer kritisierten den Zionismus vor der Schoah aus diesen sowie aus religiösen Gründen

Es gibt durchaus auch Rassismus und Antisemitismus, die sich unter dem Deckmantel der Israelkritik verstecken. Aber diese werden zusammen mit solch einem rechten “Antizionismus” zumeist leicht durch die Verachtung der Demokratie und sonstiger humanistischer Werte als solche entlarvt.

Als Demokrat und Sozialist kann man auch Israel kritisieren, solange es eine Kritik ist, die nicht ahistorisch und die nicht gegen Juden “an sich” gerichtet ist, sondern gegen rückschrittliche Tätigkeiten, etwa die diskriminierende Politik des israelischen Staates und des Zionismus. Auch ist Kritik an jüdischen Politikern nicht per se antisemitisch, sondern kann durchaus berechtigt sein. 

Das Ziel: eine Welt, in der der Antisemitismus zurückgedrängt ist


Die Lehren aus dem Antisemitismus sollten es schließlich sein, sich in Politik und Ideen stets für Menschenrechte und gesellschaftlichen Fortschritt für alle Menschen unabhängig ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Konfession oder Kultur einzusetzen. Ohne diesen festen Standpunkt verfällt man leicht in Zynismus oder Apathie. Apathie ist aber die stillschweigende Schwester der Ungerechtigkeit.

Der Kommunist Marx hatte richtig aus seiner Kritik an der Tatenlosigkeit gegen Ungerechtigkeiten gefordert, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."

Am Ende der Broschüre plädiert Beller für eine Welt, in der Antisemitismus zurückgedrängt ist:

"Antisemitismus in Gestalt einer politischen Bewegung, die darauf zielt, Juden zu verfolgen, zu diskriminieren, zu entfernen oder sogar zu vernichten, stellt in unserer globalisierten Welt keine bedeutende Bedrohung mehr dar. Antisemitismus in Gestalt des Grolls über jüdischen Erfolg und jüdische Macht, ob eingebildet oder tatsächlich, sowie in Gestalt gesellschaftlicher und kultureller Abneigung oder Vorurteile, wird es so lange geben, wie es Juden gibt, wie im Falle jeder anderen identifizierbaren ethnischen oder religiösen Gruppe. Die Frage lautet, wie sich diese ‘ewige’ Form des Antisemitismus auf ein so geringfügiges und ‘harmloses’ Maß wie möglich begrenzen lässt. Insofern ist die Antwort auf den Antisemitismus letztlich nicht ein jüdischer Staat, sondern die Schaffung eines wahrhaft globalen Systems des liberalen Pluralismus."

Der Artikel ist zuerst in abgewandelter Form bei freiheitsliebe.de erschienen.

Wer sich mit dem Problem des Antisemitismus auseinandersetzen will, kann das Büchlein online bestellen.

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