Alexитhyмиan
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Donnerstag, 14. Dezember 2017
Mobilfunk-Betrug: „Mobilcom-Debitel“ fällt besonders negativ auf
Die Verbraucherzentrale Hamburg warnt vor Kostenfallen und Kundenbetrug durch Mobilfunkanbieter und sogenannte „Drittanbieter“.
Seit vielen Jahren ist das Problem bekannt: Kunden von Mobilfunkanbietern bemerken plötzlich viel zu hohe Rechnungen, die sie sich nicht erklären können. Die Mobilfunkanbieter berechnen oft nicht nur die Kosten, die sie selbst mit dem Kunden vereinbart haben, sondern auch Forderungen sogenannter „Drittanbieter“.
Drittanbieter sind in der Mobilfunk-Branche Unternehmen, die dem Kunden mit Hilfe des Mobilfunkanbieters diverse Angebote und Dienstleistungen anbieten dürfen. Den Kunden können durch Drittanbieter ungewollte Kosten für ungewollte Angebote entstehen. Dabei handelt es sich etwa um Abonnements von Info- und Unterhaltungsdiensten oder kostenpflichtige Serviceleistungen, Hotlines und Ansagedienste.
Die Forderungen der Drittanbieter an den Kunden werden üblicherweise nicht seitens des Drittanbieters selbst gestellt, sondern auf der monatlichen Rechnung des Mobilfunkanbieters mit aufgelistet. Daraus ergibt sich dann eine plötzlich erhöhte monatliche Rechnung für den Kunden, wobei nicht immer deutlich werden muss, dass ein Teil der Forderung von Drittanbietern kommt.
Wollen sich die Kunden beim Mobilfunkanbieter über die höhere Rechnung informieren, verweisen diese üblicherweise auf die Auskunft durch die Drittanbieter. Die Drittanbieter können wiederum eine undurchsichtige Dienstleistung in Rechnung stellen, die kaum Auskunft liefert. Eine Unterschrift oder mündliche Vereinbarung muss es nicht gegeben haben. Außerdem können die Anbieter im Prinzip Rechnungen in beliebiger Höhe ausstellen.
Wenn sich Kunden weigern, die Drittanbieter-Rechnung zu bezahlen, schaltet sich der Mobilfunkanbieter ein, aber eher nicht im Sinne der Kunden. Die Kunden werden vielmehr genötigt, die gesamte Forderung aller Anbieter zu begleichen.
Berüchtigt: Mobilcom-Debitel
Einige Unternehmen wie z.B. Mobilcom-Debitel sind berüchtigt geworden. Die Verbraucherzentrale Hamburg schreibt:
„Mobilcom-Debitel fällt in Sachen Drittanbieter besonders negativ auf: Rund ein Viertel der Verbraucherbeschwerden, die in der ersten Hälfte des Jahres 2016 bei den Verbraucherzentralen bundesweit eingingen, betrafen diesen Mobilfunkprovider.“
Tom Janneck, Teamleiter des Marktwächters „Digitale Welt“ in der Verbraucherzentrale Schleswig-Holstein: „Der Anteil an Beschwerden zu mobilcom-debitel ist dabei geradezu alarmierend hoch. Werden die vier großen Mobilfunkprovider betrachtet, entfielen im vergangenen Mai und Juni allein auf mobilcom-debitel über 40 Prozent der Beschwerden“.
Während andere Anbieter noch einen Funken an Anstand bewahren, legt Debitel sich besonders gerne mit den eigenen Kunden an. Der Konzern lockt seine Kunden regelmäßig in undurchsichtige Kostenfallen. Weigert man sich zu zahlen, wird das Unternehmen schnell aggressiv: „Mobilcom-Debitel setzt seinen Kunden die Pistole auf die Brust: Entweder sie zahlen den Rechnungsbetrag oder der Telefonanschluss wird gesperrt“, so die Verbraucherzentrale Hamburg.
Weigern sie sich weiterhin, kommen nicht nur Mahngebühren auf sie zu, sondern auch Drohungen mit Inkasso-Diensten oder mit einem Gerichtsprozess. Debitel schüchtert so die eigene Kundschaft ein.
#abzocke #Debitel #Handy #Handyvertrag #Mobilcom #Rechnungen #Verbraucherschutz
https://perspektive-online.net/2017/12/mobilfunk-betrug-mobilcom-debitel-faellt-besonders-negativ-auf/
Debitel ist ein Drecksladen. Isso. Kündigt und geht da nie mehr hin, es sei denn, ihr macht dem Gesindel fett Stress! Bildquelle: https://www.rathauscenter-ludwigshafen.de/ |
Seit vielen Jahren ist das Problem bekannt: Kunden von Mobilfunkanbietern bemerken plötzlich viel zu hohe Rechnungen, die sie sich nicht erklären können. Die Mobilfunkanbieter berechnen oft nicht nur die Kosten, die sie selbst mit dem Kunden vereinbart haben, sondern auch Forderungen sogenannter „Drittanbieter“.
Drittanbieter sind in der Mobilfunk-Branche Unternehmen, die dem Kunden mit Hilfe des Mobilfunkanbieters diverse Angebote und Dienstleistungen anbieten dürfen. Den Kunden können durch Drittanbieter ungewollte Kosten für ungewollte Angebote entstehen. Dabei handelt es sich etwa um Abonnements von Info- und Unterhaltungsdiensten oder kostenpflichtige Serviceleistungen, Hotlines und Ansagedienste.
Die Forderungen der Drittanbieter an den Kunden werden üblicherweise nicht seitens des Drittanbieters selbst gestellt, sondern auf der monatlichen Rechnung des Mobilfunkanbieters mit aufgelistet. Daraus ergibt sich dann eine plötzlich erhöhte monatliche Rechnung für den Kunden, wobei nicht immer deutlich werden muss, dass ein Teil der Forderung von Drittanbietern kommt.
Wollen sich die Kunden beim Mobilfunkanbieter über die höhere Rechnung informieren, verweisen diese üblicherweise auf die Auskunft durch die Drittanbieter. Die Drittanbieter können wiederum eine undurchsichtige Dienstleistung in Rechnung stellen, die kaum Auskunft liefert. Eine Unterschrift oder mündliche Vereinbarung muss es nicht gegeben haben. Außerdem können die Anbieter im Prinzip Rechnungen in beliebiger Höhe ausstellen.
Wenn sich Kunden weigern, die Drittanbieter-Rechnung zu bezahlen, schaltet sich der Mobilfunkanbieter ein, aber eher nicht im Sinne der Kunden. Die Kunden werden vielmehr genötigt, die gesamte Forderung aller Anbieter zu begleichen.
Berüchtigt: Mobilcom-Debitel
Einige Unternehmen wie z.B. Mobilcom-Debitel sind berüchtigt geworden. Die Verbraucherzentrale Hamburg schreibt:
„Mobilcom-Debitel fällt in Sachen Drittanbieter besonders negativ auf: Rund ein Viertel der Verbraucherbeschwerden, die in der ersten Hälfte des Jahres 2016 bei den Verbraucherzentralen bundesweit eingingen, betrafen diesen Mobilfunkprovider.“
Tom Janneck, Teamleiter des Marktwächters „Digitale Welt“ in der Verbraucherzentrale Schleswig-Holstein: „Der Anteil an Beschwerden zu mobilcom-debitel ist dabei geradezu alarmierend hoch. Werden die vier großen Mobilfunkprovider betrachtet, entfielen im vergangenen Mai und Juni allein auf mobilcom-debitel über 40 Prozent der Beschwerden“.
Während andere Anbieter noch einen Funken an Anstand bewahren, legt Debitel sich besonders gerne mit den eigenen Kunden an. Der Konzern lockt seine Kunden regelmäßig in undurchsichtige Kostenfallen. Weigert man sich zu zahlen, wird das Unternehmen schnell aggressiv: „Mobilcom-Debitel setzt seinen Kunden die Pistole auf die Brust: Entweder sie zahlen den Rechnungsbetrag oder der Telefonanschluss wird gesperrt“, so die Verbraucherzentrale Hamburg.
Weigern sie sich weiterhin, kommen nicht nur Mahngebühren auf sie zu, sondern auch Drohungen mit Inkasso-Diensten oder mit einem Gerichtsprozess. Debitel schüchtert so die eigene Kundschaft ein.
#abzocke #Debitel #Handy #Handyvertrag #Mobilcom #Rechnungen #Verbraucherschutz
https://perspektive-online.net/2017/12/mobilfunk-betrug-mobilcom-debitel-faellt-besonders-negativ-auf/
Montag, 20. März 2017
Sonntag, 20. November 2016
Boris Kagarlitzki: Fünf Fragen zu den Parlamentswahlen in Russland
Mit einiger Verspätung kommt hier die Übersetzung eines Textes des russischen Soziologen und Historikers Boris Kagarlitzki vom 21. September 2016 (Четыре вопроса о выборах), in dem er die Parlamentswahlen in Russland aus linkssozialistischer Sicht beleuchtete.*
Putin gibt einen Wahlzettel ab © kremlin.ru |
Fünf*Fragen zu den Parlamentswahlen in Russland
von Boris KagarlitzkiDie Wahlen zur Staatsduma des Jahres 2016 versprachen, die offensten und kompetitivsten der letzten Jahre zu werden und ließen hoffen, dass nun alles ganz anders sein würde als 2011. Die Wahlen fanden statt, aber das Resultat war fast so unerwartet wie merkwürdig. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Unzufriedenheit verbesserte die Regierungspartei überraschenderweise dramatisch ihre Stellung. Die regierungsnahen politischen Kommentatoren stellten freudig einen Vertrauenszuwachs der Bevölkerung gegenüber der Regierung fest, wobei sie zugleich eine niedrige Wahlbeteiligung zugaben. Aber das sei kein Anlass zur Trauer, wie der Ökonom Jossif Diskin in der Wahlnacht anmerkte, da die Leute bei uns in Russland die Regierung und den Präsidenten so liebten und ihm derart vertrauten, dass sie den Gang zur Wahl nicht einmal für nötig erachteten.
Dessen ungeachtet findet man, wenn man die Wahlergebnisse genauer betrachtet, eine ganz einfache und in der Tat nicht gerade angenehme Erklärung.
Erste Frage: Niedrige oder hohe Wahlbeteiligung?
Der offiziellen Statistik zufolge war die Wahlbeteiligung an den Dumawahlen von 2016 sehr niedrig. Die Grundlage für diese Einschätzung ist ein Vergleich der amtlichen Ergebnisse dieser Abstimmung mit der des Jahres 2011. Dieses Jahr betrug die Wahlbeteiligung 47,76 Prozent, im Jahr 2011 gingen hingegen 60,1 Protzen der Berechtigten wählen. Augenscheinlich ist die Bürgerbeteiligung zurückgegangen, wäre da nicht dieser merkwürdige Umstand gewesen: Die Zahlen der vorherigen Wahlen wurden enorm frisiert. Darüber redeten und schrieben nicht nur Regierungskritiker. Selbst Beamte gestanden dies ein, womit sie zugleich ihre Rechenfehler erklärten (die berüchtigten “146 Prozent” der aufsummierten Stimmanteile aller Parteien im Gebiet Rostow, die man Wladimir Tschurow als Vorsitzendem der Wahlkommission zuschrieb).
Eben dieses Anwachsen der Anzahl wählender Bürger im gesamten Verlauf der 2000er Jahre war der Kern der Wahlfälschungen in Russland.
Letztere frisierten die Zahlen von “Einiges Russland”, welches alles in allem gar nicht schlecht abschnitt, nicht im selben Ausmaß wie die Wahlbeteiligung, konnten doch aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung Zweifel über die Legitimität der Wahlen aufkommen, deren Aussagekraft aufgrund des katstrophalen Wahlboykotts seitens der Bevölkerung geschwunden ist – und dementsprechend auch Zweifel an den Ergebnissen von “Einiges Russland”.
Nach 2011 änderte sich die Situation. Nachdem die damalige Wahlwälschung in großem Stile, die einen Skandal und Wählerproteste hervorgerufen hatte, im Grunde genommen schon Vergangenheit war, fingen die Regierenden an, auf eine Aufteilung der Mandate zu achten, sodass sie nun vorsichtiger vonstatten gehen sollte. Das Resultat war, dass vor dem Hintergrund scheinbar wachsender Bürgerbeteiligung die Zahlen zur Wahlbeteiligung dramatisch absanken.
Die Regierenden befürchteten, dass eine erhöhte Wählerbeteiligung die Ergebnisse der Regierungspartei verschlechtern würde. Die Aufrufe zur Wahl zu gehen, beschränkten sich in vielen Fällen auf ein symbolisches Mindestmaß. Und sogar der tschetschenische Führer Ramsan Kadyrow, der durchgehend eine hundertprozentige Wahlbeteiligung der Bevölkerung organisierte (sofern man der offiziellen Version Glauben schenkt), gab ungewohnte Töne von sich: Auf die Frage von Journalisten, ob die Beteiligung knapp 100 Prozent erreichen würde, erinnerte Kadyrow daran, dass eine gewisse Anzahl von Wählern gegenwärtig den Haddsch begehe und in Mekka oder Medina sei, wodurch man von solch einem Prozentsatz nicht reden könne.
Für eine Einschätzung der wirklichen Wahlbeteiligung muss man die gegenwärtige Stimmabgabe mit der Bürgermeisterwahl Moskaus im Jahr 2013 vergleichen. Die Beteiligung von Politikern und Wählern war damals sehr hoch, die Wahlen waren wirklich kompetitiv, da sogar Alexei Nalalwny als Kandidat zugelassen wurde. Die Hauptstadt war nach den Protesten von 2011 und 2012 noch nicht ganz abgekühlt, weswegen sowohl die Opposition als auch die Regierung sich bemühten, ihre Anhänger maximal zu mobilisieren. Das Ergebnis: Die Beteiligung betrug 26,46 Prozent. Und nun verkündet man, dass in der Hauptstadt 35 Prozent der Berechtigten zur Wahl gingen. Mit anderen Worten: Ein Drittel mehr sei zur Wahl gegangen.
Wenn man diese Resultate mit der Information aus der Provinz vergleicht, kann man schlussfolgern, dass die Hauptstadt die Gebiete in Sachen politischer Beteiligung überholt habe.
Es ist unwahrscheinlich, dass die wirkliche Wählerbeteiligung in den Wahlen von 2011 landesweit höher war als in Moskau 2013. Aber selbst wenn wir annehmen, dass die wirkliche Beteiligung 30 Prozent erreicht habe, so widerspricht dieses Resultat diametral der offiziellen Einschätzung. Sofern sie dieses Mal genauer und gewissenhafter gerechnet haben, ergibt sich, dass die Beteiligung sowohl in der Hauptstadt als auch in den Regionen nicht sehr gering war, sondern im Gegenteil eher hoch.
Im berühmten Vortrag von S. Sulakschin wird das Anwachsen der Beteiligung in den Wahlen von 2011 weit bescheidener eingeschätzt – nicht um ein Mehrfaches, sondern “insgesamt” um 10 bis 11 Prozent. Daraus folgt, dass sie schätzungsweise 50 Prozent erreichten. Aber auch in diesem Fall ergibt das, dass die Beteiligung von 2011 ungefähr die gleiche war wie im Jahr 2016. Das würde dann bedeuten, dass es kein dramatisches Absinken der Beteiligung gab.
Mehrere Analysten nehmen tatsächlich an, dass die Beteiligung dieses Jahr höher war, wobei sie ungefähr 36,5 erreiche. Der Autor dieser Berechnung schließt das “anomale Wahlverhalten” aus, bei dem in den letzten eineinhalb Stunden die Beteiligung plötzlich auf 90 Prozent der Wähler hochsprang. Hier kam es wohl zu einer dreisten Zahlenmanipulation. Aber man muss anmerken, dass es für solche Anomalien schon früher Raum gab. Um es schon vorab zu sagen: Wenn man dieser Berechnung Glauben schenkt, ergibt sich, dass zumindest ein Viertel der Wähler seine Stimme nicht abgegeben hat. Folglich stellt ungefähr ein Drittel der “Stimmen” eine Auffüllung oder Zahlenmanipulation dar. Das führt uns zum nächsten Problem: Kam es im Verlauf der Wahlen zu einer sinnvollen Fälschung?
Zweite Frage: Wie wurden die Stimmen verteilt?
Meinungsumfragen vor den Wahlen zeigten eine dramatische Verschlechterung der Werte von “Einiges Russland”. Die offiziellen Wahlergebnisse stellten sich dann genau umgekehrt dar. Ein Fehler der Soziologie? Möglicherweise. Dann aber ein gewaltiger. Wesentlich ist, dass der Fehler dann ausgerechnet von den offiziellen soziologischen Diensten durchgeführt wurde, die immer dazu geneigt haben, die Werte für “Einiges Russland” höher einzuschätzen.
Wir brauchen uns die Zahlen des Lewada-Zentrums nicht anzuschauen, welches “Einiges Russland” auf 31 Prozent geschätzt und das Stempel der “ausländischen Agentur” aufgedrückt bekommen hat. Nehmen wir die Zahlen des Allrussischen Zentrums der Erforschung der öffentlichen Meinung, die unmittelbar vor der Abgabe der Stimmen veröffentlicht wurden. Seiner Berechnung zufolge beabsichtigten 39,3 Prozent der Befragten, für “Einiges Russland” zu stimmen. Zum Vergleich: Ein anderer führender soziologischer Dienst, der Fonds “Öffentliche Meinung”, gab “Einiges Russland” 41 Prozent der Stimmen. Dabei ist alles korrekt. Die Zahlen sind im Rahmen statistischer Abweichung. Weiterhin verteilten die Umfragen die Stimmen völlig eindeutig: Auf Platz zwei die Liberal-demokratische Partei Russlands (10-11 Prozent), auf Platz drei die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (8,7-9 Prozent). Etwas schlechter stellte sich die Sache für “Gerechtes Russland” dar. Auch hier ist die Differenz im Rahmen der statistischen Abweichung, wenn auch groß. Beim Fonds “Öffentliche Meinung” erhielt sie 4 Prozent, beim Allrussischen Meinungsforschungszentrum waren es 5,3 Prozent (entsprechend dem ersten Fall wäre sie unter die 5 Prozent-Hürde gefallen, dem zweiten Fall entsprechend über diese gekommen).
Die übrigen Parteien schnitte mit großem Abstand weit schlechter ab und waren praktisch chancenlos.
Wirklich alle soziologischen Dienste machten zwei sehr große Gruppen von Respondenten aus, die zahlenmäßig ungefähr gleich stark waren: Diejenigen, die unentschlossen waren und diejenigen, die nicht beabsichtigten zu wählen.
Die Unentschlossenen ändern das Bild im Grunde nicht: Ihre Stimmen “verschmieren” entlang des politischen Spektrums ungefähr proportional zu den Stimmen der Entschiedenen. Es gibt tatsächlich Ausnahmen, aber darüber später.
Was diejenigen angeht, die nicht wählen wollten, so hat ihre Gegenwart in Umfragen das Bild ein wenig korrigiert. Wenn man die Ergebnisse nochmals berechnet und diese Gruppe abzieht, sollten die Prozentsätze aller Parteien ansteigen. In dem Maße, in dem die Zahlen des Allrussischen Meinungsforschungszentrums und des Fonds “Öffentliche Meinung” in dieser Hinsicht mehr oder weniger zusammenfallen, kann man einen Mittelwert angeben. “Einiges Russland” hätte, wenn man den Umfragen glaubt, ungefähr 46 bis 47 Prozent der Stimmen bekommen müssen (annähernd so viel wie es nach Verkündung der ersten Hochrechnungen am Abend des 18. September erhalten sollte). “Gerechtes Russland” hätte ungefährt 6 Prozent bekommen (es erhielt 6,2 Prozent). LDPR und KPRF erzielten ganz andere Werte. Die Umfragen prognostizierten der LDPR den zweiten Platz und der KPRF den dritten. Die Kluft hätte größer sein müssen. Nach der Wahl verkündete man, dass die beiden Parteien die Plätze getauscht haben, wobei sie ungefähr die gleiche Stimmzahl einsammelten.
Im Vergleich zu den Prognosen der Soziologen wuchs das offizielle Ergebnis von “Einiges Russland” dramatisch an, sodass es am Morgen des 19. September 54,17 Prozent erzielte. Woher kamen diese Stimmen?
Dritte Frage: Haben sich die Soziologen geirrt?
Die Soziologie kann sich irren. Aber ihre Fehler haben in der Regel gewisse Ursachen, die man in zwei Gruppen einteilen kann. Ein Fehlertyp kommt daher, dass im letzten Moment vor den Wahlen irgendwelche Ereignisse vonstatten gehen, die die Stimmung in der Gesellschaft dramatisch verändern. In diesem Fall “verschmieren” die Stimmen der Unentschiedenen nicht auf der Skala, sondern konzentrieren sich schroff, sodass sie die Position einer Partei oder eines Kandidaten stärken.
In diesem Fall kam es zu keinerlei Ereignissen kurz vor den Wahlen, sofern man die Serie von Korruptionsskandalen und die Videoreportage über die Luxus-Villa ignoriert, in der der Listenführer von “Einiges Russland”, Dmitri Medwedew, entspannt. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Nachrichten die gesellschaftliche Tendenz im Sinne der Regierungspartei beeinflussen konnten.
Eine andere mögliche Variante ist: Die Stichproben, auf denen die Umfragen basierten, veralten. Dergleichen passiert, wenn in der Gesellschaft ernsthafte Verschiebungen vonstatten gehen, welche die soziale Struktur, die Einkünfte, das Verhalten der Menschen ändern. Solche Verschiebungen geschahen bei uns im Grunde in der Periode zwischen 2012 und 2016. Die ökonomische Krise führte zum Anwachsen der Arbeitslosen- und Armenzahl und zur drastischen Verschlechterung der Lage der Mittelklasse. Konnten diese Verschiebungen die Situation zum Nutzen von “Einiges Russland” verändern?
Viel logischer ist die Annahme, dass man die Stimmen für “Einiges Russland” einfach frisierte. Man kann begründet annehmen, dass man der Regierungspartei ungefähr 5 bis 7 Prozentpunkte zusätzlich zuschrieb.
Allein, es ist unmöglich, der einen Partei Stimmen zuzuschreiben, ohne sie anderen abzuziehen. Warum protestiert da niemand?
Vierte Frage: Warum sind alle zufrieden?
Buchstäblich am Vorabend der Wahl veröffentlichte die KPRF Aufrufe zu Protestmeetings, auf denen – so drohte sie – die Fälschung aufgedeckt werden sollte. Viele Kandidaten sprachen auf Wählerversammlungen von möglichem Betrug. Die Wahlen gingen vorüber und es folgte völlige Stille. Ist etwa alles gut verlaufen?
Die Analyse der Umfragen lässt den Schluss zu, dass der Hauptlieferant der Stimmen für “Einiges Russland” die Partei von Wladimir Schirinowski war. Die Umverteilung geschah auf ihre Kosten. So erklärt sich auch der unerwartete Abstieg der LDPR vom zweiten auf den dritten Platz, trotz dessen, dass alle Umfragen, unabhängig von den Abständen zwischen ihnen, eine andere Tendenz zeigten.
Dessen ungeachtet verkündete Schirinowski in der Wahlnacht sofort, ohne die letzte Auszählung abzuwarten, dass er die Wahlergebnisse akzeptiere. Der Fernsehsender “Rossia-24” zeigte fast den ganzen Tag die Zentrale der LDPR, in dem der Parteiführer eine lange und – gegen seine Gewohnheit – schlaffe Rede hielt. Wir können nicht wissen, was hinter den Kulissen geschah, aber der Schluss liegt nahe, dass man dem Führer oder den Führern der LDPR die bittere Pille versüßt hat. Der Verlust der Sitze in der Duma wurde höchstwahrscheinlich durch irgendetwas kompensiert. Da der Parteiführer schon lange nicht mehr jung ist und den Eindruck eines sehr überdrüssig gewordenen Menschen macht, wird sich ihm die Frage gestellt haben, womit und wie er in die Rente gehen wird. Und man darf hoffen, dass diese Frage jetzt endlich entschieden wurde.
Die Partei Gennadi Sjuganows, die ihres Zeichens das größte Wachstum an Beobachtern im ganzen Land verzeichnen konnte, kann damit zufrieden sein, dass sie den zweiten Platz belegt. Um genau zu sein, sei angemerkt, dass dieser zweite Platz einem vernachlässigbaren Anstieg der erhaltenen Stimmen entstammt. Mit anderen Worten werden die Parteien ungefähr dieselbe Menge an Mandaten erhalten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass bei der letzten nächtlichen Auszählung der KPRF sogar noch einige Stimmen im Vergleich zum eigentlichen Ergebnis geschenkt wurden. In der gegebenen Situation gibt es für Sjuganow und sein Umfeld keinerlei Grund zum Protest. Was “Gerechtes Russland” angeht, so müssen ihre Leute äußerst glücklich sein, dass sie in der Duma verblieben ist.
Die Regierung hat die absolute und sogar die Verfassungsmehrheit, die sie seit 2011 nicht mehr hatte. Die übrigen Parteien erhielten Abgeordnetensitze und wahrscheinlich einige andere Vorzüge, von denen sie der Öffentlichkeit nichts mitteilen werden.
Alle sind zufrieden.
Und hier stellt sich die nächste Frage: Wozu braucht der Kreml all das?
Fünfte Frage: Wozu?
Die Regierungspartei ging ihren Aufgaben in der Duma auch ohne die Zweidrittelmehrheit prächtig nach, die sie in der vorherigen Parlamentswahl verloren hatte. Die Vertreter der herrschenden Kreise gingen berechtigterweise davon aus, dass die oppositionellen Parteien völlig loyal und ungefährlich sein würden, sodass sie uns neue Wahlen versprechen konnten – wie nie zuvor kompetitive, ehrliche und offene Wahlen. Und das Auftauchen einiger echter Oppositioneller würde dem Parlament in den Augen der Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft nur noch mehr Legitimation verleihen, dabei das Machtmonopol der Loyalisten aber keineswegs gefährden.
Zudem überzeugte der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Wjatscheslaw Wolodin, die Öffentlichkeit nachhaltig davon, dass die Duma aufgrund des Auftauchens einiger Direktmandatsträger pluraler werden und sich das Zentrum des politischen Lebens dorthin verlagern würde. Aber nein, alles passierte genau in umgekehrter Richtung: Die Duma ist gänzlich zum Monolithen geworden und Wolodin selbst wird, wie es aussieht, seinen Posten loswerden und versetzt… in eben diese Duma.
Wie könnte man hier nicht an die Geschichte des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak erinnert werden, der, konfrontiert mit einer Wirtschaftskrise, für den Fall der Fälle das ohnehin schon loyale Parlament “säuberte” und Wahlen durchführen ließ, die den unseren von heute überraschend ähneln. Dies verschloss von selbst alle Perspektiven für eine Diskussion über schrittweise und kontrollierte Reformen, was den Nährboden für die spätere Entwicklung des Landes hin zur Katastrophe geschaffen hatte.
Übrigens stehen in Russland Reformen an, nur nicht ganz solche, die sich die Bevölkerung erhofft.
Der Ausgang der Wahlen ist weniger der Ausdruck des Willens der Bürger als vielmehr das Resultat eines Kampfes in den Kreml-Kreisen, der hinter den Kulissen ausgefochten wird. Insofern ist das Anwachsen der Abgeordneten von “Einiges Russland” gemäß der Listenaufstellung kein Zufall. Soweit nun Direktmandatsträger in die Duma einziehen, stellt sich die Frage der Fraktionsdisziplin. Direktmandatsträger ihrer Vollmachten zu berauben ist sehr schwierig, Listenabgeordnete hingegen kann man jederzeit ersetzen, falls es einen verbindlichen Beschluss seitens der Partei oder Fraktion gibt. Wenn es in einer Fraktion eine Mehrheit von Listenabgeordneten gibt, ist eine Kontrolle sichergestellt.
Wozu? Was hat die Regierung vor, dass ihr die Kontrolle über ihre eigenen Abgeordneten so wichtig erscheint?
Wahrscheinlich kann man von einem neuen Paket antisozialer Gesetze ausgehen, die klar und deutlich im Widerspruch stehen zur Rhetorik von “Einiges Russland” und des Kremls vor den Wahlen. Unter solchen Umständen könnten einzelne Abgeordnete einen plötzlichen Rückzieher machen. Aber wenn es sich bloß auf ein oder zwei Menschen beschränkt, die sich bei der Abstimmung enthalten oder im entscheidenden Moment “krank” werden, ändert das nichts an der Situation. Entscheidend ist, dass kein Keil in die Fraktion oder Partei getrieben wird.
Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass es für die herrschenden Kreise noch schwerwiegendere Gründe für die Formierung eines monolithischen Parlaments gibt. Ein Indiz kann man unter den Dokumenten des Finanzministeriums finden, das unerwarteterweise Finanzmittel für Präsidentschaftswahl… des Jahres 2017 reserviert hat.
Unter anderem hatten wir auf “Rabkor” darüber im Zusammenhang mit den Dumawahlen bereits geschrieben und vorhergesagt, dass damit die vorzeitige Durchführung der Präsidentschaftswahlen vorbereitet wird.
Wozu um ein Jahr vorverlegte Wahlen?
Auf ökonomischer Ebene ist dies mit der Erschöpfung finanzieller Ressourcen verbunden. Die Mittel des Stabilisierungspakets werden im nächsten Jahr erschöpft sein, wie man uns bereits gewarnt hatte, und damit auch die Mittel der Regierung, brodelnde Konflikte – soziale wie auch solche innerhalb der Elite – zu dämpfen. Die frühzeitigen Wahlen sind zudem von politischer Bedeutung. Laut Verfassung darf sich ein Präsident, der zurücktreten musste, nicht nochmals aufstellen lassen. Mit anderen Worten müsste Putin unter solchen Umständen in Rente gehen oder ein anderes, weniger bedeutendes Amt übernehmen. Es ist nur folgerichtig vorzuschlagen, die entsprechende Stelle im Grundgesetz zu ändern. Dafür benötigt man aber eine Verfassungsmehrheit.
Was aber, wenn diese Mehrheit nicht zustande kommen sollte?
*Anmerkung des Übersetzers: Da der Text relativ eilige verfasst wurde, schlich sich in den Titel ein kleiner Fehler ein. Im Original ist von "vier Fragen" die Rede, obwohl der Autor fünf Fragen herausgestellt hat.
Freitag, 30. September 2016
Des Pudels Kern – Marxens schillernde Begriffe von Arbeit und Spiel
Dass Marx den Menschen über den Arbeitsbegriff definierte, ist weitgehend bekannt. Dass dessen Gesellschaftskritik Friedrich Schillers Idee des "Spiels" zum Kern hat, ist weit weniger bekannt.
Denkt man an die marxistische Utopie, kommen einem stets zwei völlig gegensätzliche Bilder in den Sinn: Einerseits die barfüßigen, Mate trinkenden Studis mit Rastalocken und Guevara-Shirts, die vor der Unibibliothek chillen und "echte" Arbeit gar nicht kennen; andererseits die Arbeitssklaven in den Gulags und Fabriken des "totalitären" Ostblocks, denen keinerlei Muße gewährt wird – beides empörende Klischees. Die einen beneidet man für ihren Müßiggang, die anderen bemitleidet man wegen ihrer Plackerei. Beide verachtet man für die fehlende Abwechslung von Arbeit und Freizeit. Als normal und ideal gilt noch immer die "40-Stunden-Woche", d.h. der Genuss der Freizeit nur abseits von 40 Stunden Lohnarbeit in der Woche. Muße und Arbeit werden dabei als völlige Gegensätze verstanden, deren Vermischung entweder in der Arbeitswut eines Workaholic oder im Schlendrian enden muss. Wer sich hingegen ernsthaft mit Marx beschäftigt, wird ein anderes Ideal vor Augen haben: eine Assoziation freier Produzenten, die sich gegenseitig in ihrer Selbstentfaltung unterstützen und für die der Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit verschwindet.
Freiheitsutopien sind nichts Neues. Die deutschen Idealisten des 18. und 19. Jahrhunderts – namentlich Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Goethe und Schiller – spekulierten etwa über einen "schönen Staat" (Schiller) oder "die Freiheit des Menschen" (Fichte) jenseits der damaligen Gesellschaft. Die Menschen sollten von den bekannten äußeren Zwängen befreit werden. Goethes Ausspruch "Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein" fasst die Sehnsucht der Idealisten zusammen. Allerdings konnten sie sich nicht vorstellen, wie ein freies und müßiges Leben für alle Menschen ermöglicht werden könnte. Es fehlte ihnen an Einsichten in die Bedingungen der Möglichkeit solch einer kollektiven Freiheit. Ihnen blieb nur eine abstrakte Wunschvorstellung bzw. beißender Spott gegen die "Brotgelehrten" und "Philister" übrig, die für Lohn arbeiten (müssen). Marx erwiderte den Spott: "Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritik mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen." An dieser Stelle setzt Marxens Verständnis von Arbeit und Spiel an.
Marx definiert Arbeit als die "produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw." Arbeit diene dem Menschen zunächst dazu, sich die äußere Natur zu unterwerfen und sie nach eigenem Ermessen zu verändern. Mit der bewussten Veränderung der Natur "verändert er zugleich seine eigene Natur". Dadurch, dass der Mensch sich selbst verändert, macht er eine Entwicklung durch, die ihn der äußeren Natur gegenüber immer souveräner macht. Aus dieser Naturbeherrschung entwickelte sich laut Marx im Laufe der Zeit die Herrschaft des Menschen über den Menschen. Sobald die Gesellschaft einen Überschuss ansammeln konnte, wurde systematische Ungleichheit möglich. Die Gesellschaft spaltete sich von da an in arbeitende und ausbeutende Klassen. Während die arbeitenden Klassen vor allem für ihr bloßes Überleben malochen, üben sich die ausbeutenden Klassen aller Epochen vor allem im Müßiggang. Das ist das Grundprinzip der Klassengesellschaften. Die zunehmende Gewalt gegenüber der Natur emanzipiert zwar die Gesellschaft von den Naturzwängen, aber zugleich ist sie eine zunehmende Gewalt der Eliten gegenüber den Massen.
Des Pudels Kern ist bei Marx wie auch bei den Idealisten die Freiheit des Menschen. Nicht die Naturgewalten oder gesellschaftliche Zwänge sollen das Los der Individuen bestimmen, sondern ihre eigene, innere Natur sollte sich entfalten. "Und wie Schiller die freie Verfügungsgewalt des Individuums über die Vielfalt und Potenz seiner Kräfte und Anlagen in der Form ihrer ständigen Betätigung und Übung sehr treffend als Spieltrieb bezeichnet, so auch Marx", bemerkte der schillernde Marxist Leo Kofler einmal. Marx erhebt daher das "freie Spiel der geistigen und physischen Kräfte", die in der Natur des Menschen angelegt seien, zum Maß aller Dinge. Eine Gesellschaft lässt sich entsprechend daran messen, wie weit sie dieses "freie Spiel" für alle zulässt. Die Gesellschaft von heute, d.h. der Kapitalismus, schneidet da trotz aller Errungenschaften ziemlich schlecht ab. "In der kapitalistischen Gesellschaft wird freie Zeit für eine Klasse produziert", und zwar – so betont der kommunistische Ökonom – "durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit."
Marx erklärt damit die kapitalistische Organisation der Arbeit zum Haupthindernis für eine Gesellschaft sich frei entwickelnder Menschen. Zugleich entdeckt er ausgerechnet im Kapitalismus selbst die Lösung des Problems: Das Anwachsen der Produktivität aufgrund der unternehmerischen Konkurrenz ermöglicht zumindest prinzipiell eine Verringerung der leidvollen Arbeitszeit zugunsten der Freizeit. Erst die hochmoderne Industrie schafft die Basis für eine Verwirklichung der idealistischen Utopie in einer Gesellschaft. Das marxistische Programm, zusammengefasst in den Worten von Friedrich Engels, klingt daher wie eine geniale Mischung aus idealistischer Philosophie und volkswirtschaftlicher Kalkulation: "Die allgemeine Assoziation aller Gesellschaftsmitglieder zur gemeinsamen und planmäßigen Ausbeutung der Produktionskräfte, die Ausdehnung der Produktion in einem Grade, daß sie die Bedürfnisse aller befriedigen wird, das Aufhören des Zustandes, in dem die Bedürfnisse der einen auf Kosten der andern befriedigt werden, die gänzliche Vernichtung der Klassen und ihrer Gegensätze, die allseitige Entwickelung der Fähigkeiten aller Gesellschaftsmitglieder durch die Beseitigung der bisherigen Teilung der Arbeit, durch die industrielle Erziehung, durch den Wechsel der Tätigkeit, durch die Teilnahme aller an den durch alle erzeugten Genüssen".
Es ist das Ideal einer Gesellschaft, die "die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." Jedoch sei dies im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft undenkbar, denn ihre treibende Kraft ist nicht die unbedingte Entfaltung aller Menschen, sondern bloß ihre Entfaltung im Rahmen und im Sinne der Kapitalakkumulation. Die Organisation der Arbeit im Sinne des Kapitals verhindert sowohl eine stetige Verkürzung von Arbeitszeit als auch eine stetige Verschmelzung von Arbeit und Muße. Die meisten Menschen empfinden daher die Trennung beider als völlig normal und ihre Vermischung als abnormal, weshalb "Workaholics" und überchillige "Hippies" schräg von der Seite angegafft werden.
Freiheitsutopien sind nichts Neues. Die deutschen Idealisten des 18. und 19. Jahrhunderts – namentlich Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Goethe und Schiller – spekulierten etwa über einen "schönen Staat" (Schiller) oder "die Freiheit des Menschen" (Fichte) jenseits der damaligen Gesellschaft. Die Menschen sollten von den bekannten äußeren Zwängen befreit werden. Goethes Ausspruch "Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein" fasst die Sehnsucht der Idealisten zusammen. Allerdings konnten sie sich nicht vorstellen, wie ein freies und müßiges Leben für alle Menschen ermöglicht werden könnte. Es fehlte ihnen an Einsichten in die Bedingungen der Möglichkeit solch einer kollektiven Freiheit. Ihnen blieb nur eine abstrakte Wunschvorstellung bzw. beißender Spott gegen die "Brotgelehrten" und "Philister" übrig, die für Lohn arbeiten (müssen). Marx erwiderte den Spott: "Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritik mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen." An dieser Stelle setzt Marxens Verständnis von Arbeit und Spiel an.
Marx definiert Arbeit als die "produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw." Arbeit diene dem Menschen zunächst dazu, sich die äußere Natur zu unterwerfen und sie nach eigenem Ermessen zu verändern. Mit der bewussten Veränderung der Natur "verändert er zugleich seine eigene Natur". Dadurch, dass der Mensch sich selbst verändert, macht er eine Entwicklung durch, die ihn der äußeren Natur gegenüber immer souveräner macht. Aus dieser Naturbeherrschung entwickelte sich laut Marx im Laufe der Zeit die Herrschaft des Menschen über den Menschen. Sobald die Gesellschaft einen Überschuss ansammeln konnte, wurde systematische Ungleichheit möglich. Die Gesellschaft spaltete sich von da an in arbeitende und ausbeutende Klassen. Während die arbeitenden Klassen vor allem für ihr bloßes Überleben malochen, üben sich die ausbeutenden Klassen aller Epochen vor allem im Müßiggang. Das ist das Grundprinzip der Klassengesellschaften. Die zunehmende Gewalt gegenüber der Natur emanzipiert zwar die Gesellschaft von den Naturzwängen, aber zugleich ist sie eine zunehmende Gewalt der Eliten gegenüber den Massen.
Des Pudels Kern ist bei Marx wie auch bei den Idealisten die Freiheit des Menschen. Nicht die Naturgewalten oder gesellschaftliche Zwänge sollen das Los der Individuen bestimmen, sondern ihre eigene, innere Natur sollte sich entfalten. "Und wie Schiller die freie Verfügungsgewalt des Individuums über die Vielfalt und Potenz seiner Kräfte und Anlagen in der Form ihrer ständigen Betätigung und Übung sehr treffend als Spieltrieb bezeichnet, so auch Marx", bemerkte der schillernde Marxist Leo Kofler einmal. Marx erhebt daher das "freie Spiel der geistigen und physischen Kräfte", die in der Natur des Menschen angelegt seien, zum Maß aller Dinge. Eine Gesellschaft lässt sich entsprechend daran messen, wie weit sie dieses "freie Spiel" für alle zulässt. Die Gesellschaft von heute, d.h. der Kapitalismus, schneidet da trotz aller Errungenschaften ziemlich schlecht ab. "In der kapitalistischen Gesellschaft wird freie Zeit für eine Klasse produziert", und zwar – so betont der kommunistische Ökonom – "durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit."
Marx erklärt damit die kapitalistische Organisation der Arbeit zum Haupthindernis für eine Gesellschaft sich frei entwickelnder Menschen. Zugleich entdeckt er ausgerechnet im Kapitalismus selbst die Lösung des Problems: Das Anwachsen der Produktivität aufgrund der unternehmerischen Konkurrenz ermöglicht zumindest prinzipiell eine Verringerung der leidvollen Arbeitszeit zugunsten der Freizeit. Erst die hochmoderne Industrie schafft die Basis für eine Verwirklichung der idealistischen Utopie in einer Gesellschaft. Das marxistische Programm, zusammengefasst in den Worten von Friedrich Engels, klingt daher wie eine geniale Mischung aus idealistischer Philosophie und volkswirtschaftlicher Kalkulation: "Die allgemeine Assoziation aller Gesellschaftsmitglieder zur gemeinsamen und planmäßigen Ausbeutung der Produktionskräfte, die Ausdehnung der Produktion in einem Grade, daß sie die Bedürfnisse aller befriedigen wird, das Aufhören des Zustandes, in dem die Bedürfnisse der einen auf Kosten der andern befriedigt werden, die gänzliche Vernichtung der Klassen und ihrer Gegensätze, die allseitige Entwickelung der Fähigkeiten aller Gesellschaftsmitglieder durch die Beseitigung der bisherigen Teilung der Arbeit, durch die industrielle Erziehung, durch den Wechsel der Tätigkeit, durch die Teilnahme aller an den durch alle erzeugten Genüssen".
Es ist das Ideal einer Gesellschaft, die "die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." Jedoch sei dies im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft undenkbar, denn ihre treibende Kraft ist nicht die unbedingte Entfaltung aller Menschen, sondern bloß ihre Entfaltung im Rahmen und im Sinne der Kapitalakkumulation. Die Organisation der Arbeit im Sinne des Kapitals verhindert sowohl eine stetige Verkürzung von Arbeitszeit als auch eine stetige Verschmelzung von Arbeit und Muße. Die meisten Menschen empfinden daher die Trennung beider als völlig normal und ihre Vermischung als abnormal, weshalb "Workaholics" und überchillige "Hippies" schräg von der Seite angegafft werden.
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