Man muss den Klassenhass wiederherstellen. Sie hassen uns, wir müssen das erwidern. Sie sind die Kapitalisten, wir sind die Proletarier der heutigen Welt: nicht mehr die Fabrikarbeiter von Marx oder Maos Bauern, sondern "all jene, die für einen Kapitalisten arbeiten, die in irgend einer Weise einem Kapitalisten unterstehen, der ihre Arbeit ausbeutet". Ein Punkt liegt mir am Herzen. Ich sehe, dass heute darauf verzichtet wird, über das Proletariat zu reden. Im Gegensatz dazu glaube ich, dass es keinen Grund gibt, sich für ein erneutes Aufwerfen dieser Frage zu schämen.
Das pfeifen die Spatzen vom Dach: das Proletariat existiert. Es ist ein Missstand, dass das Klassenbewusstsein den Rechten überlassen wird, während die Linke sich schrittweise entproletarisiert. Man muss hingegen den Klassenhass wiederherstellen, denn sie hassen uns, und wir müssen das erwidern. Sie betreiben Klassenkampf. Warum sollten die Arbeitenden ihn nicht betreiben - ausgerechnet in einer Phase, in der der Mensch die am meisten entwertete und ausverkaufte Ware überhaupt ist?
Es ist wesentlich, das Klassenbewusstsein des heutigen Proletariats wiederzuerlangen. Es ist wichtig, die Existenz des Proletariats zu bekräftigen. Die Proletarier sind heutzutage sogar Ingenieure, Akademiker, prekär Beschäftigte und Rentner.* Alsdann gibt es das Subproletariat, das existenzielle Probleme hat, und dem die Rechte mit Erfolg das Blaue vom Himmel verspricht.
Edoardo Sanguineti
Genua, Januar 2007
Quelle: contropiano.org
übersetzt von Alëša und AlexithymiaN
*In Italien sind Ingenieure und Akademiker typischer Weise schlechter bezahlt als in Deutschland.
Sonntag, 7. Dezember 2014
Sonntag, 2. November 2014
Donnerstag, 25. September 2014
Владимир Маяковский: "Долг Украине"
Знаете ли вы украинскую ночь? Нет, вы не знаете украинской ночи! Здесь небо от дыма становится черн_о_, и герб 10 звездой пятиконечной вточен. Где горилкой, удалью и кровью Запорожская бурлила Сечь, проводов уздой смирив Днепровье, Днепр заставят 20 на турбины течь. И Днипр_о_ по проволокам-усам электричеством течет по корпусам. Небось, рафинада и Гоголю надо! ----- Мы знаем, курит ли, пьет ли Чаплин; 30 мы знаем Италии безрукие руины; мы знаем, как Дугласа галстух краплен... А что мы знаем о лице Украины? Знаний груз у русского тощ - 40 тем, кто рядом, почета мало. Знают вот украинский борщ, знают вот украинское сало. И с культуры поснимали пенку: кроме двух 50 прославленных Тарасов - Бульбы и известного Шевченка, - ничего не выжмешь, сколько ни старайся. А если прижмут - зардеется розой и выдвинет аргумент новый: возьмет и расскажет 60 пару курьезов - анекдотов украинской мовы. Говорю себе: товарищ москаль, на Украину шуток не скаль. Разучите эту мову на знаменах - 70 лексиконах алых, эта мова величава и проста: "Чуешь, сурмы заграли, час расплаты настав..." Разве может быть затрепанней да тише слова поистасканного 80 "Слышишь"?! Я немало слов придумал вам, взвешивая их, одно хочу лишь, - чтобы стали всех моих стихов слова полновесными, 90 как слово "чуешь". ----- Трудно людей в одно истолочь, собой кичись не очень. Знаем ли мы украинскую ночь? Нет, мы не знаем украинской ночи. [1926]
http://mayakovskiy.ouc.ru/dolg-ukraine.html
Маяковский |
Montag, 15. September 2014
S. Coiplet: Die Freiheit in Schillers Briefen über ästhetische Erziehung
Von Sylvain Coiplet (12/1996)
Die Freiheit in Schillers Briefen über ästhetische Erziehung
Von der ästhetischen zur politischen Erziehung
In der Briefsammlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen geht Schiller nur in den ersten Briefen und in dem letzten Brief auf die Politik ein. Bis zum achten Brief versucht er gegen seine Zeit zu rechtfertigen, warum er sich mit Ästhetik, statt mit Politik beschäftigen will. Ihm scheint es also nur darum zu gehen, mit dem Thema Politik «fertig» zu werden. Im siebenundzwanzigsten Brief kehrt er zwar zur Politik zurück, aber mit ihm brechen auch die Briefe ab. Heißt es, daß die «politischen» Briefe noch gar nicht geschrieben worden sind (Narr)? Sind aber die «ästhetischen» Briefe wenigstens brauchbar als Einleitung zu diesen nicht-vorhandenen politischen Briefen? Wo lassen sie sich weiterführen?
Soll man gleich beim letzten Brief ansetzen, wo Schiller nicht mehr von Stofftrieb, Spieltrieb und Formtrieb, sondern von Naturstaat, ästhetischem Staat und Vernunftstaat spricht? Oder soll man gerade von diesem letzten Brief absehen, weil Schiller hier der Sprung zur Politik nicht gelingt (Krippendorff)? Ich möchte lieber weiter zurückgreifen und schon beim dreizehnten Brief ansetzen. Ein ziemlich abstrakter und nebensächlicher Brief (Krippendorff). Aber, ich glaube, nur scheinbar abstrakt und nebensächlich. Und noch dazu gut geeignet, zu einem politischen Brief umgestaltet zu werden. Vielleicht gerade deswegen, weil er noch nicht zu stark auf ästhetische Beispiele eingeht, sondern rein methodisch bleibt. Der Sprung zur Politik ist noch nicht so groß.
Nacheinander oder Nebeneinander der drei Staaten
In den ersten Briefen unterscheidet Schiller zwischen Naturstaat und Vernunftstaat. Das Problem sieht er darin, daß der alte Naturstaat zusammengebrochen ist, bevor sich der zukünftige Vernunftstaat ausreichend ausgebildet hat. Es fehlt eine Zwischenstufe, ein politischer Vermittler, ein Zwischenstaat, um das Ideal des Vernunftstaates erreichen zu können (vgl. Schiller 1991, 7-10).
Schiller verläßt dann das politische Feld und läuft zur Ästhetik über, macht aber dort auch zwei gegensätzliche Richtungen aus: Den Stofftrieb und den Formtrieb (vgl. 45-49). Die Ähnlichkeit zu den beiden Staaten ist frappierend: Der Stofftrieb entspricht eindeutig dem Naturstaat und der Formtrieb dem Vernunftstaat. Schiller sucht daher nach einem ästhetischen Vermittler, einem Zwischentrieb (vgl. 55-58). Hier enden aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen Politik und Ästhetik.
Die Staaten lösen sich in der Zeit ab, es muß nur dafür gesorgt werden, daß keine Lücke entsteht. Bei den Trieben sieht es aber anders aus: Sie sollen nicht einander ablösen, sondern einander ergänzen. Sie sollen gleichzeitig wirken, und dies nicht nur vorläufig. Die ästhetische Frage ist also nicht, wie man zeitliche Lücken zwischen gegensätzlichen Trieben vermeidet, sondern wie man ihre Kollision vermeidet: Das ist gerade das Thema des dreizehnten Briefes (vgl. 49-55).
Stofftrieb und Formtrieb widersprechen sich zwar, aber stören dabei einander nicht mehr, sobald sie sich nicht mehr auf das selbe Objekt beziehen. Jeder Trieb soll seinen eigenen Bereich bekommen, wo er sich voll, widerspruchslos, entfalten kann. Daneben waltet der andere Trieb und kommt auch zur Selbstverwirklichung (vgl. 49). Aufgabe der Kultur ist es, die Bereiche voneinander abzugrenzen (vgl. 50-51).
Es könnte auch die Aufgabe der Politik sein. Warum sollte die Politik nicht darin bestehen, die politischen Triebe auszumachen und ihnen ihre jeweiligen «Reiche» zuzuweisen, wo sie sich voll ausleben können, wo sie die übrigen politischen Triebe nicht stören? Eine Aufgabe für mehr als einen politischen Brief ...
Nacheinander und Nebeneinander der drei Staaten
Aber ist es nicht gerade das, was Schiller im letzten Brief versucht? Dort sieht es doch so aus, als ob der dynamische Staat (Naturstaat) und der ethische Staat (Vernunftstaat) gleichzeitig bestehen sollen mit dem ästhetischen Staat. Materie, Vernunft und Schönheit bekommen jeweils ihr eigenes Reich. Zwei Reiche sind schon vorhanden: das Reich der Kräfte (Naturstaat) und das Reich der Gesetze (Vernunftstaat). Das «dritte» Reich, das Reich des Scheins, wird erst aufgebaut (vgl. 125-126). Es gibt immer noch ein Nacheinander, wenn auch nicht mehr so streng wie in den ersten Briefen: Was gewesen ist, bleibt wenigstens neben dem Neuen bestehen. Aber klingt nicht trotztdem der ästhetische Staat wie ferne Zukunftsmusik? Braucht man etwas zu berücksichtigen, was es noch gar nicht gibt? Ein gefundenes Fressen für Konservative, die zunächst lieber alles beim Alten lassen wollen. Es fragt sich nur, ob diese Konservativen zu den feingestimmten Seelen gerechnet werden können, die ein Bedürnis nach diesem ästhetischen Staat haben (vgl. 128).
Warum ist es so wichtig, daß die drei Staaten nicht einander ablösen, sondern nebeneinander bestehen bleiben? Wenn sie sich ablösen, so heißt er nur, daß die Staatsverfassung sich mit der Zeit ändert. Wohin bleibt unklar. Nach dem Ersten Reich kann das Zweite Reich kommen, und endlich das heute berüchtigt klingende «Dritte Reich». Bestehen die drei Staaten gleichzeitig nebeneinander, so heißt es, daß sie sich einschränken müssen. Es gibt keinen allmächtigen Staat mehr, sondern eine Art Gewaltenteilung. Ist es aber eine Gewaltenteilung innerhalb des Staates, oder eine Gewaltenteilung zwischen dem Staat und anderen Organisationen, die von ihm unabhängig agieren. Schiller nennt sie alle drei Organisationen «Staaten», so daß eine Antwort schwierig ist.
Humboldt wird in seinen Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (vgl. Humboldt 1982) schon deutlicher. Dieser Versuch Humboldts lag Schiller vor, als er seine ästhetischen Briefe schrieb. Er war sogar einer der wenigen Menschen, die ihn schon damals ganz gelesen haben. Die anderen konnten nur die Teile lesen, die Schiller selbst veröffentlicht hat. Humboldt verliert keine Zeit mit der Frage einer Gewaltenteilung innerhalb des Staates. Ihm geht es eindeutig um eine Beschränkung seines Machtbereiches. In einer früheren Schrift von ihm, die er hier nur ausführt, heißt es schon dazu: «das Prinzip, daß die Regierung für das Glück und Wohl, das physische und das moralische der Nation sorgen müsse, sei der ärgste und drückendste Despotismus» (vg. 211). Sein Reststaat soll also diese beiden Aufgaben delegieren. Der Naturstaat (physisches Wohl) und der Vernunftstaat (moralisches Wohl) sind also gar keine «Staaten», weil sie daran zugrunde gehen würden. Ich frage mich nur, ob Humboldt seinen Reststaat im ästhetischen Staat von Schiller wiedererkannt hat. Mir gelingt es nicht. Während der Reststaat bei Humboldt zwingen darf und nur er, läßt der schillersche ästhetische Staat frei und nur er.
Die Freiheit als ästhetischer und politischer Trieb
Ob die drei Staaten von Schiller echte Staaten sind oder nicht, bleibt mir also unklar, weil nicht von Humboldt auf Schiller geschlossen werden kann. Klar ist wenigstens, daß sie nicht alle gleichzeitig, sondern erst nacheinander entstehen, genauso wie die drei Triebe (vgl. Schiller 1991, 81-82) und dann bestehen bleiben. Das Verwirrspiel fängt aber gleich wieder an, wenn man sich fragt, in welcher Reihenfolge die Staaten auftreten sollen.
In den ersten Briefen soll erst der Naturstaat, dann der noch gesuchte Zwischenstaat und zuletzt der Vernunftstaat auftreten (vgl. 7-10). Im letzten Brief soll der gefundene Zwischenstaat, der ästhetische Staat an letzter Stelle kommen (vgl. 125-126). Schiller hat nämlich inzwischen gezeigt, daß zunächst der Stofftrieb, dann der Formtrieb aufgetreten sind: Später wurden sie durch den Spieltrieb ergänzt (vgl. 81-82). Wird das, was anfangs bloß als Übergangsstadium gemeint war, heimlich zum Endziel (Narr)? Wo liegt das politische Endziel von Schiller: Beim Vernunftstaat oder beim ästhetischen Staat?
Diese Frage ist schon wichtig. Das Reich der Kräfte und das Reich der Gesetze sind beide Reiche des Zwangs, das Reich des Scheins ist aber das einzige Reich der Freiheit, wenigstens im siebenundzwanzigsten Brief. Will Schiller auf Zwang oder auf Freiheit hinaus? Schon seltsam, daß man sich diese Frage stellen muß. Will Schiller nicht eindeutig auf Freiheit hinaus?
Von der moralischen zur ästhetischen Freiheit
Das Problem hängt, glaube ich, damit zusammen, daß Schiller in diesen Briefen seine eigene Auffassung von Freiheit entwickelt, aber daneben eine andere «fremde» Freiheit bestehen läßt. Er entdeckt eine ästhetische Freiheit, die sich in einem Gleichgewicht zwischen zwei Extremen hält (vgl. 58: dort noch unter dem Decknamen «Zufälligkeit»; 80: «Freiheit» diesmal ohne Deckung). Aber bei der einseitigen moralischen «Freiheit» à la Kant spricht er immer noch von «Freiheit», obwohl sie sich nur von der Materie befreit hat und doch den Menschen unter Zwang setzt, nämlich unter moralischem Zwang (vgl. 43: dort als «Person» bezeichnet; 109-110: als «moralische Freiheit»). Im sechsundzwanzigsten, das heißt im vorletzten Brief, ist er immer noch damit beschäftigt zu zeigen, daß die (freie) ästhetische Stimmung nicht die (moralische) Freiheit ist, weil diese Freiheit erst aus ihr entspringt (vgl. 110-111). Wie unfrei diese moralische «Freiheit» ist, das hat er doch schon längst selbst gezeigt! Wenn in den Briefen «Freiheit» steht, muß man sich immer fragen welche Freiheit: Die alte kantische, oder die neue schillersche Freiheit?
Schiller will auf die Freiheit hinaus, aber auf welche dieser beiden Freiheiten? Meint er seine ästhetische Freiheit oder die moralische Freiheit von Kant? Ich neige dazu, Schiller «das letzte Wort» zu lassen, seine eigene Freiheit sprechen zu lassen. In seinem letzten Brief ist der Vernunftstaat eindeutig Zwang (vgl. 125), und wenn es noch im vorigen Brief anders steht, dann nur deswegen, weil ihm der Weg zu dieser Einsicht schwierig ist. Und vielleicht nicht nur ihm.
Von der ästhetischen zur politischen Freiheit
Wenn dem so ist, dann ist auch das politische «Endziel» klar: Richtung Freiheit via den ästhetischen Staat. Und nun kommt die politische Enttäuschung. Ich war vorhin vom Einfall Schillers begeistert, gegensätzliche Triebe dadurch vor der Kollision zu retten, daß ihnen jeweils ein eigenes «Reich» zugewiesen wird. Welches Reich kommt nun der Freiheit zu, wo darf sie sich voll ausleben? Ausschließlich im Reich des Scheines (vgl. 125) !
Gerät damit nicht die Freiheit selbst zum bloßen Schein? Vielleicht, aber was heißt eigentlich Schein bei Schiller? Ist er mit Utopie gleichzusetzen (Binger)? Jetzt, wo Schiller wieder von Politik spricht, neigt man schnell dazu, alles zu vergessen, was er vorher bezüglich der Ästhetik herausgearbeitet hat. Der Schein ist weder bloß Form, noch bloß Materie: Wo er waltet, hat die Form schon angefangen, die Materie hat aber noch nicht aufgehört (vgl. 127). Schein ist nicht gleich Idee oder Ideal. Schein ist erquicklicher als Licht, es ist die Geselligkeit (vgl. 126), das Gespräch. Was Schiller ausbauen will, ist das freie Gespräch, als einen Weg, die eigenen Gedanken zu befreien. Dann lähmt das Licht, die Wahrheit, nicht mehr, weil man das richtige Tor zur Erkenntnis gefunden hat: Die Kunst (vgl. Schiller 1992, 202). Dieser Weg ist keine Utopie, er wird nicht nur von vielen gewünscht, sondern von einigen Menschen schon beschritten (vgl. Schiller 1991, 128).
Was hat aber diese Geselligkeit noch mit Politik zu tun? Ist es mehr als nur ein frustrierendes «Spiel» mit Worten, wenn Schiller von ihr als von einem ästhetischen «Staat» spricht? Wird der eigentliche Staat von diesem wenigstens halb idealistischen Staat überhaupt beschnitten? Was kümmern ihn die freien Gespräche, wenn sie nur über Ästhetik laufen? Tun sie das? Das kann man jedenfalls nicht vom Gespräch zwischen Schiller und Humboldt sagen. Als der preußische Staat den Beitrag Humboldts nicht frei laufen ließ [1], da wußte er schon warum. Und die ästhetischen Briefe haben sich wahrscheinlich nur durch ihre Zweideutigkeit vor dem Hausarrest retten können. Und doch: Heißt nicht die Forderung nach Freiheit der Gespräche, daß die Politik nicht über ihren Inhalt gebieten soll, daß sie außerhalb ihrer «Wirksamkeit» liegen? Wie politisch eine solche Forderung ist, das hat die Antwort seitens der deutschen Staaten gezeigt: Die Karlsbader Beschlüsse.
Anhang: Kleiner politischer Briefwechsel
«Eine Aufgabe für mehr als einen politischen Brief» ... Auf mehr als zwei Briefe habe ich es nicht gebracht. Die Autorenangaben sind ohne Gewähr.
Brief von Schiller an Humboldt
Zur Zeit greife ich die ästhetischen Briefe wieder auf. Damals habe ich mich auf die Freiheit konzentriert. Im letzten Brief gehe ich nur kurz auf die Gleichheit ein (vgl. 126-128). Das dritte Ideal der Brüderlichkeit ist auch erst ziemlich spät von der Französischen Revolution dazu genommen worden. Ich habe es daher rausgelassen. Sonst wäre mir vieilleicht schon aufgefallen, daß sie alle drei zusammen genommen eine sonderbare Verwandtschaft mit meinen drei Trieben haben.
Dabei geht es nicht so sehr um die einzelnen Triebe, sondern vor allem um ihr Verhältnis zueinander. Stellt man die Freiheit der Brüderlichkeit gegenüber, so ergibt sich genauso eine Polarität wie damals zwischen Formtrieb und Stofftrieb. Bei der Freiheit geht mir nichts über mich, während bei der Brüderlichkeit mir nichts über die anderen geht. Freiheitstrieb und Brüderlichkeitstrieb stehen sich wirklich polar gegenüber. Dann läßt sich mein Bild der Wage vom zwanzigsten Brief auf die Politik anwenden: «Die Schalen einer Wage stehen gleich, wenn sie leer sind; sie stehen aber auch gleich, wenn sie gleiche Gewichte enthalten (83)». Es gibt das alte ängstliche politische Gleichgewicht, die Gleichheit der leeren Schalen. Laß uns Freiheit und Brüderlichkeit zu einer gewagteren politischen Gleichheit steigern. Es ist Zeit zum politischen Spiel, zum Übergewicht meiner und der anderen.
Da uns hier keiner mehr etwas anhaben kann und wir sowieso nichts mehr zu verlieren haben, so will ich die politischen Spielregeln näher beschreiben. Daß nicht alle Menschen gleich fähig sind, habe ich schon damals gesagt: Die Menschen unterscheiden sich bezüglich der «Privatfertigkeit» (126). Das Eigentum gibt mir Freiheit, es macht mir möglich, meine Fähigkeiten einzusetzen. Es soll mir bleiben, solange ich es zum besten Wohl der anderen verwalten kann. Nur so wiegt die Brüderlichkeit meine Freiheit auf. Nur so kommt es zu einem politischen Gleichgewicht, obwohl das Eigentum ungleich, nämlich nach den Fähigkeiten verteilt ist. Werde ich unfähig oder sterbe ich, so kann ich mit meinem Eigentum den Bedürfnissen anderer nicht mehr nachkommen. Fällt die Brüderlichkeit weg, so muß es aber auch die Freiheit: Beide Schalen müssen gleichzeitig leergeräumt werden. Oder ich muß vielmehr eine neue Brüderlichkeit herbeischaffen. Ich muß mein Eigentum rechtzeitig entäußern, dem Fähigsten übergeben, der beide Schalen gleich füllen kann. Nur so kann das politische Spiel weitergehen ...
Brief von Humboldt an Schiller
Deine drei «politischen Triebe» haben mir zu denken gegeben. Kann man nicht von der Französischen Revolution sagen, daß sie ihre politischen Triebe zu «abstrakt» gedacht hat? Sie hat sie verallgemeinert, sie sollten für alles gelten. Im dreizehnten Brief versuchst du die ästhetischen Triebe zu «konkretisieren», sie auf unterschiedliche «Reiche» zu beziehen, damit sie nicht kollidieren. Nun habe ich dasselbe mit deinen drei politischen Trieben versucht.
In meinem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, da habe ich schon damals den Staat dem Gleichheitstrieb zugeordnet. Der Staat ist mir das Reich der Gleichheit. Alles andere ist mir Freiheit gewesen. Eigentlich stimmt es schon, wenn man darunter Freiheit vom Staat meint. Aber du hast schon Recht mit der Polarität zwischen Freiheit und Brüderlichkeit. Die Freiheit ist Freiheit vom Staat und richtet sich dabei auf den Einzelnen, macht ihn erst zum Einzelnen. Die Brüderlichkeit braucht auch die Freiheit vom Staat, richtet sich aber auf die Welt, auf alle anderen Menschen. Der Unterschied ist mir so nicht aufgefallen, weil es mir vor allem darum gegangen ist, meinen «Reststaat» herauszuschälen. Und als ich damals geschrieben habe, da ist in Frankreich von Brüderlichkeit überhaupt noch keine Rede gewesen.
Wenn du von der Freiheit und Brüderlichkeit so sprichst, wie in deinem letzten Brief, dann wird das Individuum zum Reich der Freiheit und die Welt zum Reich der Brüderlichkeit. Damit bin ich aber noch nicht ganz ans Ende meiner Gedanken gekommen. Dem Staat habe ich die Möglichkeit abgesprochen, für das moralische und physische Wohl der Menschen sorgen zu können. Heute würde ich einfach das moralische Wohl zum Reich der Freiheit und das physische Wohl zum Reich der Brüderlichkeit erklären.
Literaturverzeichnis
Wolfgang Goethe: Das Märchen von der grünen Schlange und der weißen Lilie (1795)
Wilhelm von Humboldt (1982): Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792), Stuttgart (Reclam)
Edmund Jacoby (1986): Goethe, Schiller und Hölderlin, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, Hg. Fetscher I. / Münkler H., Bd.4, München-Zürich, 127-151
(Interessant wegen der Betonung der Verwandschaft zwischen den ästhetischen Briefen Schillers und dem Versuch Humboldts über die Grenzen des Staates)
Friedrich Schiller (1991): Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), Stuttgart (Reclam)
Friedrich Schiller (1992): Sämtliche Gedichte, Frankfurt/Main - Leipzig
Rudolf Steiner (1976): Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft (1919), Dornach
(Sein Ansatz einer sozialen Dreigliederung gibt die Inspirationsquelle für den politischen Briefwechsel des Anhangs)
[1] Seine «Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen» wurden erst 1851 vollständig veröffentlicht, da die preußische Zensur sich quergelegt hatte.
Freitag, 12. September 2014
Reaktionäre Phantastereien und Marxismus, oder: War Lenin ein Querfrontler?
Die neuen Montagsdemos bzw. "Mahnwachen für den Frieden" haben gewisse Gemüter in Deutschland stark erhitzt und gespalten, wobei das
Spektrum der Urteile über den Charakter der Mahnwachen sogar innerhalb
marxistischer Zirkel weit auseinanderging.
Dabei kam es zu Verurteilungen, zu Gleichgültigkeit oder zu aktiver Teilnahme linker Aktivisten an der Bewegung, die mal für "neurechts", mal für "fortschrittlich" oder mal für schlicht "zu unbedeutend" gehalten wurde. Doch ist diese Spaltung gerechtfertigt? Ist die Beteiligung linker Aktivisten an einer nicht vollständig linken Bewegung oder sogar einer Bewegung, in der es "reaktionäre Phantastereien" und "Vorurteile" gibt also selbst auch reaktionär? Ist das die in letzter Zeit viel beschworene rot-braune "Querfront"? Und war Lenin dann ein sogenannter "Querfrontler"?
Denn Lenin hat sich ziemlich eindeutig zur Frage linker Beteiligung an Massen mit "reaktionären Phantastereien" geäußert. Im Folgenden einige abseitige Gedanken zum Verhältnis von linken Intellektuellen und nicht-linken Massen.
Die Frage der Haltung linker Aktivisten zu nicht-linken Massen ist nicht neu. Sie wurde seit der großen französischen Revolution immer wieder aufgeworfen. Marx und Engels thematisierten sie ebenso wie Lenin. Aber vielleicht waren diese Hauptvertreter des Internationalismus ja insgeheim durch irgendein Hintertürchen selbst Nationalisten und reaktionäre Fantasten?
Schauen wir doch einfach, was Lenin zur Frage "reaktionärer Phantastereien" in der Bewegung erklärt hat. So schrieb Lenin über die Frage der "reaktionären Fantasien" in den Massen und die nötige Haltung der Marxisten zu ihnen:
So weit Lenin zur Frage der "reinen" Revolution. Man könnte nun einwenden, dass dies ein aus dem Kontext herausgerissenes Zitat sei. Vielleicht ist ja die Kritik an den Mahnwachen heute legitim? Aber dann möge man bitte eine überzeugendere Zitatstelle oder einen Text bieten, der die Problematik besser behandelt. Lenin hat sich nicht umsonst gegen die sogenannte "Kinderkrankheit des Kommunismus" gewandt, der so links eingestellt war, das er mit realen Menschen nicht umgehen konnte. Auch heute noch stellen sich ähnliche Probleme der Bewegungsarbeit wie früher. Diether Dehm hat diese "Reinlichkeitsreflexe der Linken" entsprechend kritisiert.
Aber bisher konnte man fast nur eben diese Reinflichkeitsreflexe vermerken. Nur wenige Linke nahmen aktiv an den Mahnwachen teil und gewannen dort Sympathien und konnten dort überzeugen. Ein anderer Teil der Linken bediente sich Verleumdungen des Klassengemenges, das die "Mahnwachen" bildete und in der Tat nur stellenweise von Marxisten geprägt wurde.
Idealistische Kritiker sind oft mehr oder weniger links, also linksliberal oder kleinbürgerlich-radikal. Solche idealistischen Kritiker finden sich bei den Mahnwachen zuhauf. Sie selbst wünschen sich eine "reine" Revolution, eine "friedliche" Revolution und eine "Revolution des Geistes", des "Inneren" und ganz ohne Parteipolitik und Klassenkämpfe. Das ist natürlich eine Illusion und Idealismus. Aber es hat etwas Progressives, wenn sich vorher unpolitische Menschen gegen den Krieg und gegen offensichtliche Kriegspropaganda in den Medien wenden.
Da die Linke, die sich auf die marxistischen Klassenkämpfer und das Proletariat bezieht, selbst nicht frei von solchem Idealismus, ist es paradox, wenn sie die Mahnwachen für verkürzte Kritik kritisiert. Die Wurzel dieser Reinlichkeitsreflexe in der Linken ist ihr weitgehend bürgerlicher Charakter. Nicht das Proletariat und sein Kern, das Industrieproletariat, treibt die Bewegung voran. Nicht Arbeiter sind auf den entscheidenden Posten der linken Organisationen. Und es sind nicht Arbeiterkinder unter der linken Intelligenzija, die den sozialistischen Ton angeben. Arbeiterklasse, Arbeiterbewegung und die Linke sind momentan sehr verschiedene Dinge. Praktisch überall sind es Kinder kleinbürgerlicher, verbürgerlichter und sogar großbürgerlicher Familien, die den linksliberalen Ton angeben. Und wenn sie das nicht einsehen, dann bestätigt das nur einen bürgerlichen Idealismus und Liberalismus, der die realen Klassenspaltungen in der Gesellschaft nicht beachtet.
Wer sich eine linke Demonstration oder linke Bewegung wünscht, die nicht nur die üblichen Verdächtigen und vom Staatsschutz übel Verdächtigten umfassen soll, der muss akzeptieren (oder ignorieren), dass nicht bloß linke Heilige aufkreuzen. Diese gerade neu in (die) Bewegung geratenen Menschen haben natürlich "ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantastereien, ihre Fehler und Schwächen", die sie in die Bewegung hineintragen. Wer sie deswegen systematisch als "neurechts" diffamiert, der mag ein Linker sein, aber revolutionäre Massen wird er nie auf seiner Seite haben. Und wenn die radikalisierten Kleinbürger der Mahnwachen und die linksradikalen Kleinbürger linker Organisationen sich gegenseitig kritisieren, dann geschieht das weitgehend auf kleinbürgerlichem Boden.
Man könnte leicht schlussfolgern: Wer nur eine "reine" Revolution als Revolution akzeptiert, die ausschließlich von linken Heiligen getragen wird, der will in Wirklichkeit womöglich gar keine Revolution. Wer alle vorherigen, "unreinen" Demonstrationen, Bewegungen, Kämpfe und Rebellionen von vornherein als "neurechts" auffasst, der will in Wirklichkeit womöglich gar keine echte Revolution, sondern nur eine "reine" Revolution. So jemand fürchtet womöglich eine eigenständige Bewegung.
Solch ein elitäres Verhalten passt gut zu den Neokonservativen, zu den Kriegstreibern, zu den konformen Intellektuellen, zu den Eliten in Politik und Wirtschaft. Diese Vertreter der bürgerlichen Herrschaft sind massenfeindlich und ekeln sich geradezu vor der proletarischen Bewegung, die Marx und Engels zufolge nicht viel mehr ist als "die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl" im Kapitalismus. Dieser Abscheu vor den selbständigen Massen, die gerade erst ihre Verschlafenheit und Passivität abstreifen, widerspricht natürlich den Interessen der Herrschenden. Solcher Abscheu passt aber nicht zu Menschen, die sich auf proletarischen Sozialismus oder Marxismus beziehen.
Das heißt nicht, dass die Vorurteile, reaktionären Phantastereien, Fehler und Schwächen einer Bewegung kritiklos hingenommen werden dürfen. Sie verdienen ihre Kritik vom sozialistischen, internationalistischen, proletarischen Standpunkt aus. Und jeder Rest an rückständigen Ideen sollte möglichst von fortschrittlichen Ideen und fortschrittlicher Praxis zurückgedrängt werden. Das gilt gerade auch für rechte, faschistische, reaktionäre Bewegungen, die der größte Feind der proletarischen Bewegung sind. Umso wichtiger ist es, eine Bewegung und Einzelpersonen mit bloß verkürzter Kapitalismuskritik vom Faschismus klar unterscheiden zu können. Wer das nicht tut, muss selbstzufrieden sein.
Aber der Kampf gegen die Reaktion kann eben nicht durch eine ebenso reaktionäre Standpauke bürgerlicher Idealisten geschehen, die ganz offensichtlich keinerlei Verwurzelung in den Massen und keinerlei Verständnis für diese Massen haben. Das wiederum heißt nicht, dass nur Industriearbeiter linke Politik machen können. Aber es sollte ein besseres Gefühl für das Problem existieren, dass sich die große Masse der Bevölkerung politisch nicht vertreten fühlt, dass es dadurch ein politisches Vakuum gibt ("Postdemokratie" genannt) und dass die Linke die Enttäuschung der Massen nicht mit Sektiererei und Moralismus überwinden kann. Die Idealisten der Mahnwachen haben eine eigenständige Massenbewegung gebildet, die sich über Monate hinweg jede Woche trifft. Ihr Kern besteht aus bisher unpolitischen Menschen in der Postdemokratie, die sich nun in lebendiger Demokratie üben. Je mehr die Linke auf sie einschlägt, desto mehr "Phantastereien" werden sich dort entwickeln. Je mehr die Linke sie stützt, desto mehr Hegemonie kann die Linke gewinnen.
Die Linke muss ihre Isolation von den breitesten Menschenmassen loswerden und gleichzeitig ihre Ideen verbreiten. Sie muss die Hegemonie gewinnen innerhalb der selbständigen Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das ist nicht "Querfront", sondern die einzige Möglichkeit, die linken Ideale mit Hilfe der Mehrheit endlich zu verwirklichen.
Dabei kam es zu Verurteilungen, zu Gleichgültigkeit oder zu aktiver Teilnahme linker Aktivisten an der Bewegung, die mal für "neurechts", mal für "fortschrittlich" oder mal für schlicht "zu unbedeutend" gehalten wurde. Doch ist diese Spaltung gerechtfertigt? Ist die Beteiligung linker Aktivisten an einer nicht vollständig linken Bewegung oder sogar einer Bewegung, in der es "reaktionäre Phantastereien" und "Vorurteile" gibt also selbst auch reaktionär? Ist das die in letzter Zeit viel beschworene rot-braune "Querfront"? Und war Lenin dann ein sogenannter "Querfrontler"?
Denn Lenin hat sich ziemlich eindeutig zur Frage linker Beteiligung an Massen mit "reaktionären Phantastereien" geäußert. Im Folgenden einige abseitige Gedanken zum Verhältnis von linken Intellektuellen und nicht-linken Massen.
Lenin über die "reine" soziale Revolution
Die Frage der Haltung linker Aktivisten zu nicht-linken Massen ist nicht neu. Sie wurde seit der großen französischen Revolution immer wieder aufgeworfen. Marx und Engels thematisierten sie ebenso wie Lenin. Aber vielleicht waren diese Hauptvertreter des Internationalismus ja insgeheim durch irgendein Hintertürchen selbst Nationalisten und reaktionäre Fantasten?
Schauen wir doch einfach, was Lenin zur Frage "reaktionärer Phantastereien" in der Bewegung erklärt hat. So schrieb Lenin über die Frage der "reaktionären Fantasien" in den Massen und die nötige Haltung der Marxisten zu ihnen:
"Denn zu glauben, daß die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung - das zu glauben heißt der sozialen Revolution entsagen. Es soll sich wohl an einer Stelle das eine Heer aufstellen und erklären: 'Wir sind für den Sozialismus', an einer anderen Stelle das andere Heer aufstellen und erklären: 'Wir sind für den Imperialismus', und das wird dann die soziale Revolution sein! Nur unter einem solchen lächerlich-pedantischen Gesichtspunkt war es denkbar, den irischen Aufstand einen 'Putsch' zu schimpfen.
Wer eine 'reine' soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.
Die russische Revolution von 1905 war eine bürgerlich-demokratische Revolution. Sie bestand aus einer Reihe von Kämpfen aller unzufriedenen Klassen, Gruppen und Elemente der Bevölkerung. Darunter gab es Massen mit den wildesten Vorurteilen, mit den unklarsten und phantastischsten Kampfzielen, gab es Grüppchen, die von Japan Geld nahmen, gab es Spekulanten und Abenteurer usw. Objektiv untergrub die Bewegung der Massen den Zarismus und bahnte der Demokratie den Weg, darum wurde sie von den klassenbewußten Arbeitern geführt.
Die sozialistische Revolution in Europa kann nichts anderes sein als ein Ausbruch des Massenkampfes aller und jeglicher Unterdrückten und Unzufriedenen. Teile des Kleinbürgertums und der rückständigen Arbeiter werden unweigerlich an ihr teilnehmen - ohne eine solche Teilnahme ist ein Massenkampf nicht möglich, ist überhaupt keine Revolution möglich -, und ebenso unweigerlich werden sie in die Bewegung ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantastereien, ihre Fehler und Schwächen hineintragen. Objektiv aber werden sie das Kapital angreifen, und die klassenbewußte Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit des mannigfaltigen, vielstimmigen, buntscheckigen und äußerlich zersplitterten Massenkampfes zum Ausdruck bringt, wird es verstehen, ihn zu vereinheitlichen und zu lenken, die Macht zu erobern, die Banken in Besitz zu nehmen, die allen (wenn auch aus verschiedenen Gründen!) so verhaßten Trusts zu expropriieren und andere diktatorische Maßnahmen durchzuführen, die in ihrer Gesamtheit den Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Sozialismus ergeben, einen Sieg, der sich durchaus nicht mit einem Schlag aller kleinbürgerlichen Schlacken 'entledigen' wird."
Die reine Revolution und die Reinlichkeitsreflexe der Linken
So weit Lenin zur Frage der "reinen" Revolution. Man könnte nun einwenden, dass dies ein aus dem Kontext herausgerissenes Zitat sei. Vielleicht ist ja die Kritik an den Mahnwachen heute legitim? Aber dann möge man bitte eine überzeugendere Zitatstelle oder einen Text bieten, der die Problematik besser behandelt. Lenin hat sich nicht umsonst gegen die sogenannte "Kinderkrankheit des Kommunismus" gewandt, der so links eingestellt war, das er mit realen Menschen nicht umgehen konnte. Auch heute noch stellen sich ähnliche Probleme der Bewegungsarbeit wie früher. Diether Dehm hat diese "Reinlichkeitsreflexe der Linken" entsprechend kritisiert.
Aber bisher konnte man fast nur eben diese Reinflichkeitsreflexe vermerken. Nur wenige Linke nahmen aktiv an den Mahnwachen teil und gewannen dort Sympathien und konnten dort überzeugen. Ein anderer Teil der Linken bediente sich Verleumdungen des Klassengemenges, das die "Mahnwachen" bildete und in der Tat nur stellenweise von Marxisten geprägt wurde.
Idealistische Kritiker sind oft mehr oder weniger links, also linksliberal oder kleinbürgerlich-radikal. Solche idealistischen Kritiker finden sich bei den Mahnwachen zuhauf. Sie selbst wünschen sich eine "reine" Revolution, eine "friedliche" Revolution und eine "Revolution des Geistes", des "Inneren" und ganz ohne Parteipolitik und Klassenkämpfe. Das ist natürlich eine Illusion und Idealismus. Aber es hat etwas Progressives, wenn sich vorher unpolitische Menschen gegen den Krieg und gegen offensichtliche Kriegspropaganda in den Medien wenden.
Da die Linke, die sich auf die marxistischen Klassenkämpfer und das Proletariat bezieht, selbst nicht frei von solchem Idealismus, ist es paradox, wenn sie die Mahnwachen für verkürzte Kritik kritisiert. Die Wurzel dieser Reinlichkeitsreflexe in der Linken ist ihr weitgehend bürgerlicher Charakter. Nicht das Proletariat und sein Kern, das Industrieproletariat, treibt die Bewegung voran. Nicht Arbeiter sind auf den entscheidenden Posten der linken Organisationen. Und es sind nicht Arbeiterkinder unter der linken Intelligenzija, die den sozialistischen Ton angeben. Arbeiterklasse, Arbeiterbewegung und die Linke sind momentan sehr verschiedene Dinge. Praktisch überall sind es Kinder kleinbürgerlicher, verbürgerlichter und sogar großbürgerlicher Familien, die den linksliberalen Ton angeben. Und wenn sie das nicht einsehen, dann bestätigt das nur einen bürgerlichen Idealismus und Liberalismus, der die realen Klassenspaltungen in der Gesellschaft nicht beachtet.
Wer sich eine linke Demonstration oder linke Bewegung wünscht, die nicht nur die üblichen Verdächtigen und vom Staatsschutz übel Verdächtigten umfassen soll, der muss akzeptieren (oder ignorieren), dass nicht bloß linke Heilige aufkreuzen. Diese gerade neu in (die) Bewegung geratenen Menschen haben natürlich "ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantastereien, ihre Fehler und Schwächen", die sie in die Bewegung hineintragen. Wer sie deswegen systematisch als "neurechts" diffamiert, der mag ein Linker sein, aber revolutionäre Massen wird er nie auf seiner Seite haben. Und wenn die radikalisierten Kleinbürger der Mahnwachen und die linksradikalen Kleinbürger linker Organisationen sich gegenseitig kritisieren, dann geschieht das weitgehend auf kleinbürgerlichem Boden.
Man könnte leicht schlussfolgern: Wer nur eine "reine" Revolution als Revolution akzeptiert, die ausschließlich von linken Heiligen getragen wird, der will in Wirklichkeit womöglich gar keine Revolution. Wer alle vorherigen, "unreinen" Demonstrationen, Bewegungen, Kämpfe und Rebellionen von vornherein als "neurechts" auffasst, der will in Wirklichkeit womöglich gar keine echte Revolution, sondern nur eine "reine" Revolution. So jemand fürchtet womöglich eine eigenständige Bewegung.
Solch ein elitäres Verhalten passt gut zu den Neokonservativen, zu den Kriegstreibern, zu den konformen Intellektuellen, zu den Eliten in Politik und Wirtschaft. Diese Vertreter der bürgerlichen Herrschaft sind massenfeindlich und ekeln sich geradezu vor der proletarischen Bewegung, die Marx und Engels zufolge nicht viel mehr ist als "die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl" im Kapitalismus. Dieser Abscheu vor den selbständigen Massen, die gerade erst ihre Verschlafenheit und Passivität abstreifen, widerspricht natürlich den Interessen der Herrschenden. Solcher Abscheu passt aber nicht zu Menschen, die sich auf proletarischen Sozialismus oder Marxismus beziehen.
Das heißt nicht, dass die Vorurteile, reaktionären Phantastereien, Fehler und Schwächen einer Bewegung kritiklos hingenommen werden dürfen. Sie verdienen ihre Kritik vom sozialistischen, internationalistischen, proletarischen Standpunkt aus. Und jeder Rest an rückständigen Ideen sollte möglichst von fortschrittlichen Ideen und fortschrittlicher Praxis zurückgedrängt werden. Das gilt gerade auch für rechte, faschistische, reaktionäre Bewegungen, die der größte Feind der proletarischen Bewegung sind. Umso wichtiger ist es, eine Bewegung und Einzelpersonen mit bloß verkürzter Kapitalismuskritik vom Faschismus klar unterscheiden zu können. Wer das nicht tut, muss selbstzufrieden sein.
Aber der Kampf gegen die Reaktion kann eben nicht durch eine ebenso reaktionäre Standpauke bürgerlicher Idealisten geschehen, die ganz offensichtlich keinerlei Verwurzelung in den Massen und keinerlei Verständnis für diese Massen haben. Das wiederum heißt nicht, dass nur Industriearbeiter linke Politik machen können. Aber es sollte ein besseres Gefühl für das Problem existieren, dass sich die große Masse der Bevölkerung politisch nicht vertreten fühlt, dass es dadurch ein politisches Vakuum gibt ("Postdemokratie" genannt) und dass die Linke die Enttäuschung der Massen nicht mit Sektiererei und Moralismus überwinden kann. Die Idealisten der Mahnwachen haben eine eigenständige Massenbewegung gebildet, die sich über Monate hinweg jede Woche trifft. Ihr Kern besteht aus bisher unpolitischen Menschen in der Postdemokratie, die sich nun in lebendiger Demokratie üben. Je mehr die Linke auf sie einschlägt, desto mehr "Phantastereien" werden sich dort entwickeln. Je mehr die Linke sie stützt, desto mehr Hegemonie kann die Linke gewinnen.
Die Linke muss ihre Isolation von den breitesten Menschenmassen loswerden und gleichzeitig ihre Ideen verbreiten. Sie muss die Hegemonie gewinnen innerhalb der selbständigen Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das ist nicht "Querfront", sondern die einzige Möglichkeit, die linken Ideale mit Hilfe der Mehrheit endlich zu verwirklichen.
Mittwoch, 10. September 2014
Lauffeuer - Die Gräueltaten von Odessa am 02.Mai 2014 [Trailer]
"In Odessa starben bei einem Brand am 2. Mai mindestens 48 Menschen. Ein
rechter Mob warf Molotow-Cocktails auf das Gewerkschaftshaus, in das
sich regierungskritische Aktivisten geflüchtet hatten.
Doch was genau passierte am 2. Mai in Odessa? Wer waren die Organisatoren? Und was bezweckten sie? – Nun entsteht eine Dokumentation über dieses Schlüsselereignis des ukrainischen Bürgerkrieges - und Wir bitten um Ihre Unterstützung."
Hier der Trailer dazu:
https://www.youtube.com/watch?v=DH_Wwd1bASU
Doch was genau passierte am 2. Mai in Odessa? Wer waren die Organisatoren? Und was bezweckten sie? – Nun entsteht eine Dokumentation über dieses Schlüsselereignis des ukrainischen Bürgerkrieges - und Wir bitten um Ihre Unterstützung."
Hier der Trailer dazu:
https://www.youtube.com/watch?v=DH_Wwd1bASU
Kommunismus leicht erklärt auf qummunismus.at
Manchmal reicht es, einfach zu verlinken. Diese Einführung in den Kommunismus auf qummunismus.at ist nicht schlecht:
http://qummunismus.at/p/article39.html
http://qummunismus.at/p/article39.html
Montag, 8. September 2014
Die verleugnete Klasse der Kleinbürger
Teil 4 der Serie "Klasse-is-muss". Diesmal über den Kleinbürger und dessen problematische Zwischenstellung. Das Kleinbürgertum wird als gesellschaftliches Phänomen völlig vernachlässigt, geradezu verleugnet oder sogar für nicht mehr existent gehalten. Dass das eine "vollendete
Illusion" ist und dass es noch immer eine
politische Rolle spielt, soll im Folgenden ausgiebig erläutert werden.
"Des Kleinbürgers feuchter Traum", so die taz... Bild: dapd |
Die Frage der Klassenkämpfe und das verleugnete Kleinbürgertum
Die politische Linke in Deutschland hat sich früher mal um die Frage der Klassenanalyse gekümmert. Die Spaltung der Gesellschaft in Klassen wurde als ganz entscheidendes Problem der Geschichte angesehen. Marx und Engels hatten im Kommunistischen Manifest entsprechend festgestellt: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." Marx und Engels analysierten auch die Kämpfe verschiedener Klassen anhand bestimmter historischer Ereignisse.
Die deutschen Bauernkriege, die französische Revolution, die Zeit der Reaktion in Frankreich, die europäischen Revolutionen von 1848, der Bürgerkrieg in Frankreich 1871 und viele andere Beispiele lassen sich nennen. Es ging dabei nicht nur um den Kampf von Kapital und Arbeit oder Kapitalisten und Arbeitern, sondern um den Kampf weiterer Klassen wie der deklassierten Lumpenproletarier, der Bürokraten, der kleinbürgerlichen Bauern, der städtischen Kleinbürger, der Adeligen usw.
In Deutschland spielen die klassischen Bauern wie privilegierte Adelige heute kaum noch eine politische Rolle, da es sie kaum noch gibt, sie kaum Macht haben und kaum noch Ausstrahlung auf den Rest der Gesellschaft besitzen. Die Deklassierten werden politisch kaum mobilisiert und daher als "abgehängtes Prekariat" oder "Prekariat" für irrelevant erklärt. Die großen Kapitalisten werden abstrakt für alles Übel in der Welt verantwortlich gemacht, während die restlichen "99%" als mehr oder weniger gleichgestellte Gegner der Kapitalisten verstanden werden. Die 99% werden im Grunde als moderne Lohnarbeiter identifiziert.
Das städtische Kleinbürgertum hingegen wird völlig ignoriert. Für die linksgerichteten deutschen Kleinbürger gibt es keine Kleinbürger. Für sie gibt es vielleicht "kleinere" Kapitalisten, die aber eben Kapitalisten sind. Das hat sozialpsychologische Gründe. So können sich Kleinbürger mit der einzigen wirklich revolutionären Klasse, dem Proletariat, identifizieren und gleichsetzen. Diese Identifizierung ist aber politisch gesehen problematisch. Und es ist kein Zufall, dass es zu dieser Verleugnung und Identifizierung kommt. Der russische Marxist Trotzki betonte 1932 dagegen völlig zu Recht die herausragende Bedeutung der "kleinbürgerlichen Volksmassen":
"Die diese drei Etappen charakterisierenden politischen Programme: Jakobinertum, reformistische Demokratie (darunter auch: Sozialdemokratie) und Faschismus sind ihrem Wesen nach Programme kleinbürgerlicher Strömungen. Schon das beweist, welch große, richtiger, welch entscheidende Bedeutung die politische Selbstbestimmung der kleinbürgerlichen Volksmassen für das Schicksal der gesamten bürgerlichen Gesellschaft besitzt!"
Wenn heute die politischen Vertreter dieser kleinbürgerlichen Volksmassen über ihre Klassenherkunft schweigen und sich sogar proletarisch geben, verdunkelt das die realen Klassenverhältnisse und -interessen in der modernen Gesellschaft. Es gibt zwar durchaus Konvergenzen zwischen bürgerlichen und proletarischen Massen. Aber das heißt nicht, dass die beiden Seiten identisch geworden sind. Der soziale Widerspruch zwischen ihnen besteht weiterhin auf vielfältige Weise und muss von ehrlichen Linken unbedingt zur Sprache gebracht werden. Die Stellung des Kleinbürgers in der bürgerlichen Gesellschaft ist ein hochbrisantes und bedeutendes Thema, das viel zu lange ignoriert wurde.
Die Stellung des Kleinbürgers in der bürgerlichen Gesellschaft
Das Kleinbürgertum ist in der bürgerlichen Gesellschaft stets die "Mittelschicht" zwischen der großbürgerlichen "Oberschicht" und der proletarischen "Unterschicht". Die Zwischenstellung des Kleinbürgers ergibt sich aus seiner Nähe zum Großbürgertum "über ihm" und seiner Nähe zum Proletariat "unter ihm". Das Ausgeliefertsein gegenüber dem Großkapital, seine Bindung an mittelständische Privilegien und die Konkurrenz durch die billigeren Arbeiter macht die kleinbürgerlichen Schichten ökonomisch aus.
Ausgeliefert sind sie dem Großkapital, weil die großen Kapitalisten wesentlich mehr Kapital, mehr Arbeitskraft, mehr Macht, bessere Technik und bessere Verbindungen zum Staat ihr Eigentum nennen können. Von Schwankungen auf dem Markt sind die großen Konzerne weniger betroffen als kleine Eigentümer und Produzenten, deren Kundenschaft kleiner ist, die meist selbst auch anfälliger ist für Teuerungen auf dem Markt.
Andererseits sind sie an mittelständische Privilegien gebunden, die sie ihr "Eigentum" oder ihre "Selbsständigkeit" nennen. Der Begriff "Mittelstand" erinnert nicht zufällig an die ständische Feudalgesellschaft, in der die adelige Aristokratie den ersten Stand, der geistliche Klerus den zweiten Stand und die selbstständigen Bürger in den Städten und auf dem Land um die Städte herum den dritten Stand ausmachten. Der dritte Stand umfasste nicht nur alle bürgerlichen Schichten, sondern konnte später - mit der Entstehung des modernen Proletariats in den Manufakturen und Fabriken der Kapitalistenklasse - auch vom "vierten Stand", der Arbeiterklasse, unterschieden werden.
Dieser vierte Stand galt anders als der dritte Stand nicht als selbstständig und wurde mit Verachtung und Mitleid gestraft. Weil die Arbeiter kein nennenswertes Eigentum hatten, waren sie nicht "selbsständig", sondern abhängig. Sie waren abhängig vom Kapital eines Eigentümers aus dem dritten Stand, dem Bürgertum. Daher kommt auch der Begriff "Proletariat", der auf ihre Eigentumslosigkeit verweist. Auch ein kleiner Handwerksmeister war relativ selbstständig und unabhängig, während seine proletarischen Gesellen von ihm abhängig waren. Der "Mittelstand" ist heute im Grunde eine schwammige Bezeichnung für Mittelschicht, kleine Eigentümer, kleinere und mittlere Kapitalisten, Selbstständige aller Art und fest angestellte und damit privilegierte Arbeiter beim Staat und in Unternehmen. Sie alle eint, dass sie gewisse mittelständische Privilegien genießen, die die großen Kapitalisten nicht benötigen und die die Proletarier nicht besitzen.
Die proletarische Klasse hat im Gegensatz zu den bürgerlichen Klassen praktisch kein verwertbares Eigentum außer der eigenen Arbeitskraft. Proletarier sind daher "doppelt freie Arbeiter", frei von Kapitaleigentum und "frei" darin, ihre Arbeitskraft zu verkaufen oder zugrunde zu gehen. Ihre Arbeitskraft muss sie zu Marktpreisen an die groß- oder kleinbürgerliche Eigentümer von Produktionsmitteln verkaufen, um nicht weiter in die Armut abzurutschen. Sie hat daher traditionell geringere Ansprüche als etwa kleine Eigentümer, Handwerker, Händler, Buchgelehrte etc., die sich mit ihrem Eigentum gewisse Privilegien und die sich mit den Privilegien wiederum ein gewisses Eigentum sichern können, um sich damit über die Arbeiter zu stellen.
Die Arbeiterklasse stellt eine gefährliche Konkurrenz für das Kleinbürgertum dar. Die Arbeiter stellen für die Kleinbürger deswegen eine Konkurrenz dar, weil sie bei guter Ausbildung oder hoher Technik in großen Unternehmen ähnliche landwirtschaftliche, handwerkliche, handelsmännische und andere geistige Tätigkeiten verrichten können wie die kleinen Selbstständigen. Die Kombination von Kapital großer Kapitaleigentümer und billigen Arbeitskräften im Auftrag der Großkonzerne kann somit enormen Druck auf die kleinbürgerliche Klasse ausüben. Selbstständige fallen nicht selten aus ihrem Geschäft heraus und verlieren ihre gesamte Existenzgrundlage, sodass sie ins Proletariat oder ins deklassierte Subproletariat abrutschen. Ihr Eigentum ist oft zu klein, um mit den großen Eigentümern und ihre Arbeitskraft zu teuer, um mit den lohnabhängigen Arbeitern zu konkurrieren. Sie sind permanent in der Zange des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit.
Obwohl das Kleinbürgertum als "Mittelschicht" begriffen werden kann, sollte es nicht mit der Mittelschicht als Einkommensgruppe verwechselt werden. Zur Einkommensgruppe der Mittelschicht können verschiedene Klassen und Klassenfraktionen gehören, die einfach offiziell ein "mittleres" Einkommen besitzen. Aber nicht jeder in der Mittelschicht muss auch zum Kleinbürgertum gehören. Deklassierte, besser verdienende Lohnarbeiter, lohnabhängige Intellektuelle und schlecht bezahlte Manager mögen zur Mittelschicht gezählt werden, aber lassen sich besser unter Lumpenproletariat, Proletariat oder Großbourgeoisie einordnen. Die klassischen Bildungsbürger, Beamten, Angestellten, Verwaltungsbürokraten, kleineren Abgeordneten, Handwerker, Kleinhändler, Bauern und Ladenbesitzer sollten zum Kleinbürgertum gezählt werden. Sie alle können zur Mittelschicht gehören, sind aber in jedem Fall ein kleines Bürgertum, eine kleine Bourgeoisie, weil sie kleines Eigentum besitzen, mit dem sie ihre ansonsten unsichere Stellung in der Gesellschaft absichern.
Übrigens stellt sich die allgemeine Frage der Einteilung in Fraktionen oder Klassen sogar für das Bürgertum. Denn nicht umsonst wird von der bürgerlichen Staatsangehörigkeit, Einbürgerung, dem bürgerlichen Gesetzbuch, dem bürgerlichen Recht, deutschen Bürgern und so weiter in ganz egalitärer Manier geredet. Das bürgerliche Gleichheitspostulat unterscheidet nicht zwischen proletarischen, kleinbürgerlichen und großbürgerlichen Bürgern. Erst eine Kritik dieser rein formalen, fiktiven Gleichheitsauffassung ermöglicht ein Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft als Klassengesellschaft.
Es stellt sich also die Frage nach der Spaltung des Bürgertums, das man in Groß- und Kleinbourgeoisie einteilen kann. Das Kleinbürgertum selbst kann ebenso als eine einzige Klasse oder auch als Ansammlung von Mittelklassen verstanden werden. Die Marxisten zählten z.B. gelegentlich die Bauernschaft zum Kleinbürgertum, um bei anderer Gelegenheit Kleinbürgertum und Bauernklasse als verschiedene Klassen zu behandeln. In jedem Fall bleibt noch die Frage, in wie weit die Bauern in eher proletarische und in eher großbürgerliche Gruppen eingeteilt werden können.
Die Fraktionierung des Kleinbürgertums geht aber noch weiter. Kleinbürger lassen sich anhand von Berufszweigen und Tätigkeitsfeldern in Fraktionen teilen. Abgesehen von den landwirtschaftlich tätigen Kleinbürgern im "primären Sektor", wozu auch kleine Fischer und Viehjäger gezählt werden können, gibt es eher handwerklich tätige Kleinbürger, Handwerk kaufende und verkaufende Kleinbürger, Bildungsbürger verschiedenster intellektueller Berufe, fest angestellte Büroarbeiter mit mittelständischen Privilegien, staatliche Beamte, kleine und mittlere Manager und Mittelstandsunternehmer. Sie alle sind ganz eindeutig keine großen Kapitalisten, aber auch keine "doppelt freien Arbeiter" im Marxschen Sinne. Sie stehen irgendwo zwischen diesen zwei kämpfenden Seiten.
Die Sicherung von Privilegien, von Ämtern und Berufen, von Macht und Gewalt, von Ruf, Ehre, Status, von Differenz, von "feinen Unterschieden" - gegenüber anderen Schichten, Milieus, Klassen und ihren Fraktionen - ist in jedem Fall ganz entscheidend. Denn die Mitglieder irgendwelcher Klassen handeln nicht nach abstrakten Schemata oder Einstufungen von Soziologen, sondern gemäß den Interessen, die sie verfolgen. Diese Interessen mögen ganz bewusst verfolgt werden, können aber auch als unbewusste Einflüsse wirken. Jedenfalls bilden sich entlang von Klasseninteressen die kollektiven und individuellen Interessen, Ideen, Utopien, Vorurteile, Urteile, das Selbstverständnis und die Selbstverleugnung von Gesellschaftsgliedern. Eine Klasse kann aufgrund solcher Widersprüche auseinanderfallen in mehrere Fraktionen und Milieus, politische Parteien und Sekten oder gar ganz desintegrieren. Denn die Integration von Einzelnen in eine Klasse hängt auch von ihrem Handeln ab. Durch Handlungen und Schicksale können sich Einzelne oder ganze Fraktionen in veränderter Klassenlage wiederfinden.
Das Kleinbürgertum kann also in mehrere Fraktionen unterschieden werden, anhand der Stellung in der Mehrwertproduktion, anhand des konkreten Verhältnisses zu den anderen Klassen. Zum Verhältnis gegenüber den anderen Klassen gehört auch die ökonomische Nähe z.B. zu Bauernschaft, Deklassierten, Proletariat oder Großbürgertum. Um die Klassen zu definieren und zu unterscheiden, sollte wie bei den Klassikern des Marxismus die Stellung der Klassen(fraktionen) im Produktionsprozess und die Stellung im Klassenkampf herangezogen werden. Aber die Fraktionierung der kleinen Bourgeoisie geht bis in ihre Ideologie, Kultur und politische Haltung hinein, was auch einen Teil der Klassenspaltung und der Klassenkämpfe darstellt.
Das kleinbürgerliche Bewusstsein
Die verinnerlichte Fraktionierung der kleinen Bourgeoisie geht bis in ihre Ideologie, Kultur und politische Haltung hinein. Dennoch gibt es ein inneres, geistiges Band zwischen allen Kleinbürgern, das sie trotz aller Fraktionierung eint. Der Marxist Leo Kofler charakterisierte das Kleinbürgertum entsprechend idealtypisch:
"Auf die Frage, was der Kleinbürger eigentlich sei, läßt sich antworten: er ist die menschliche Inkarnation der vollendeten Illusion"
So abstrakt diese Charakterisierung scheinen mag, so treffend ist sie im konkreten Fall. Der Kleinbürger hat seine eigene klassenmäßige, eben kleinbürgerliche Psychologie und Ideologie. Man könnte böswillig auch von einer spießbürgerlichen Idiotie reden. Seine eigentümliche Geistesverfassung entspricht seiner geistigen Haltung zur Eigentumsfrage. Diese Geisteshaltung ist geprägt von seiner Haltung zu den drei großen Klassenpositionen in der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. vom Ausgeliefertsein gegenüber dem Großkapital, von seiner Bindung an seine mittelständischen Privilegien und von der Konkurrenz durch die billigeren Arbeiter.
Der kleine Bürger gilt gerne als ordentlicher Bürger, als ehrenwertes Mitglied der bürgerlichen Ordnung. Er würde liebend gern ökonomisch zum großen Bürger aufsteigen, das politische Amt eines großen Staatsmannes besetzen oder zumindest kulturell den Ruf eines großen Geistes erringen. Aber zugleich fällt es ihm aufgrund seiner ganzen Klassenlage und klassenmäßigen Situation schwer, diesen Wunschtraum zu verwirklichen. Er hat weder genug Kapital, noch genug Kontakte nach "ganz oben". Meist fehlt es ihm sogar an Geist. Entsprechend ist er getrieben; getrieben, zumindest den Schein der bürgerlichen Würde aufrecht zu erhalten - ob mit einem gewissen Lebensstandard, einem gewissem Verhalten ("Habitus") oder mit dem Wissen des "Bildungsbürgers", ist dabei nachrangig.
In jedem Fall ist er seinem Wesen nach vom Großbürger geschieden. Er ist diesem sozial immer unterlegen. Daraus folgt sein ewiges Minderwertigkeitsgefühl, sein Selbstbehauptungstrieb, seine Bildungsgeflissenheit. Und aus der eigentümlichen Psychologie des petit bourgeois folgt der Drang, sich zumindest gegenüber der "Unterschicht", dem "Volk", dem "Pöbel", den "Massen" abzugrenzen.
Es können daher fortschrittliche von rückschrittlichen Kleinbürgern, proletarisch gesinnte Kleinbürger von Spießbürgern usw. unterschieden werden. Zudem können Kleinbürger wie auch Großbürger gelegentlich ihre Klasse "verraten". Marx kam z.B. aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und obwohl er zeitweise unter enormer Armut leiden musste, nahm er den eigens entwickelten kommunistischen Standpunkt des Proletariats ein. Engels war nicht nur der Sohn eines Großfabrikanten, sondern als dessen Erbe auch selbst ein Großbourgeois und entwickelte mit Marx zusammen die Theorie von der Notwendigkeit der proletarischen Diktatur. Wenn das nicht Klassenverrat ist, was dann? Der russische Kommunist Trotzki bemerkte dazu:
"Marx und Engels sind aus der kleinbürgerlichen Demokratie hervorgegangen und sind selbstverständlich in deren Kultur und nicht in einer Kultur des Proletariats erzogen worden. Wenn es nicht die Arbeiterklasse mit ihren Streiks, ihrem Kampf, ihren Leiden und Aufständen gegeben hätte, dann hätte es natürlich auch keinen wissenschaftlichen Kommunismus gegeben, weil dann dazu keine historische Notwendigkeit bestanden hätte. Das zusammenfassende Denken der bourgeoisen Demokratie erhebt sich in Gestalt ihrer kühnsten, ehrlichsten und weitblickendsten Vertreter - getrieben von den kapitalistischen Widersprüchen - bis zur genialen Selbstverleugnung, ausgerüstet mit dem ganzen kritischen Arsenal, das dank der Entwicklung der bourgeoisen Wissenschaft zur Verfügung stand. Das ist die Herkunft des Marxismus."
Klein- und Großbürger haben sich demnach vereinzelt auf die Seite der Proletarier gestellt und den revolutionären Standpunkt des Proletariats eingenommen. Kühne, ehrliche und weitblickende Bourgeois können "bis zur genialen Selbstverleugnung" ihrer engstirnigen Klasseninteressen gelangen. Sie werden Unterstützer des Kommunismus oder einer anderen, kleinbürgerlichen Utopie, wie Leo Kofler erläuterte:
"Es ist nicht leicht, den äußerst verschwommenen und inkonsequenten kleinbürgerlichen Utopismus genau zu beschreiben. Wie der Kleinbürger zwischen allen Extremen hin- und herschwankt, ohne dem einen oder dem anderen eindeutig zugeordnet werden zu können, so schwankt auch sein Utopismus hin und her zwischen der Hoffnung auf eine ansehnliche materielle Sicherstellung und dem Bedürfnis nach Erhöhung seiner Individualität mit Hilfe aller Bildungsmöglichkeiten. Erreicht er beides nicht (und das ist zumeist der Fall), so wird er 'revolutionär'."
Das kleinbürgerliche Bewusstsein neigt zu einer individualistischen Utopie. Die vereinzelte Lage der Bourgeois erschwert eine kollektivistische Ideologie. Wenn sie eine Gesellschaftsutopie entwickeln, dann sind sie zwischen individuellem Eigentum und kollektivem Kampf zerrissen. Plattester Materialismus und höchster Utopismus müssen dann im Kopf des Bourgeois miteinander streiten. Anarchismus, grüner Bio-Kult, Spenden und Arbeit in teils unnützen NGOs sind typische Ausdrucksformen einer solchen individualistischen Utopie. Hinzu kommt ein oft rigoroser Moralismus, da ein wirkliches Verständnis für die Probleme der unteren Schichten meist fehlt.
Während unendliche postmoderne "Diskurse" über noch so kleine rein sprachliche oder theoretische Details für die vereinzelten Utopisten und Moralisten von aller größter Bedeutung sind, ist der Prolet sich genötigt, dazu nur auszuspucken. Solche "Probleme" sind für den Proleten keine realen Angelegenheiten, sondern nur eine der vielen Varianten intellektueller Selbstbeschäftigung. Nicht, dass Wissen allgemein abgelehnt wird, aber es muss praktischen Nutzen haben. Die aller meisten Debatten der Mittelschichten haben keinen praktischen Wert für die Mehrheit. Und selbst wenn die Privilegierten dieses Problem erkennen, können sie kaum anders, als ewig zu diesem Problem zurückzukehren. Die ewig wiederkommenden Debatten in der Linken sind eine Frage der Herkunft. Arbeiterkinder diskutieren ungerne ewig und wenn doch, dann vor allem, um die Professorenkinder zu ärgern...
Zumindest in solchen Fällen wie bei Marx, Engels, Lenin, Luxemburg, Lukacs etc. traf eine Parteinahme für die Seite der Arbeit zu. Was ist aber die typische Stellung des Kleinbürgers im Klassenkampf zwischen Bürgertum und Proletariat?
Die Stellung des Kleinbürgers im Klassenkampf zwischen Bürgertum und Proletariat
Der typische Kleinbürger will auf keinen Fall den Eindruck vermitteln, dass auch er zum Proleten oder deklassierten Pauper absteigen könnte. Das allein wäre schon ein enormer Statusverlust, den er oft mit allen Mitteln der Täuschungskunst vermeiden will. Doch genau dieser Abstieg in die "Unterschicht" ist die stets drohende Gefahr für das bürgerlich sozialisierte Mitglied der Mittelschicht. Selbst keineswegs wohlhabende Arbeiter verstehen sich gerne als "Mittelschicht" und nicht als "Arbeiter", weil solch ein Eingeständnis Statusverlust bedeutet. Tatsächlich ist die Lebenslage des kleinen Bürgers in Krisenzeiten von der des Proletariers kaum zu unterscheiden. Beide können verarmen, in prekäre Situationen geraten, ihre Existenzgrundlage (den Verleih ihrer Arbeitskraft) und ihre Reputation verlieren. Das macht aus ihnen das, was den "kleinen Mann" ausmacht, und was man früher "die werktätigen Massen" nannte. Das ist neben der Abhängigkeit von der eigenen Arbeit die größte Gemeinsamkeit der beiden Gruppen, was sie auch vom Großbürger scheidet.
Daher erhalten "die feinen Unterschiede", wie Bourdieu sie nannte, wiederum eine große Bedeutung. Sie trennen die unteren und mittleren Massen der bürgerlichen Gesellschaft von einander - nicht nur kulturell, sondern letztlich auch ökonomisch und politisch. Die "unkultivierten" Massen fühlen den feinen Unterschied zum "gebildeten" Kleinbürger ebenso wie die "gutbürgerlich" erzogenen Individuen den feinen Unterschied zum "Proll" intensiv wahrnehmen. Während der Proletarier kaum anders kann, als grobschlächtig, unkultiviert und nahezu barbarisch auf den Spießbürger aus dem Mittelstand zu wirken, kann der Spießbürger für den kernigen Proleten nur aufgetakelt, gekünstelt, falsch erscheinen. Die Manieriertheit des Kleinbürgers nervt den Proletarier ebenso wie die naive Plumpheit des Proletariers den Kleinbürger anekelt. Versuche der Auflösung dieses Widerspruchs sind meist nur zeitweise in Form eines taktischen Bündnisses erreichbar. Die sozialen Widersprüche brechen aber bestimmt aus dieser Hülle heraus.
Ein Kleinbürger kann noch immer verschiedenste politische Standpunkte einnehmen. Er kann rechtsradikal, konservativ, liberal, halblinks, radikaldemokratisch, linksradikal und voll auf der Seite des Proletariats sein. Die Wahl der politischen Gesinnung hängt von vielen Faktoren ab. Dennoch ist innerhalb der politischen Parteien und Identitäten wie auch sonst überall die Spaltung in Klassen zu bemerken.
Ein linker Proletarier unterscheidet sich noch immer von einem linken Kleinbürger. Wer das leugnet, ist kein Marxist, sondern ein bürgerlicher Idealist und höchst wahrscheinlich ein Kleinbürger... Die kleinbürgerliche Linke neigt dazu, andere Themen, Schwerpunkte, Ansätze und Methoden bei ihrer Behandlung zu wählen. In allem, was sie tut, bleibt sie kleinbürgerlich. Und sie merkt es meistens nicht einmal, eben weil sie "die Inkarnation der vollendeten Illusion" ist, wie Leo Kofler so prägnant formulierte. Sie kann aufgrund ihrer Stellung kaum anders.
Proletarische Linke merken den Unterschied und sind oft entweder genervt und wütend auf die kleinbürgerlichen Utopisten oder sie lassen sich abschrecken und bleiben auf Distanz. Es geht nicht nur in den Ghettos der Arbeitslosen, Pauperisierten und Deklassierten so weit, dass der mittelständische Habitus und das Bildungsbestreben der Mittelschichten völlig abgelehnt werden. Das völlig berechtigte Misstrauen gegenüber den privilegierten Bürgern ist auch unter nicht gerade armen Arbeitern verbreitet. Kofler hat auch diesen Zusammenhang sehr schön, wenn auch etwas gewunden, erklärt:
"Erscheint dem Arbeiter das Schicksal als objektive gesellschaftliche Macht, dann folgt für ihn daraus, daß Wissen und Bildung keine andere Aufgabe zu erfüllen haben als die, diesem Schicksal, das er als bedrückend empfindet, kritisch und verändernd gegenüberzutreten, was nichts anderes als eine praktische Aufgabe. Bildung ist ihm nichts anderes als ein praktisches Werkzeug. Daraus resultiert eine eigenartige Dialektik im Denken des Arbeiters, die als eine tragische zu erkennen ist. Dies äußert sich darin, daß der Arbeiter den Träger des Wissens und der Bildung, den Intellektuellen, hoch einschätzt und achtet, ihm gleichzeitig aber [...] mißtraut. Aber diese Dialektik geht weiter. Gerade weil der Arbeiter in der Bildung eine praktische Einrichtung erblickt, bekümmert er sich um sie nur so weit und nur zu jenen Zeiten, als er die Überzeugung gewinnen kann, sie praktisch-politisch auswerten zu können; er resigniert und wendet sich von ihr ab in Zeiten des Versagens seiner 'Bewegung', wobei sich das Mißtrauen gegen die sonst von ihm geschätzten Intellektuellen steigert. Einerseits ist er gerade wegen seiner praktischen Ausrichtung den andern Klassen insofern überlegen, als er in seiner naiven, ja primitiven Weltansicht und aus seinem unmittelbaren Erleben heraus das heutige gesellschaftliche Verhältnis als ein Herr-Knecht-Verhältnis durchschaut; dieses Durchschauen, das gleichfalls der ersten, unmittelbar empirischen Stufe der Bildung angehört, macht seine Bildung aus. Andererseits lehnt er wegen seiner praktischen Einschätzung aller Bildung im heutigen Zustand der resignierten Dekadenz die Bildung im gegebenen historischen Augenblick als für ihn irrelevant ab, zieht er ganz bewußt die Unbildung vor. Das ist die Lösung des vieldiskutierten Geheimnisses, weshalb der Arbeiter sich weigert, die bereitstehenden Bildungsinstitute auszunützen (z.B. die Volkshochschulen). Das bewußte Aufsichnehmen der Unbildung, so sehr sie die Tragik des Arbeiters kennzeichnet, hat eines für sich: Er gibt sich keiner Illusion hin. Das Wissen um die ideologische Gebundenheit des Wissens und das Wissen um die eigene Primitivität verleiht dem Arbeiter eine illusionslose Klarheit, die bewirkt, daß er, besonders im Gegensatz zum Kleinbürger, keine subjektiven Minderwertigkeitsgefühle kennt, sondern nur solche, die aus einer gesellschaftlichen Lage, seiner sozialen Inferiorität kommen, also durch die objektive Realität veranlaßt sind. Deshalb kennt der Arbeiter keine subjektiven Schuldgefühle, was ihm jenen eigenartigen Gleichmut verleiht, der oft beobachtet worden ist."
Die Herausforderung für die Kommunisten aus dem Kleinbürgertum ist es vor allem, für die Führung durch die Arbeiterklasse einzutreten, obwohl sie durch noch so feine Unterschiede dieser Arbeiterklasse fern stehen. Abgesehen von der Theoretisierung der Klassen und ihrer Kämpfe müssen sie endlich auch ihre eigenen Klassenlagen und Klasseninteressen problematisieren. Das ist politisch von größter Bedeutung, denn es ist ein absurdes Trauerspiel, dass ein Großteil der Linken auf die zentrale Frage der Hegemonie des Proletariats keine ernsthafte Antwort geben kann; es ist traurig, dass ein Großteil der Linken kaum über die eigene Klassenlage und die eigenen Klasseninteressen und entsprechenden Befangenheiten und Vorurteile reflektiert; es ist traurig, dass ein Großteil der Linken gar nicht realisiert, wie idealistisch ihr eigener Standpunkt tatsächlich ist; es ist traurig, dass ein Großteil der Linken trotz aller Idealisierung der Arbeiterschaft gar nicht anders kann als einen "bürgerlichen Sozialismus" zu praktizieren. Proletarischer Sozialismus kann nur vom Proletariat durchgeführt werden und nicht von höheren Wesen, adeligen Kaisern oder kleinbürgerlichen Tribunen.
Die Mehrheit der Radikalen in den westlichen Ländern ist gar nicht "radikal" und gelangt gar nicht an die Wurzel der Dinge. Das liegt unter anderem an ihrer Stellung in den Klassenverhältnissen. Sie täuschen sich oft darüber, welche Lage und welchen Standpunkt sie einnehmen. Sie begreifen oft nicht, dass sie eben radikalisierte Kleinbürger sind, dass sie mit dem (Industrie-)Proletariat politisch, ideologisch und vom Lebensgefühl her kaum Berührung hatten. Sie, die kleinbürgerlichen Radikalen, fühlen sich mit Vorliebe wie ausgebeutete Proleten und proletarische Revolutionäre, während sie zugleich allein schon an der Sprechweise, am Äußeren, an ihrer Gangweise und ihren Blicken vom einfachen Arbeiter allzu oft allzu leicht zu unterscheiden sind. Nicht, dass äußerliche Unterschiede allein entscheidend wären. Teilnehmer einer sozialistischen Revolution können in allen Formen und Farben auftauchen. Aber die "feinen Unterschiede" machen faktisch einen Unterschied und erklären die Abneigungen zwischen den Klassen teilweise.
Die Bürgersöhne und -töchter wären gerne Großbürger, während die Arbeiterkinder genötigt sind, ihrer Klasse treu zu bleiben. Die Kinder des Kleinbürgertums können ihr Eigentum vergrößern und so aufsteigen. Die Arbeiterkinder können sich dagegen nur gegen das Kapital zusammentun. "Das eingestandene Ideal der Mehrheit des Klein- und Mittelbürgertums ist die esoterisch 'gebildete' bürgerliche Elite", so Kofler. Damit sind sich auch proletarischer und kleinbürgerlicher Habitus spinnefeind, gerade weil die zwei Seiten ökonomisch gar nicht so weit auseinander liegen. Und wenn die Kleinbürger sich proletarisch geben, wirkt es ohnehin unecht.
"Die Inkarnation der vollendeten Illusion", der Kleinbürger, kann politisch nicht anders, als sich bewusst oder unbewusst den Herrschenden oder mit viel Mühe der proletarischen Bewegung zu unterwerfen. "Ist das Kleinbürgertum unfähig zu selbständiger Politik (weshalb sich insbesondere auch die kleinbürgerliche 'demokratische Diktatur' nicht verwirklichen lässt), so bleibt ihm nur die Wahl zwischen Bourgeoisie und Proletariat", sagt Trotzki. Zugleich kann sie ihre charakteristischen Merkmale nicht loswerden bis sie völlig in einer der beiden Klassen aufgeht. Das ist das Schicksal des Kleinbürgertums, ob es städtisch oder ländlich ist, ob es landwirtschaftlich, handwerklich-industriell, handelnd oder geistig arbeitet.
Es kann zwar durchaus eine kleinbürgerliche Partei, Regierung und Herrschaft geben, wenn sich Fraktionen des Kleinbürgertums zu einer Macht zusammentun, die die anderen Klassen politisch unterwirft. Aber eine dauerhafte Herrschaft der Kleinbürger, die auch ökonomisch herrschen, ist heute nicht denkbar. Entweder sie bleiben nur auf politischer Ebene mächtig, aber bleiben ökonomisch schwach, oder werden entmachtet, oder sie steigen ins Großbürgertum auf. Sie müssen daher letztlich den mächtigeren Klassen, dem Proletariat oder der Großbourgeoisie, die ökonomische Herrschaft überlassen.
Trotzki über den Kleinbürger. |
Zur vollendeten Illusion der Kleinbürger gehört auch ihr Bemühen um eine Bereinigung ihrer Geschichte. Das Kleinbürgertum wird in Krisenzeiten zwischen den Klassen teilweise zerrieben und radikalisiert sich entsprechend auf verzweifelte Weise. Es kann auf die Seite des Kommunismus stellen oder auch dem Faschismus frönen. Trotzki bemerkte über die deutschen Kleinbürger vor Hitlers Aufstieg:
"Aber während sie sich zahlenmäßig hielten – das alte und das neue Kleinbürgertum umfaßt nicht viel weniger als die Hälfte des deutschen Volkes -, büßten die Mittelklassen den letzten Schatten von Selbständigkeit ein: sie lebten am Rande der Schwerindustrie und des Bankensystems, sie aßen die Brosamen vom Tisch der Kartelle, sie lebten von den geistigen Almosen ihrer alten Theoretiker und Politiker. [...] Das Nachkriegschaos traf die Handwerker, Krämer und Angestellten nicht weniger heftig als die Arbeiter. Die Landwirtschaftskrise richtete die Bauern zugrunde. Der Verfall der Mittelschichten konnte nicht ihre Proletarisierung bedeuten, da ja im Proletariat selbst ein riesiges Heer chronisch Arbeitsloser entstand. Die Pauperisierung der Mittelschichten – mit Mühe durch Halstuch und Strümpfe aus Kunstseide verhüllt – fraß allen offiziellen Glauben und vor allem die Lehren vom demokratischen Parlamentarismus. Die Vielzahl der Parteien, das kalte Fieber der Wahlen, der fortwährende Wechsel der Ministerien komplizierten die soziale Krise (durch das Kaleidoskop unfruchtbarer politischer Kombinationen. In der durch Krieg, Niederlage, Reparationen, Inflation, Ruhrbesetzung, Krise, Not und Erbitterung überhitzten Atmosphäre erhob sich das Kleinbürgertum gegen alle alten Parteien, die es betrogen hatten. Die schweren Frustrationen der Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht herauskamen, ihrer studierten Söhne ohne Stellung und Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier, verlangten nach Ordnung und nach einer eisernen Hand."
"Die Pauperisierung der Mittelschichten" und das Leben " am Rande der Schwerindustrie" unter Verlust der Selbstständigkeit trieb nicht wenige verzweifelte Kleinbürger in die Arme des Hitlerismus. Nicht durch die proletarischen Massen ist Hitler aufgestiegen, sondern als Vertreter des verarmten, rasenden Kleinbürgertums mit guten Kontakten zu den Reaktionären des Adels und finanziert vom kleinen und großen Kapital. Trotzki kommentierte:
"Die Erörterungen über die Persönlichkeit Hitlers sind um so hitziger, je mehr man das Geheimnis seines Erfolges in ihm selbst sucht. Doch ist es schwer, eine andere politische Gestalt zu finden, die in einem solchen Maße Knoten unpersönlicher geschichtlicher Kräfte wäre. Nicht jeder erbitterte Kleinbürger könnte ein Hitler werden, aber ein Stückchen Hitler steckt in jedem von ihnen."
Wenn heute liberale und konservative Historiker und Feinde der Arbeiterklasse behaupten, die proletarischen Massen oder alle Deutschen hätten Hitler zur Macht verholfen, dann ist das schlicht ein Versuch, die bürgerliche Klassenbasis des Faschismus zu verschleiern und zugleich die proletarische Klasse zu dämonisieren. Die den Arbeitern aufgezwungene Unbildung wird auch noch von plumper Verteufelung ergänzt. Der verängstigte Spießbürger diskriminiert so das Proletariat auf mehrfache Weise. Unterdrückung der billigen Konkurrenz durch die Arbeiterschaft dient den Privilegien.
Wenn aus dem Spießbürgertum ein radikaler Flügel herauswächst und sich angeblich auf die Seite der Arbeiter stellt, muss diese prekäre Krisentendenz des petit bougeois bedacht werden. Er will zwar so links sein wie möglich und sich mit marxistischer Bildung die Führung über revolutionäre Arbeitermassen sichern. Aber das geschieht prinzipiell vom kleinbürgerlichen Standpunkt aus. Man soll im kommunistisch redenden Bürger keinen Proletarier sehen, denn er ist und bleibt kein Proletarier. Er bleibt ein Teil der bürgerlichen Klassen in der bürgerlichen Gesellschaft und hat entsprechende Interessen.
Wohl wahr. |
Die Verbürgerlichung des Proletariats und die Proletarisierung des Kleinbürgertums
Es gibt einerseits eine gewisse Annäherung, andererseits eine unüberbrückbare Kluft zwischen der "Mittelschicht" und der "Unterschicht" im Kapitalismus. Die kleinbürgerliche Linke versteht sich als Proletariat, um die eigene Stellung im linken Selbstverständnis auf die Ebene der revolutionären Klasse anzuheben. Zugleich haben die bewussteren Teile dieser Linken bemerkt, dass es unter ihnen allzu oft nur sehr wenige Industriearbeiter, Handwerker aus Manufakturen, Arbeiterkinder, Mitglieder bildungsferner Schichten, deklassierte und diskriminierte Migranten und von Armut zutiefst bedrückte Menschen gibt.
Natürlich gibt es mehr Arbeiterkinder mit Abitur und an den Hochschulen als je zuvor. Das ist richtig. Und das könnte auch als Verbürgerlichung der Arbeiterschaft zumindest in den Kernländern des Kapitalismus verstanden werden. In Deutschland z.B. protestieren und streiken diese verbürgerlichten Fraktionen wenig. Auch in anderen Ländern gibt es derartige Integrationstendenzen. Lenin nannte das die Schaffung einer "Arbeiteraristokratie" und deren politische Tendenz "Opportunismus". Dieser sei "Zusammenarbeit der Klassen, Verzicht auf die Diktatur des Proletariats, Verzicht auf die revolutionäre Aktion, rücksichtslose Anerkennung der bürgerlichen Legalität, Misstrauen dem Proletariat, Vertrauen der Bourgeoisie gegenüber". Arbeiter der Bourgeoisie vertrauen, haben resigniert oder wurden mit dem Bisschen an Wohlstand, der ihnen gewährt wurde, ruhig gestellt. Zufrieden sind sie damit eher selten.
Andererseits gibt es seit langem starke Proletarisierungstendenzen in der "Mittelschicht", die früher rein kleinbürgerlich war. Heute gehören ihr viele Arbeiter an. Und die petit bourgeois, die sich früher ein stabiles bürgerliches Heim, mit einer einzigen, unglücklichen Ehe, mit einem einzigen, langweiligen Job und einer festen Rente leisten konnten, leben heute zunehmend unter fast proletarischen Verhältnissen. Ihre Lage und ihr Lebensweg ist oft prekär. Ihr Verdienst ist selten beglückend. Der Unterschied zum gebildeten oder wohlsituierten Arbeiter schwindet. Die Distanz zur großen Bourgeoisie ist schmerzlich fühlbar. Ein gewisser Teil dieser prekarisierten, pauperisierten und proletarisierten Kleinbürger wurde allein schon durch diese Verschlechterungen rasend. Manche von ihnen wurden zu Rechtspopulisten und Rassisten. Andere wurden zu bürgerlichen Sozialisten mit Sympathien für die Arbeiter-"Unterschicht". Trotzdem gibt es noch eine spürbare Kluft zu letzteren.
Ein trauriges Symbol. |
Die sogenannten Wertkritiker der Gruppe "Krisis" behaupten sogar eine völlige Verbürgerlichung der Arbeiterklasse. Es gäbe demnach eine Verwandlung der Arbeiter zu einer verbürgerlichten Klasse, eine Verwandlung von Arbeitern in Bürger, eine Verschmelzung beider:
"Kommunismus und Arbeiterklasse passen nicht nur nicht zusammen, sie gehören ganz entschieden und bewußt auseinandergehalten! Das strategische Einlassen auf die positiven Sonderinteressen irgendeiner Klasse ist antikommunistisch. Mit den Interessen der Arbeiterbewegung, mit Klasse, Klassenbewußtsein und Klassenkampf ist kein Kommunismus machbar."
Das zutiefst problematischer an dieser Position ist, dass die Wertkritiker zwar einen "Abgesang auf die Marktwirtschaft" und die Arbeiterklasse jodeln, dass sie sich zugleich aber noch als Kommunisten verstehen. Es bleibt nichts anderes übrig als dass sie in der "frei schwebenden Intelligenz", d.h. in kleinbürgerlichen Intellektuellen und sonstigen Individualisten die revolutionäre Kraft sehen, die die Staatsapparate der USA, der BRD, der russischen Föderation, der VR China und so weiter zerschlagen und eine klassenlose Gesellschaft aufbauen. Vielleicht etwas vermessen? Sicher. Die Intellektuellen von "Krisis" sind ein hervorragendes Beispiel für eine kleinbürgerliche Interpretation dessen, was sie Marxismus oder Kommunismus nennen.
Tatsächlich sollte eine Verbürgerlichung der Arbeiterklasse zwar festgestellt werden. Die sozialdemokratischen Arbeiterverterter aller Länder sind durchgehend verbürgerlichte Opportunisten. Sie verkaufen die Interessen ihrer Wähler und Gewerkschaftsmitglieder routinemäßig für ein paar Almosen von mehr oder weniger sozialdemokratischen Großkapitalisten. Ähnliches gilt auch für viele kommunistische Parteien und ihre Bürokratien. Sie sind vielleicht keine großen Freunde des Großkapitals, aber sie sind von ihrer sozialen Zusammensetzung und Massenbasis verbürgerlicht. Proletarische Arbeiterparteien mit sozialistischer Zielsetzung sind selten und schwach geworden.
Dennoch sollte man die Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung nicht mit einer völligen Verbürgerlichung der Arbeiterklasse verwechseln. Leo Kofler erklärt:
"Spricht man, wie oft zu hören, von der Verbürgerlichung der heutigen Arbeiter, so steckt zumeist die Verwechslung mit der fortschreitenden Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung dahinter; wobei die Tatsache zur täuschenden Beurteilung beiträgt, daß tatsächlich im unvermeidlichen Anpassungsprozeß an verschiedene Lebensformen der heutigen Gesellschaft gewisse äußerliche Züge der Verbürgerlichung den Habitus des Arbeiters mitformen." Und: "Bei der Einschätzung der Mentalität des Arbeiters wird diese oft mit der Mentalität der Arbeiterbewegung verwechselt. Beide sind keinesfalls identisch."
Noch immer identifiziert die kleinbürgerliche Linke ihre eigene Bewegung und Bürokratie mit der Lage des Arbeiters. Tatsächlich hat der Arbeiter mit deren bürgerlichem Utopismus und ihren Bürokratien nicht viel am Hut. Oft kümmert er sich kaum noch um Politik, weil sie heute fast völlig von Kleinbürgern beherrscht wird... Nach vielen Niederlagen der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert nahmen immer mehr Resignation und Hoffnungslosigkeit der Arbeiter gegenüber ihren Organisationen überhand. Kofler bemerkt auch dazu:
"Das Ergebnis war die Bürokratisierung der Arbeiterbewegung. An die Stelle der Bewußtseinsbildung trat der Praktizismus, an die Stelle der Theorie, die zu befragen war, die Bürokratie, die ungefragt entschied. [...] Auf dieser Basis wird selbst jenes Maß an Bildung überflüssig, das früher unabdingbare Voraussetzung der Gefolgschaft der Arbeiter gewesen ist. [...] Und da aus dem kollektiven, objektivistischen Bewußtsein der Arbeiter heraus Bildung nur Sinn gewinnt, wenn sie praktisch relevant wird, so lehnt er auch aus diesem zusätzlichen Grunde der Bedeutungslosigkeit der Bildung in den bürokratischen Organisationen sie ab."
Dieser Zustand muss einen nicht wundern. Anarchistische Illusionen kommen nicht nur bei den Mittelklassen, sondern gerade auch bei enttäuschten und hoffnungslosen Arbeitern vor, als "eine Art Strafe für die opportunistischen Sünden der Arbeiterbewegung. Beide Auswüchse ergänzten einander", um Lenin zu zitieren. Denn die "wirtschaftlich mächtige Großbourgeoisie stellt an sich eine verschwindende Minderheit der Nation dar. Um ihre Herrschaft zu befestigen, muss sie bestimmte Beziehungen zum Kleinbürgertum sichern und – durch dessen Vermittlung – mit dem Proletariat", so Trotzki. Und weiter:
"Aber die Wechselbeziehungen zwischen der Bourgeoisie und ihrer grundlegenden sozialen Stütze, dem Kleinbürgertum, beruhen keineswegs auf gegenseitigem Vertrauen und friedlicher Zusammenarbeit. In seiner Masse ist das Kleinbürgertum eine ausgebeutete und benachteiligte Klasse. Es steht der Großbourgeoisie mit Neid und oft mit Hass gegenüber. Die Bourgeoisie ihrerseits misstraut dem Kleinbürgertum, während sie sich seiner Unterstützung bedient, denn sie fürchtet ganz zu Recht, es sei stets geneigt, die ihm von oben gesetzten Schranken zu überschreiten. [...] Die Bourgeoisie hatte tödliche Furcht vor dem allgemeinen Wahlrecht. Letzten Endes aber gelang es ihr, sich durch eine Kombination von Gewaltmaßnahmen und Zugeständnissen, von Hungerpeitsche und Reformen, im Rahmen der formalen Demokratie nicht nur das alte Kleinbürgertum unterzuordnen, sondern in bedeutendem Maße auch das Proletariat, mit Hilfe des neuen Kleinbürgertums – der Arbeiterbürokratie.
Die Arbeiterbürokratie ist in der Tat nur zu oft eine verbürgerlichte Fraktion der Arbeiterklasse gewesen. Mittlerweile ist diese Bürokratie noch viel bürgerlicher und opportunistischer geworden als jemals zuvor. Die sozialdemokratischen und pseudosozialistischen Bürokratien haben mit proletarischem Sozialismus überhaupt gar nichts zu tun. Deswegen gibt es praktisch keine Arbeiter in ihren Reihen. Und solche Arbeiterkinder, die doch in solche Organisationen finden, werden selbstverständlich auf ihren untergeordneten Platz in der bürgerlichen Bürokratie verwiesen, was auch noch verleugnet wird. Bürokratie und Kleinbürgertum werden ja als Teil der neuen Arbeiterklasse begriffen. Ein proletarischer Sozialist und noch mehr eine proletarische Sozialistin, am besten mit migrantischem Hintergrund, hat in solchen Gruppen daher alle Entscheidungen von oben abzunicken oder zu schweigen. Von proletarischer Hegemonie kann da natürlich nicht die geringste Rede sein. Das ganze utopische Geschwätz darüber ist schlicht intellektuelle Masturbation. Selbst die arbeiternahen Fraktionen des linken Bürgertums haben enorme Probleme, diese Diskriminierung nicht zu stützen. Genau so funktioniert eine Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung und die Herrschaft der Großbourgeoisie mit Hilfe des Kleinbürgertums. Ganz genau so. Und so lange sich das nicht ändert, wird der Kapitalismus weiterhin Bestand haben...
Lektürehinweise
Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, F.a.M 1987.
Leo Kofler: Zur Theorie der modernen Literatur. Der Avantgardismus in soziologischer Sicht, Düsseldorf 1974.
Leo Kofler: Soziologie des Ideologischen, Stuttgart 1975.
Michael Schäfer: Geschichte des Bürgertums, Köln 2009.
Werner Seppmann: Die verleugnete Klasse. Zur Arbeiterklasse heute, Berlin 2011.
http://archiv2.randzone-online.de/mewerke/meonline/me120.htm
http://www.krisis.org/1997/kommunismus-oder-klassenkampf
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1932/09/02-bourg.htm
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1920/linksrad/kap04.html
http://www.marx-engels-stiftung.de/arbeiteraristokratie.html
Montag, 21. Juli 2014
Samstag, 12. Juli 2014
KenFM im Gespräch mit Evelyn Hecht-Galinski über: GAZA 2014
KenFM im Gespräch mit Evelyn Hecht-Galinski über: GAZA 2014.
Montag, 23. Juni 2014
Sonntag, 22. Juni 2014
Wiktor Schapinow: Klassenanalyse der ukrainischen Krise
Der folgende Artikel des Sozialisten Wiktor Schapinow behandelt die sozialen Ursachen des Bürgerkrieges in der heutigen Ukraine. Schapinow hat damit einen bemerkenswerten Beitrag zur Erklärung des Ukraine-Konflikts abgeliefert.
Der Originaltext ist auf folgenden Seiten abrufbar:
Ein vielfach gespaltenes Land |
- http://liva.com.ua/class-analysis-ukraine.html
- http://www.borotba.org/klassovyj_analiz_ukrainskogo_krizisa.html
- http://alexithymian.blogspot.de/2014/06/blog-post.html
Schapinow führt auch einen eigenen Blog, der beachtenswert ist:
Die "Klassenanalyse der ukrainischen Krise" von W. Schapinow wurde auf www.alexithymian.blogspot.de erstmalig in deutscher Sprache veröffentlicht.
Klassenanalyse der ukrainischen Krise
Die klassenmäßig-sozialen Ursachen der ukrainischen Krise sind schlecht erforscht. Hauptsächlich konzentriert man sich auf die politische Seite der Ereignisse, wobei ihre sozial-ökonomische Grundlage aus den Augen gelassen wird. Welche Klassenkräfte standen hinter dem Sturz des Janukowitsch-Regimes, der Installation der neuen Machthaber in Kiew und dem Auftreten der Anti-Maidan-Bewegung und der Bewegung des Südostens?
Die Krise des ukrainischen Kapitalismus
Die ukrainische Krise ist keine Ausnahmeerscheinung eines Landes. Die Ukraine hat sich aus mehreren Gründen als das "schwächste Glied" erwiesen und wurde zum ersten Opfer des Zerfalls eines ökonomischen Modells, dessen Mechanismus für wirtschaftliches Wachstum auf der Dominanz des Dollars als der Weltleitwährung und auf dem Kredit als Anreiz für Verbraucherkonsum basiert.1 Die Ukraine war eine der am stärksten betroffenen Ökonomien im Verlauf der globalen Krise. Das führte dazu, dass es zu einer Spaltung der herrschenden Klasse und zu verschärftem politischem Kampf kam, dessen Zeugen wir nun schon seit Monaten sind.
Die Ökonomie des ukrainischen Kapitalismus resultierte aus dem Zerfall des Volkseigentums der UdSSR, der Privatisierung öffentlicher Güter und der Integration in den Weltmarkt. Diese Prozesse trugen zur Unterminierung der ökonomischen Struktur der UdSSR bei, die weltweit in der ökonomischen Entwicklung Platz zehn belegte und über ein komplexes Volkseigentum verfügte, für das Maschinenbau und Produktion mit hohem Verarbeitungsgrad eine große Rolle spielten.
Die Integration in den Weltmarkt machte eine High-Tech-Industrie möglich. "Wenn die Ökonomie der UdSSR sich an der Befriedigung der Produktion und individuellen Konsumtion des Landes orientierte und sich mehr oder weniger vielschichtig in alle Richtungen entwickelt hat, so wird die kapitalistische Ökonomie der Ukraine gemäß den Bedürfnissen der globalen Arbeitsteilung 'formatiert'. Diesem Prozess zum Opfer gefallen sind vor allem forschungsintensive Branchen: Maschinen-, Werkzeug- und Gerätebau, Leichtindustrie, Elektrotechnik, Turbinenbau, Flugzeug- und Fahrzeugbau."2
Mit der Zerstörung der Leichtindustrie nahmen die Industrien mit niedrigem Verarbeitungsgrad und der Rohstoffsektor mit Exportorientierung katastrophale Ausmaße an. Die Eigentümerschaft der Unternehmen dieses Sektors bestand aus einer Oligarchenschicht, die einen Großteil der Wirtschaft des Landes fast während der gesamten Periode der "Unabhängigkeit" kontrollierte. Diese Schicht, die sich am Export von Rohstoffen orientierte, beutete die von der UdSSR ererbten Produktionskapazitäten unbarmherzig aus. Die ukrainische Oligarchie hatte aufgrund ihrer ökonomischen Lage nicht bloß kein Interesse an einer Entwicklung des Binnenmarktes, sondern hat sogar häufig auf räuberische Weise die eigenen Produktionsvermögen verscherbelt, indem sie lieber Investitionen in Offshoring getätigt hat als in die Entwicklung der Produktion. Insgesamt flossen 164 Milliarden Dollar aus der Ukraine in Offshores.3
Das Modell der peripheren Exportwirtschaft hatte zunächst einen selbstmörderischen Charakter und nährte sich von der Aufzehrung des sowjetischen Erbes. Die Eisenverhüttung, die die "Lokomotive" der peripheren Wirtschaft der Ukraine war und 40-50% des Exports ausmachte, "wies noch bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise augenfällige strukturelle Mängel auf - veraltete Technologien, massive Arbeitskraftverschwendung (auf die Produktion einer Tonne Stahl kamen in der Ukraine 52,8 Menschen in der Stunde, während es in Russland 38,1 und in Deutschland 16,8 waren), hoher Energieverbrauch und Abhängigkeit ausländischer Energielieferanten (hauptsächlich Russland). Solange die Preise für die Exporte hoch waren, waren diese Mängel nicht von großer Bedeutung, aber bei einer Verschlechterung der Konjunktur wurden sie zu einer ernsthaften Gefahr.
Andere wettbewerbsfähige Sektoren der ukrainischen Wirtschaft - die Agrarwirtschaft (im Bereich des industrieller Kulturen), die Chemiewirtschaft (hauptsächlich die Herstellung von Düngemitteln), Bergbau (Erz und Kohle) - hatten im Grunde den Charakter von Rohstoffindustrien und waren auf Export ausgerichtet.
Die restlichen Industriebranchen (mit Ausnahme der Nahrungsmittelproduktion), haben sich aufgrund des kleinen Binnenmarktes nur insoweit entwickelt wie sie dem exportorientierten Sektor dienten. In der Regel gab es in diesen Wirtschaftssegmenten eher niedrige Löhne und Profite".4
Mit der Unterminierung der heimischen Produktion außerhalb des Export- und Rohstoffsektors wuchs die Abhängigkeit vom Import. Ein Anteil der Waren aus der heimischen Produktion an der Handelsbilanz sank ständig, während der Anteil des Imports entsprechend anstieg. Seit Mitte der 2000er Jahre übersteigt der Import ständig den Export.5 Diese Differenz wurde mit einem Anwachsen der Auslandsverschuldung kompensiert, sowohl staatlicherseits wie auch unternehmerischerseits.6
Im Rahmen der globalen Krise, die 2008 begann, ist es zu einer Tendenz fallender Nachfrage nach ukrainischem Export und steigender Preise für Importe sowie wachsender Abhängigkeit von den Importen gekommen.
Die Krise und die Spaltung in der herrschenden Klasse. "Die Partei der Milliardäre und "die Partei der Millionäre"
Die Zuspitzung der Krise hat einen ernsthaften Zwist innerhalb der herrschenden Klasse heraufbeschworen. Ihre Führungsspitze - ein Dutzend Milliardäre - war schon für eine Integration in die Weltelite bereit und suchte nach Wegen, um das eigene Kapital im Westen "anzumelden". Sie hatten genug Kapitalvolumen akkumuliert, um es auf effektive Weise für finanzielle und industrielle Anlagen im Westen zu nutzen, als gerade die Systemkrise unseres Landes dem heimischen Großkapital nicht gerade entgegen kam.
Zum Mittel der Legalisierung dieses Prozesses wurde die sogenannte "Europäische Integration", womit im Austausch für eine Aufhebung des Binnenmarktprotektionismus und seine faktische "Aufgabe" an Global Players die ukrainischen Milliardäre die Anerkennung Europas erhielten. Dass der Preis dafür die Zerstörung einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen und eine neue Runde der Deindustrialisierung sein würde, mit einem unvermeidlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit und anderen sozialen Nebenfolgen, kümmerte die Führungsspitze der herrschenden Klasse nicht weiter.7
Die mittleren und unteren Schichten der Oligarchie, die in der Ukraine noch immer ein Plätzchen für Geschäfte gesehen und nicht genügend Kapital für eine Integration in die Weltelite besessen haben, leisteten diesem Prozess allerdings halbherzig Widerstand. Sie hatten noch nicht alle Möglichkeiten des "unabhängigen" ukrainischen Staates für einen Aufstieg in die "höhere Liga" der Milliardäre ausgenutzt, sodass sie nicht auf eine vollständige Auslieferung des Binnenmarktes an die europäischen "Partner" ausgerichtet waren.8
Die Führung des Landes in der Person Janukowitschs lavierte lange Zeit zwischen der "Partei der Milliardäre" und der "Partei der Millionäre". Sie bemühte sich, einen Weg zur "europäischen Integration" zu finden, der beiden Seiten genügen würde. Das Resultat war, dass Janukowitsch sich genötigt sah, im Dezember 2013 die geplante Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens in Wilnius zu verweigern, da es die ökonomischen Interessen eines beträchtlichen Teils der Bourgeoisie gefährdet und katastrophale soziale Nebenfolgen bedeutet hätte. Die Notwendigkeit "integrativer" Prozesse war auch darin begründet, dass es einen Bedarf an Krediten gab, deren Quelle entweder der Internationale Währungsfonds (IWF) oder die Russländische Föderation sein konnte. Im Gegensatz zum IWF forderte Russland als Bedingung für Kredite keine antisozialen Reformen, was Wiktor Janukowitsch dann auch dazu veranlasste, die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens und die Freihandelszone mit der EU abzulehnen.
Die Antwort der "Partei der Milliardäre", die auf die europäische Integration gesetzt hatte, war der Euro-Maidan.
Hintermänner, Kern und soziale Basis des Euro-Maidan
In der Anfangsetappe des Euro-Maidan blieb die Teilnahme der Volksmassen minimal. In den ersten Tagen waren im Wesentlichen Mitarbeiter und Aktivisten pro-westlicher NGOs und neonazistische Gruppen (im Umfeld der "Swoboda"-Partei und des dann formierten Rechten Sektors) zugegen. Eine echte Massenbasis gewann der Euro-Maidan erst, nachdem er in der Nacht vom 30. November auseinandergetrieben wurde. Diese Attacke wurde live auf allen Sendern der Oligarchen ausgestrahlt. Seitdem wurden in den Nachrichten ständig Bilder von zusammengeschlagenen Menschen, blutenden Köpfen und so weiter wiederholt. Es kam zu einer infomationellen "Abrichtung" der Gesellschaft. Ständig brachen irgendwelche Infos durch, die die Bürger zur Teilnahme an den Protesten bewegen sollten. Zum Beispiel kam die Nachricht einer angeblich von der Polizei im Verlauf der Attacke vom 30. November getöteten Studentin. Wie sich später herausstellte, ruhte sich die Studentin nur einige Tage in Gesellschaft ihrer nationalistischen Freunde aus und hatte die Familie bloß nicht kontaktiert. Solche informationellen Provokationen kamen wiederholt durch und jedes Mal wurden sie von den Massenmedien der Oligarchen aufgeschnappt.
Um die Massen der Kiewer um die sonntäglichen "Wetsche"-Versammlungen zu mobilisieren, wurden nicht nur Fernsehkanäle genutzt, die von Oligarchen kontrolliert werden. Es wurde eine breite und kostspielige Propaganda eingesetzt, einschließlich der Verbreitung von Flugblättern mit einer Einladung zum Maidan an alle (!) Briefkästen der Vier-Millionen-Stadt Kiew.
Zur führenden Kraft, die ständig anwesend war und an den gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften teilnahm, wurden auf dem Maidan neonazistische Kämpfer (hauptsächlich aus den Reihen von Fußballfans) und Menschen ohne einen bestimmten Beruf, die aus den westlichen und zentralukrainischen Teilen des Landes kamen. Diese Leute lebten im Verlauf mehrerer Monate auf dem Maidan, wo man ihnen kostenlos Nahrung und Geldspenden gewährte. All das zeugt von der gut organisierten Finanzierung des Maidan von Anfang an seitens der ukrainischen Oligarchie. Diese Finanzierung lief ebenso über drei parlamentarische Parteien aus dem Block der Opposition wie auch über NGOs und sogar direkt über paramilitärische Gruppen aus dem neonazistischen Lager.
Noch im Dezember war die nationalistische Ausrichtung des Maidan deutlich wahrnehmbar. Der Zusammenschluss "Borotba" merkte damals in einer Verlautbarung an:
"Es war ein zweifellos ein Erfolg der Nationalisten, dass es ihnen dank großer Aktivität gelungen ist, dem Maidan ihre ideologische Führung aufzudrücken. Davon zeugen die Losungen, die zu eigentümlichen "Parolen" für die Zusammenrottung der Massen und Aktivisten auf dem Maidan wurden: So z.B. "Heil der Ukraine - Heil den Helden!", das zusammen mit dem gehobenen rechtem Arm und ausgestreckter Hand der Parteigruß der Organisation der ukrainischen Nationalisten vom April 1941 war. So auch "Heil der Nation - Tod den Feinden!", "Ukraine über alles!" (wie mit dem wohlbekannten deutschen "Deutschland über alles!") und "Wer nicht hüpft, der ist ein Russ." Bei den anderen oppositionellen Parteien gab es schlicht keine eindeutige ideologische Linie und kein Inventar an Losungen, sodass der liberale Teil der Opposition die nationalistischen Losungen und die nationalistischen Order übernahm. (...) Der schwerfällige Versuch des liberalen Protestflügels, sich von der nationalistischen Führung frei zu machen, z.B. indem der Ausruf "Tod den Feinden" durch etwas politisch Korrekteres ersetzt wurde, ist größtenteils gescheitert. Das geschah nicht nur deswegen, weil nur die nationalistischen Organisationen Vorstellungen von einer angespannten und aktiven Massenbewegung haben, und weil die liberale Mehrheit des Protests keinerlei klare Handlungsanweisungen vorschlug. In dieser Situation gewannen die Nationalisten als die aktiveren und radikaleren Demonstranten das Image einer "Avantgarde" der ganzen Bewegung."9
Zum Ausdruck der Dominanz der Ultrarechten wurde auch die Zerstörung des Denkmals zu Ehren W. I. Lenins auf dem Bessarabischen Platz durch Aktivisten des Euro-Maidan. Dieser barbarische Akt wurde vom liberalen Flügel des Maidan nicht verurteilt und abgebrochene Stücke des Denkmals wurden von einer jubelnden Menge des Maidan vorgeführt.10
Die antilinke und antikommunistische Ausrichtung des Maidan äußerte sich in der Gewalt gegen Aktivisten der "Borotba", den Lewin-Brüdern, die unweit des Maidan einen gewerkschaftlichen Streikposten betreuten. Vom Maidan aus rief man dazu auf, sich um sie zu kümmern, da sie angeblich unter einer roten Fahne standen.11 Die Abrechnung mit ihnen leitete der Abgeordnete der "Swoboda" Miroschitschenko.
Im Januar war der ideologische und politische Gehalt des Maidan für jeden unvoreingenommenen Betrachter offensichtlich.12 Schon damals haben wir das Geschehen charakterisiert als "liberal-nationalistische Revolte mit stark bemerkbarem Anteil offen nazistischer Elemente des 'Rechten Sektors'".13
Auf diese Weise bildeten neonazistische Schläger und Aktivisten oppositioneller politischer Parteien den Kern des Euro-Maidan. Wer bildete nun die äußere Schicht des Euro-Maidan? Wer waren die tausenden von Menschen, die die Bewegung unterstützten?
Die Hälfte der Versammlungsteilnehmern bestand aus entsendeten Aktivisten der verschiedenen Regionen. Eine Umfrage ergab, dass 50% aus Kiewern und 50% aus Zugereisten aus anderen Regionen bestanden. Unter den Zugereisten waren 52% aus der Westukraine, 31% aus der Zentralukraine und nur 17% aus dem Südosten des Landes.14 Unter denen, die sich ständig auf dem Maidan befanden, gab es mit 17% unverhältnismäßig viele Unternehmer und mit 16% unverhältnismäßig wenige Russischsprachige (in der Gesamtgesellschaft etwa 40-50%).15 Ein eindeutiges Bild über die soziale "Physiognomie" des Maidan liefert die Tatsache, dass sich unter den Toten der "Himmlischen Hundertschaft" kein einziger Arbeiter befand.16
So ist also der Euro-Maidan eine Bewegung, die von den höchsten Oligarchen initiiert und kontrolliert wird, deren soziale Wurzel Rechtsradikale und in geringerem Maße pro-westliche Liberale sind, und deren soziale Basis die Kleinbourgeoisie und deklassierte Elemente sind.
Im Gegensatz dazu ist der Widerstand im Südosten eher von proletarischer Zusammensetzung wie von unabhängigen Beobachtern vermerkt wurde. Auch nicht zufällig ist, dass sich der Widerstand gegen die Junta der Oligarchen und Nazis, die im Gefolge des Maidan an die Macht kamen, vor allem in den am meisten industrialisierten Regionen mit einer vorwiegend aus der Arbeiterklasse stammenden Bevölkerung formiert hat.
Wiktor Schapinow
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1 Vgl. unsere Analyse im Bericht "Weltweite Krise und der ukrainische periphere Kapitalismus", der noch vor dem Maidan verfasst wurde: http://liva.com.ua/crisis-report.html
2 Wiktor Schapinow. Die neoliberale Sackgasse für die Ukraine: http://liva.com.ua/dead-end.html
3 90% der Direktinvestitionen aus der Ukraine gehen nach Zypern. Von dort stammen auch 80-90% der Direktinvestitionen in die Ukraine, die im Grunde keine "ausländischen Investitionen" sind, sondern einfach Rückführungen sind, die der Ukraine entstammen. In den 2000er Jahren wurde zypriotisches Offshoring zur bequemen Möglichkeit der Steuerflucht für ukrainische Oligarchen. So betrug die Summe der ausländischen Investitionen im Jahr 2012 etwa 6 Milliarden Dollar, während in der selben Zeit individuelle Geldüberweisungen (hauptsächlich Überweisungen durch Gastarbeiter an ihre Familien) 7,5 Milliarden betrugen. Also haben Lohnarbeiter mehr in die Wirtschaft des Landes investiert als die Bourgeoisie (vgl. z.B.: http://dt.ua/ECONOMICS/suma-groshovih-perekaziv-zarobitchan-vpershe-perevischila-obsyag-inozemnih-investiciy-119740_.html).
4 Wiktor Schapinow. Die neoliberale Sackgasse für die Ukraine: http://liva.com.ua/dead-end.html
5 Ebenda.
6 Die Dynamik der ukrainischen Zahlungsbilanz:
1999: +1.658 $ Mrd.
2000: +1.481 $ Mrd.
2001: +1.402 $ Mrd.
2002: +3.173 $ Mrd.
2003: +2.891 $ Mrd.
2004: +6.909 $ Mrd.
2005: +2.531 $ Mrd.
2006: -1.617 $ Mrd.
2007: -5.272 $ Mrd.
2008: -12.763 $ Mrd.
2009: -1.732 $ Mrd.
2010: -3.018 $ Mrd.
2011: -10.245 $ Mrd.
2012: -14.761 $ Mrd.
1. Halbjahr 2013: -3.742 $ Mrd.
Dynamik der Bruttoschulden der Ukraine beim Ausland (staatliche und private in der Summe):
01.01.2004: 23.811 $ Mrd.
01.01.2005: 30.647 $ Mrd.
01.01.2006: 38.633 $ Mrd.
01.01.2007: 54.512 $ Mrd.
01.01.2008: 82.663 $ Mrd.
01.01.2009: 101.654 $ Mrd.
01.01.2010: 103.396 $ Mrd.
01.01.2011: 117.345 $ Mrd.
01.01.2012: 126.236 $ Mrd.
01.01.2013: 135.065 $ Mrd.
01.04.2013: 136.277 $ Mrd.
7 Über die Folgen der europäischen Integration vgl. den Bericht "Weltweite Krise und der ukrainische periphere Kapitalismus", der noch vor dem Maidan verfasst wurde: http://liva.com.ua/crisis-report.html
8 http://glagol.in.ua/2014/01/23/dmitriy-vyidrin-evromaydan-bunt-milliarderov-protiv-millionerov/#ixzz2yHYP6PXR
9 Sergej Kiritschuk: Die aktive Teilnahme der Nationalisten: http://borotba.org/sergei-kirichuk-uchastie-nacionalistov-factor-padeniya-populyarnosti-maidana.html
10 Vgl. http://borotba.org/oni-mogut-unichtojit-pamyatnik-no-ne-ideyu.html. Der Abgeordnete der ultrarechten Partei "Swoboda" Andrej Iljenko demonstrierte dort bei dieser Gelegenheit. http://podrobnosti.ua/society/2013/12/08/946901.html?cid=5408279.
11 Vgl. http://borotba.org/napadenie-nacistov-na-levyh.html, http://revizor.ua/news/evromaidan/20131210_levin und http://jungle-world.com/artikel/2014/02/49128.html
12 Vgl. z.B., die Publikation des einflussreichen Journals The Nation: "The Ukrainian Nationalism at the Heart of 'Euromaidan'". http://www.thenation.com/article/178013/ukrainian-nationalism-heart-euromaidan#, russische Übersetzung: http://borotba.org/nacionalizm-yadro-evromaidana.html
13 http://borotba.org/noviy-etap-politicheskogo-protivistoyania.html
14 Umfrage des Fonds "Demokratische Initiativen" vom 6 Februar: http://www.dif.org.ua/ua/polls/2014_polls/vid-maidanu-taboru-do-maidan.htm
15 Ebenda.
16 "Es gibt noch eine Besonderheit bei der Liste der Gestorbenen: Unter den Gestorbenen gibt es fast keine Vertreter der Arbeiterklasse, die in den großen Unternehmen arbeiteten. (…) Der Umstand, dass an der Spitze der revolutionären Gewalt auf dem Euro-Maidan Sub-Proletarier standen, Vertreter der Intelligenzija ("der kreativen Klasse") und sich ihnen angeschlossen Provinzler aus dem Inland, verdeutlicht den prinzipiellen Unterschied der Sozialstrukturen des Westens und Ostens der Ukraine, der die mentale Spaltung zwischen den zwei Teilen des Landes überlagert." http://kavpolit.com/articles/litso_pogibshego_majdana-1526/
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