Sonntag, 8. Juni 2014

ZEIT-Forum mit Schmidt und Schäuble

Helmut Schmidt sagte unter anderem, Europa befinde sich am "Vorabend einer Revolution". Und wenn Schmidt das sagt, dann müssen alle mit weit aufgerissenen Kopfhöhlen schweigen und aufmerksam sein...



Klassenherrschaft bei Pierre Bourdieu (Serie: Klasse-is-muss, Teil 3)

"Klassenherrschaft" ist laut dem Philosophen und Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) ein Ding feiner Unterschiede. Über diese Idee geht es im Folgenden. Teil 2 der lange zuvor angekündigten Serie "Klasse-is-muss".

Marx und Bourdieu


Ein Vergleich von Bourdieus Klassentheorie mit der Marxschen ist sinnvoll. Denn beide Theoretiker stellen Meilensteine der Gesellschaftsforschung dar. Bourdieus Klassentheorie ist der Marxschen in einigen Punkten überlegen und in anderen unterlegen.

Pierre Bourdieu
Anders als bei Marx ist bei Bourdieu Klassenherrschaft nicht vor allem eine Frage der Ausbeutung und Unterdrückung der unteren Klassen durch die oberen, sondern vor allem eine Sache der Distanzierung und Unterscheidung zwischen den Klassen.  Bei Bourdieu werden Klassen weniger wie bei Marx anhand ihres Verhältnisses zu den gesellschaftlichen Produktionsmitteln bestimmt, sondern anhand der Verteilung dessen, was er "Kapital" nennt. Auch interessieren Bourdieu die großen geschichtsphilosophischen Ideen des Marxismus weniger als die kleinen, feinen Unterschiede im alltäglichen Verhalten der Menschen.

Obwohl man Bourdieu nun von links scharf kritisieren könnte für Verharmlosung des Klassenkampfes von oben, sollte er gerade Linken, Kommunisten, Marxisten geläufig sein. Denn sein Konzept ist nicht zu unterschätzen.

Das "Kapital" bei Bourdieu


Bourdieus Kapital- und Klassentheorie ist nicht marxistisch, beruht aber auf der marxistischen Theorie. Bourdieu verwirft die marxistischen Ideen nicht einfach, sondern fügt sie in seine eigene Kulturtheorie ein. Damit verändern sie aber auch ihre Bedeutung. Bourdieu revidiert und assimiliert damit zentrale marxistische Ideen. Das ist der große Nachteil und zugleich ein Vorzug seiner Klassentheorie.

"Kapital" und "Klasse" sind bei Bourdieu sehr weit gefasst. Bourdieu zufolge hat wirklich jeder Mensch nicht nur eine Klassenstellung, sondern auch Kapital. Er ist daher auch kein antikapitalistischer Theoretiker, denn mit seiner Theorie ist eine klassenlose, nicht-kapitalistische Gesellschaft im Grunde nicht denkbar. Ihm zufolge haben alle Gesellschaften immer Klassen und Kapital. Damit ist Bourdieu mit seiner Theorie näher beim großbürgerlichen Soziologen Max Weber als beim kleinbürgerlichen Sozialisten Marx. Aber was versteht Bourdieu genau unter "Kapital"? Peter Zimmermann fasst es so zusammen:

Ökonomisches Kapital besteht schlicht und einfach in materieller Form, sei es Grundbesitz, Geld u.ä. und ist institutionalisiert in der Form des Eigentumsrechts. Ein erster Unterscheidungspunkt zwischen den verschiedenen Sozialschichten ist der Besitz und die Menge des ökonomischen Kapitals. Die Soziallage eines Menschen ist aber nicht nur hiervon abhängig

Ein zweite und für Bourdieu sehr wichtige Unterscheibarkeit liegt in dem Anteil von kulturellem Kapital. Dieses eignen wir uns mit Kultur an; wir "bilden uns" und arbeiten dabei gleichzeitig an uns selbst. Deshalb ist kulturelles Kapital auch immer mit der Person in ihrer biologischen Einzigartigkeit verbunden. Die Möglichkeiten zum Erwerb kulturellen Kapitals werden von der Familie bestimmt. Gibt diese ihren Kindern Raum und freie, von ökonomischen Zwängen befreite Zeit, dann häufen diese Kinder mehr kulturelles Kapital an als andere, denen nicht diese Gelegenheit gegeben wird. Hiermit erklärt Bourdieu die Ungleichheit der schulischen Leistungen von Kindern aus verschiedenen Sozialschichten. Die Kinder aus oberen Sozialschichten mit einem guten Polster aus kulturellem Kapital haben mehr Möglichkeiten, gute Schulabschlüsse zu erwerben als die Kinder aus unteren Sozialschichten. Besitz von kulturellem Kapital vergrößert die "Gewinnchancen", um im Leben ganz vorn und auf der Erfolgsleiter ganz oben zu stehen.

Sozialschichtabhängige Unterschiede des Habitus zeigen sich zusätzlich im Umfang und Ausmaß des sozialen Kapitals. Dieses besteht aus Ressourcen, die sich aus dem Beziehungsnetz eines Menschen ergeben. Soziales Kapital kann sehr schnell in "Mark und Pfennig" eingetauscht werden, wenn beispielsweise Beziehungen zu einer Berufskarriere oder wenn geschäftliche Kontakte zu guten Vertragsabschlüssen führen. Für eine reiche Ausbeute ist aber eine Kompetenz erforderlich: Die Herrstellung und Nutzung von Sozialkapital bedarf der unaufhörlichen Beziehungsarbeit.

"Kapital" ist bei Bourdieu im Grunde also eine Ansammlung von Fähigkeiten, Eigenschaften, sozialen Beziehungen und materiellem Besitz. Entsprechend gab es in diesem Sinne also schon immer "Kapital". Und entsprechend müsste es immer "Kapital" geben, solange es Menschen gibt. Denn jeder Mensch hat in diesem Sinne materiellen Besitz oder Fähigkeiten und Eigenschaften, die ihn von seinen Artgenossen scheiden oder einen. Der Kapitalbegriff von Bourdieu ist damit äußerst unscharf und schwammig.

Außerdem sind die Formen des "Kapitals" nach Bourdieu beliebig erweiterbar. Wieso wird nur zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital unterschieden? Wieso nicht auch zwischen symbolischem, geistigem, gesundheitlichem, rhetorischem, studentisch-gehetztem oder heuchlerischem Kapital? Bourdieu kann diese Frage nicht beantworten. Er selbst erweitert gelegentlich seine drei Formen von Kapital mit "Bildungskapital" oder ähnlichen Begriffen. Die Liste ist willkürlich. Bourdieus Kapitalbegriff ist willkürlich.

Auch das "ökonomische Kapital" ist bei Bourdieu ein ganz anderer Begriff als das Kapital nach Marx. Für Marx ist Kapital eine gesellschaftliche Beziehung, die die konkrete Stellung der Menschen und Klassen in der Gesellschaft abstrakt ausdrückt. Bei Marx ist das Kapital eine Form der zwischenmenschlichen Beziehung, die sich scheinbar verselbstständigt in Form von Ware, Geld, Lohn, Profit, Zins etc. und sowohl das Sein wie das Bewusstsein der Menschen prägt. Marx spricht hierbei von "Entfremdung" und "Fetisch", da das Kapital wie eine unheimliche, übermächtige, "fremde" Macht die Geschicke der Menschen zu bestimmen scheint. Das Kapital, das eigentlich nur soziale Beziehungen ausdrückt, wird im Bewusstsein der Menschen zum religiösen "Fetisch", wenn das Kapital nicht als Beziehung zwischen Menschen begriffen wird. In Wirklichkeit sind die kapitalistischen Kategorien wie Ware und Geld bloß zwischenmenschliche Verhältnisse, die im Kapitalismus zu festgefahrenen gesellschaftlichen Verhältnissen werden. Marx selbst schreibt:

Es ist ein bürgerliches Produktionsverhältnis, ein Produktionsverhältnis der bürgerlichen Gesellschaft. … Das Kapital besteht nicht nur aus Lebensmitteln, Arbeitsinstrumenten und Rohstoffen, nicht nur aus materiellen Produkten; es besteht ebensosehr aus Tauschwerten. Alle Produkte, woraus es besteht, sind Waren. Das Kapital ist also nicht nur eine Summe von materiellen Produkten, es ist eine Summe von Waren, von Tauschwerten, von gesellschaftlichen Größen.

Man sieht, dass Bourdieus Kapitaltheorie und Marxens Kapitaltheorie ganz verschieden sind. Bourdieus "ökonomisches Kapital" besteht also "schlicht und einfach in materieller Form, sei es Grundbesitz, Geld u.ä. und ist institutionalisiert in der Form des Eigentumsrechts", während das kapitalistische "Kapital" bei Marx "nicht nur aus Lebensmitteln, Arbeitsinstrumenten und Rohstoffen, nicht nur aus materiellen Produkten" besteht, sondern "ebensosehr aus Tauschwerten" und "Waren".

Bourdieu mischt seinen kulturwissenschaftlichen, postmodernen Ansatz mit der bürgerlichen Ökonomie, sodass seine Ideen insgesamt eine bürgerlich-ökonomistische Gesellschaftstheorie ergeben, die nicht über die Kapitalismus und Klassengesellschaft hinausweisen. Marx hingegen kritisiert die bürgerlichen Ökonomisten mit seiner historischen und dialektischen Gesellschaftstheorie und ermöglicht damit Perspektiven der Überwindung von Kapitalismus und Klassengesellschaft. Der Unterschied könnte größer nicht sein. Das äußert sich auch in den verschiedenen Begriffen von "Klasse" bei Bourdieu und Marx.

Die "Klasse" bei Bourdieu


Wie bei Weber und Marx ist bei Bourdieu die Klasse eine Ansammlung ähnlicher Eigenschaften verschiedener Menschen im Gegensatz zu den Eigenschaften anderer Menschen. Allerdings unterscheiden sich Weber und Bourdieu von Marx darin, dass Marx die ideologischen Nebenprodukte und sozialen Nebeneffekte aus dem Produktionsprozess bzw. aus den Eigentumsverhältnissen ableitet. Weber und Bourdieu stellen einfach nur eine Korrelation verschiedener Merkmale fest. Dabei ist die Stellung im Produktionsprozess nur ein Merkmal unter vielen. Auch das Privateigentum an Produktionsmitteln ist bei ihnen nur ein Merkmal unter vielen. Bourdieu schreibt z.B. in diesem Sinne:

Eine gesellschaftliche Klasse ist nicht nur durch ihre Stellung in den Produktionsverhältnissen bestimmt, sondern auch durch den Klassenhabitus, der 'normalerweise' (d.h. mit hoher Wahrscheinlichkeit ) mit dieser Stellung verbunden ist.
Da Bourdieus Klassentheorie eher bürgerlich als marxistisch ist, sind auch die einzelnen Thesen seiner  Theorie meist bürgerlichen Ideen verpflichtet. So werden zwar wie bei Marx, Weber oder Dahrendorf Klassenkonflikte herausgearbeitet. Aber bei Bourdieu fehlt die Feststellung der antikapitalistischen Tendenz im Kampf der Klassen. Arbeiter, Bauern und "die unteren Schichten" überhaupt kämpfen Bourdieu zufolge zwar mit den Herrschenden, aber dieser Kampf ist politisch zunächst einmal für eine Revolution gleichgültig. Auch erscheint die kommunistische Revolution für diesen Kampf als unerheblich. Klassenkampf und Revolution sind bei Bourdieu völlig verschiedene Sachen.

Bei Marx ist Klassenkampf im Kapitalismus identisch mit dem allmählichen Sieg der revolutionären Bewegung aufstrebender Klassen über die Konterrevolution der herrschenden Klassen. Revolutionen sind für Marx das versteckte Wesen und Ziel aller Klassenkämpfe. Und nach Marx sind die herrschenden Klassen diejenigen Klassen, die gerade den Produktionsprozess und die Staatsmacht dominieren oder sogar direkt kontrollieren. Deswegen werden aufgestiegene Kleinbürger unter Umständen Teil der "Herrschenden", aber für gewöhnlich sind sie bloß Handlanger der Herrschaften oder Verbündete der unteren Schichten.

Bei Bourdieu sind Revolutionen mehr oder weniger glückliche Zufälle oder Verschwörungen. Das eint ihn und die bürgerlichen Gesellschaftstheoretiker. Bei Bourdieu verlaufen die Klassengegensätze entlang von kaum identifizierbaren Linien des Besitzes von "Kapital". Deswegen sind noch so ohnmächtige und arme Intellektuelle bei ihm mehr oder weniger Herrschende, denn sie haben ja viel "kulturelles Kapital".

Teile des Kleinbürgertums außerhalb des Staatsapparats und ohne direkte ökonomische Macht gelten ebenso als Teil der herrschenden Klassen wie ultrareiche Konzernchefs und die mächtigsten Diktatoren. Auch ein Lohnarbeiter mit relativ hohem Gehalt hat Bourdieu zufolge ökonomisches "Kapital" und könnte als gebildeter Mensch oder Mensch mit guten Kontakten Teil der "Herrschenden" sein.

Wer entweder sehr viel ökonomisches, oder soziales, oder kulturelles Kapital hat, kann gemäß Bourdieu zu den "herrschenden" Klassen gezählt werden. Bourdieus zu weit gefasster Klassenbegriff führt zu diesem schwammigen Begriff der Herrschenden. Und diese Schwammigkeit führt zum schwammigen Verständnis der Klassengegensätze und Revolutionen.

Bourdieu nennt u.a. folgende Fraktionen der herrschenden Klasse: "Gymnasiallehrer", "Hochschullehrer", "Führungskräfte im öffentlichen Sektor", "Freie Berufe", "Ingenieure", "Führungskräfte im Privatsektor", "Industrieunternehmer", "Handelsunternehmer", "Industrielle" und "Handelsunternehmer". Es mag stimmen, dass einzelne Hochschullehrer und Gymnasiallehrer einzelne Menschen (Schüler, Studenten und Sekretärinnen, Ehefrauen) unterdrücken, ausbeuten oder beherrschen. Aber wie sinnvoll scheint es, alle Lehrer und Professoren zu den Herrschenden zu zählen?

Es mag sein, dass diese Menschen nicht mehr arbeiten als weniger bezahlte Menschen und daher durch höhere Einkommen andere Menschen indirekt "ausbeuten". Aber sie daher zu Herrschern zu erklären, kann zurecht ein wenig maoistisch wirken. Denn in gebildeten und besser bezahlten Arbeitern und Angestellten die herrschende Klasse zu erblicken, ist im besten Falle übertrieben und im schlimmsten paranoid. In der maoistischen "Kulturrevolution" wurden Intellektuelle und Beamte entsprechend terrorisiert und ganz unabhängig von ihrer politischen Gesinnung und ihrer realen Ohnmacht zum Feind erklärt. Bourdieus Theorie und die maoistische Theorie dienten zwar völlig unterschiedlichen Zwecken, ähneln sich aber in ihrer Schwammigkeit.

Politische Folgen der Begrifflichkeiten bei Bourdieu


Die Schwammigkeit der Kapital- und Klassentheorie bei Bourdieu hat politische Folgen. Zumindest in "Die feinen Unterschiede" von Bourdieu ist das Konzept der Klassenherrschaft für den ultraradikalen Habitus von aufmüpfigen Kleinbürgern und Intellektuellen anfällig. Die Oppositionen und Konflikte zwischen Eltern und Kindern, LehrerInnen und SchülerInnen, ProfessorInnen und StudentInnen können mit Bourdieu ebenso als Klassenkonflikte wie als Konflikte zwischen Herrschenden und Beherrschten verstanden werden. Das mag "kulturrevolutionär" und maoistisch sein, aber ist nicht unbedingt marxistisch und wirklich revolutionär. Denn so begründet der Protest gegen die kleinen Autoritäten das Alltags auch sein mag, er ist dennoch im seltensten Fall das selbe wie die Herrschaft der Kapitalistenklasse.

Der Unterschied zwischen der Unterdrückung und Ausbeutung durch die herrschenden Kapitalisten und alltäglicher Unterdrückung innerhalb der verschiedenen Klassen ist groß. Die Kapitalisten und die großen Politiker herrschen in der Tat. Und sie beuten systematisch aus. Die Eltern, Lehrer oder Professoren unterdrücken vor allem. Aber sie herrschen kaum und beuten kaum aus, selbst wenn sie herrsüchtig, autoritär und gierig sein mögen. Dann sind sie allenfalls Möchtegern-Diktatoren. Die echten Diktatoren sind Kapitalisten und ihre politischen Vertreter.

Der Kapitalbegriff bei Bourdieu verwischt den Unterschied zwischen den verschiedenen Formen der Warenwirtschaft. Tauschwaren, einfaches Geld als Zahlungsmittel, Arbeiterlohn, Angestelltenlohn, das Einkommen des kleinen Ladenbesitzers und das ganz große Kapital der Konzerne und Aktienbesitzer werden so in eins gesetzt. Das kritische Potenzial des Kapitalbegriffs wird damit entwertet, inflationär und verliert damit die große Bedeutung, die er bei Marx hat.

Wenn jeder "Kapital" hat, kann im Grunde jeder als "Kapitalist" gelten. Das ist aber blanker Unsinn und eint wiederum Bourdieus Theorie mit der neoliberalen Theorie, wonach Arbeiter mit einem Sparbuch oder Bausparvertrag auch "Kapitalisten" seien. Solche Schwammigkeit in der Klassentheorie verliert jede kritische Bedeutung, sofern sie nicht wieder in eine revolutionäre Praxis oder Theorie eingebettet wird.

Wenn Kapital also im Grunde das selbe ist wie die Fähigkeit, Menschen zu beeinflussen - ob durch wirtschaftliche Mittel, Kultur oder sozialen Status -, dann ist Kapital das selbe wie menschliche Tätigkeit, jede Form der Praxis oder ganz einfach: die Gesellschaft. Dann wird aber jede Gesellschaft immer eine "Klassengesellschaft" sein, die voll und ganz vom Kapital beherrscht ist. Das ist die Grundidee der bürgerlichen Ökonomen, die Marx so oft verspottet hat, aber gewiss keine revolutionäre Theorie.

Im Gegenteil: Die Theorie von Bourdieu kann trotz all seiner Sympathie für die unteren Schichten bürgerlich und konservativ gelesen werden. Denn wenn das revolutionäre Potenzial der Arbeiterklasse nicht aus ihrer Klassenlage in der Produktion und der Macht gegenüber dem Kapital kommt, wie etwa nach Marx, dann gibt es prinzipiell keinen Grund mehr, den Fokus auf das Proletariat zu legen. Den proletarischen Sozialismus erklärt Bourdieu also halb für tot, während er ihn halb mit links orientiertem Aktivismus gleichsetzen muss.

Die Klassen- und Kapitaltheorie von Bourdieu ist für Kulturwissenschaften und zur Ergänzung der marxistischen Theorien gut, aber nicht, um sie zu ersetzen. Eine praktische Orientierung für proletarische Sozialisten im Verbund mit anderen Vertretern der unterdrückten Klassen bietet Bourdieus Theorie alleine nicht. Gut bezahlte Arbeiter und Angestellte könnten gemäß Bourdieu ebenso zu den Herrschenden gezählt werden wie Lehrer, Professoren und belesene Arbeitslose.

In einer unpraktischen soziologischen Theorie ist so die These der herrschenden Arbeitslosen und Lehrer kein Problem. Für die marxistische Theorie ist dergleichen fatal, weil sie als Handlungsanleitung für Revolutionäre praktisch sein muss. Und die Arbeitslosen als Herrschende zu sehen würde für Revolutionäre nur Sinn ergeben, sofern darunter die nicht arbeitenden Kapitalisten verstanden werden. Ansonsten ist diese These zu verwerfen.

Für Bourdieu sind alle Gesellschaften immer zugleich Klassengesellschaften und Kapital produzierende Gesellschaften. Damit verewigt er theoretisch diese zwei besonderen Formen von Gesellschaft. Der Kommunismus, die Bewegung, die die jetzigen Klassenspaltungen beendet, oder eine klassenlose und nicht-kapitalistische Gesellschaft ist mit Bourdieu kaum vorstellbar.

Gerade die Konzentration auf den Produktionsprozess ist aber ein großer Vorzug der Marxschen Klassentheorie. Ohne die marxistische Grundidee, dass die Art und Weise der Produktion und das Eigentum an der Produktion die gesellschaftlichen Beziehungen allgemein und die Klassenverhältnisse im Speziellen formen, geht die gesamte marxistische Gesellschaftstheorie zu brüche. Deswegen versuchen Nicht-Marxisten auch immer, die marxistische Theorie der Arbeit, der Produktion und der Produktionsweisen zu ignorieren oder zu widerlegen. Manchmal erfinden sie neue Ersatztheorien. Meistens kramen sie bloß Versatzstücke längst widerlegter Theorien wieder aus. In jedem Falle tendieren solche Theorien dann dazu, die bürgerlichen Verhältnisse zu verewigen, zu verharmlosen oder einfach zu verschleiern. Mit Marxismus und ernsthafter Gesellschaftskritik hat das oft wenig zu tun. Gewisse "Linke", Anarchisten, Postmodernisten, Liberale, Konservative und Nationalisten stehen damit oft im gemeinsamen Gegensatz zu den Marxisten.

Ohne den Fokus auf die Arbeit und die Arbeiterschaft in der kapitalistischen Produktion entfallen die wichtigsten Erkenntnisse von Marx und der gesamten marxistischen Tradition. Bourdieu kann mit seiner Theorie die Revolutionstheorie von Marx zwar nicht widerlegen, aber auch nicht bestätigen. Bourdieus Theorie ist keine revolutionäre Klassentheorie, sondern bloß ein gesellschaftskritisches und in höchstem Maße feines Konzept der Klassendifferenzierung im Kapitalismus. Dieses Konzept birgt zwar antikapitalistische Kritik in sich, aber bleibt im Kern eine bürgerliche Theorie und für bürgerliche Ideologie leicht anschlussfähig. Sofern die Erkenntnisse von Bourdieu historisiert und materialistisch gewendet werden, können sie die sozialistische Bewegung aber enorm bereichern.

Donnerstag, 5. Juni 2014

Jean Ziegler über das "Afrika des Hasses" (1987)

http://www.booklooker.de/
1987 erschien beim Rotbuch Verlag das Büchlein "Endspiel Südafrika" von Robin Cohen. Es thematisiert  Ideologie und die Existenzbedingungen der weißen Rassisten-Diktatur in Südafrika. Jean Ziegler schrieb damals ein wundervolles Vorwort dazu. Anders als Cohen war Ziegler optimistischer, was den Widerstand gegen das Regime anging, und pessimistischer, was die friedliche Reform der Apartheid anging. Nicht in allem mag er Recht behalten haben, aber es lohnt sich, die klaren und trefflichen Gedanken Zieglers in Erinnerung zu rufen.

Im Folgenden das ungekürzte und abgetippte Vorwort* über das "Afrika des Hasses":

Jean Ziegler 

Afrika des Hasses


Zwei gegensätzliche Bilder steigen bei der Lektüre des klugen Buches von Robin Cohen in meiner Erinnerung auf. Sie zeigen gleichzeitig, wo und warum ich mit den Zukunftsprognosen Cohens nicht einverstanden bin.
11. November 1984: die High Society des Transvaal feiert im Ballsaal des Hotel Carlton den Waffenstillstand von 1914. Was eigentlich gefeiert wird, ist nicht ganz klar. 1914 war der Bure Jan Smuts an der Regierung. Ein letzter Aufstand von ungefähr 10 000 ehemaligen Kämpfern des Buren-Krieges unter dem Kommando ehemaliger Buren-Generäle brach aus. Smuts schickte die südafrikanische Armee gegen die Aufständischen ins Feld, massakrierte sie und ließ jeden erschießen, der aus der Armee zu den Aufständischen überlief. 11. November: Gedächtnis-Feier des letzten Buren-Aufstandes oder Gedenktag des Sieges der Alliierten auf dem europäischen Kontinent? So genau will es mir keiner meiner Tischnachbarn erklären. Das Orchester spielt Walzer und Jazz aus den zwanziger Jahren. Die Einladung zum Fest der Buren-Elite verdanke ich dem Schweizer Generalkonsul. Ich komme mir vor wie Malaparte als SS-Mann verkleidet im Ghetto von Warschau. Meine Uniform ist die weiße Haut. Sie verschafft mir Zugang zu dieser häßlichen Welt. Die burischen Damen sind mit Edelsteinen und Gold beladen. Die Herren im Frack sind - wie ihre Damen - meist gesetzten Alters und ziemlich wohlleibig. Sie lachen laut, essen viel und strahlen Zuversicht, Zufriedenheit, Reichtum und Arroganz aus. Die indischen Musiker, die schwarzen Kellner sind Schatten an der Wand. Ihnen wird mit lässiger Handbewegung dies und jenes befohlen. Keiner redet mit ihnen, keiner schaut sie an. Der Lord-Major von Johannesburg - blon, groß, dickleibig, mir rot angelaufenem Gesicht und feistem Nacken - trägt eine herrschaftliche Silberkette über dem Bauch. Ein Adjunkt legt ein silbernes Szepter vor ihn auf das Pult. Der Lord-Mayor steht auf, das Orchester spielt einen flotten Marsch und die Rede beginnt: die weiße Ballgesellschaft, so sagt der Bürgermeister, stehe im Kampf gegen den internationalen Kommunismus und die allgemeine Barbarei. Die Weißen anderswo - vor allem in Europa - verstünden nicht, daß ihre Zivilisation hier verteidigt werde. Demokratie dürfe schließlich keine Schwäche bedeuten ... Tosender Beifall im Saal. Entlang der Wand nicken sogar die schwarzen Schatten höflich Zustimmung. Kafka unter den Tropen.

Zweite Erinnerung: Im September 1980 bin ich zusammen mit Régis Debray Gast von Präsident Samora Machel in Mozambique. 25. September: unser Besuch geht dem Ende entgegen. Eine letzte Diskussion mit Marcelino dos Santos, Oscar Monteiro, Aquino de Bragancccca, Samora Machel im Garten des Präsidenten -Bunkers, einem ehemaligen portugiesischen Offizierskasino nahe dem Strand am Indischen Ozean. Unter den Palmen stehen Fliegerabwehrgeschütze. Wir sitzen in großen Korbstühlen. Samora - entspannt, fröhlich, blitzgescheit - ruft den einen oder andern Kanonier herbei. Tee wird getrunken, Bilanz gezogen. Die Nacht bricht ein. Der Mond steigt auf. Wir verabschieden uns. Aquino hat eine letzte Überraschung für uns bereit: durch die menschenleeren Boulevards unter duftenden Bäumen und dem Sternenhimmel fahren wir gen Süden, Richtung Hafenviertel. Vor einem Hochhaus stehen schwarze Soldaten. Der Aufzug führt in den achten Stock. Die Tür geht auf. Vor uns steht Joeeeee Slovo, der Generalstabschef der Umkhoto We Sizwe (die Lanze der Nation). Er plant und führt - zusammen mit dem 18köpfigen Militär-Komitee - den bewaffneten Widerstand gegen die Apartheid-Diktatur. Slovo, eins erfolgreicher Geschäfts- und Finanz-Anwalt in Johannesburg, hat Nelson Mandela im Rivonia-Prozeß verteidigt; Mandela und praktisch der ganze damalige Führungsstab der Umkhoto We Sizwe waren am 11. Juni 1963 im Bauernhof Rivonia, nahe bei Johannesburg, umzingelt und verhaftet worden. Slovo ist mit der britischen Anthropologin und Oxford-Dozentin Ruth First verheiratet. Er ist ein hochgewachsener weißer Mann, kultiviert, überzeugter Marxist. Das genaue Gegenteil eines Barbaren. Seine komplexen Analysen der Situation - beeindrucken mich durch ihre Präzision, durch ihre undogmatische Subtilität. Er spielt Bridge in Weltklasse und redet ein Englisch in der Stilreinheit eines britischen Lords. Zwischen dem Bürgermeister von Johannesburg und Joeeee Slovo liegen Lichtjahre - und ein sicherlich unüberbrückbarer Haß. Versöhnung, Annäherung zwischen diesen beiden Welten scheinen mir heute ausgeschlossen. 

Ein Nachtrag zu diesem Exkurs in die Erinnerung: am 17. August 1982 explodiert ein Sprengbrief im Sitzungszimmer des Afrika-Institutes der Eduard-Mondlane-Universität in Maputo. Ruth First ist auf der Stelle tot. Bragancccca, ein amerikanischer und ein südafrikanischer Forscher - O'Laughlin und Jordan - sind schwer verletzt. Die Untersuchung ergibt, daß der Brief von einem südafrikanischen Agenten präpariert und transportiert wurde. Oktober 1986: das Flugzeug des Präsidenten Samora Machel stürzt im Wald nahe der südafrikanischen Grenze vom Himmel. Unter den Toten: mein Freund Aquino de Bragancccca. Joeeee Slovo lebt heute nicht mehr in Maputo. 

In seinem Schlußkapitel analysiert Cohen die möglichen Szenarien, welche der weißen Rassendiktatur in Südafrika ein Ende setzen könnten. Sowohl seine empirischen wie seine theoretischen Aussagen erscheinen mir als außerordentlich informiert und klug. Cohen glaubt nicht an den 'Grand-Soir', den entgültigen Aufstand der Sklaven, den mir Joeee Slovo in jener fernen Nacht in Maputo so eindrücklich beschrieben und prophezeit hatte. Vielmehr, so meint Cohen, werde durch Widerstand und Repression, Bewußtseins-Fortschritt bei den Unterdrückten und späte, langsame Einsicht bei den Herrschenden ein neues instabiles Gleichgewicht entstehen. Modelle? Libanon, Nord-Irland. Cohen zeigt, wie die neuen Entwicklungen die sozialen Schichten der schwarzen Bevölkerung verändert haben. Die Stratifikation ist vielfältiger geworden; die Segmentierung ist intensiv, Nebenwidersprüche und vermittelte Gegensätze sind zahlreich. Cohen zeigt auch überzeugend, wie stark die südafrikanische Wirtschaft heute vom internationalen Kapitalismus abhängig ist, wie stark die Überdeterminierung durch den kapitalistischen Weltmarkt auf das südafrikanische Sozialgebäude wirkt. Auch eine schwarze Regierung, hervorgegangen aus der allgemeinen, geheimen, demokratischen Abstimmung aller in Südafrika lebenden Bürger, wird diese Abhängigkeit nicht brechen und diese Überdetermination nicht korrigieren können. All das stimmt.

Trotzdem bin ich nicht mit der Cohen-These vom schleichenden Übergang einverstanden. Cohen sagt kaum etwas von der Kommando-Struktur der Widerstandsbewegung, der Widerstands-Front. Er analysiert lange, genau und interessant die ideologische Struktur der Apartheid (besser: er zeigt, warum die Apartheids-Theorie keine eigentliche Ideologie ist; sie verschleiert nämlich nichts!). Die Gegenseite kommt kaum zu Wort. Doch die Entwicklung des kollektiven Über-Ichs der Buren, des durchaus kohärenten, formallogisch homogenen Systems der Selbstdeutung des Apartheid-Staates wird man nur aus der Dialektik mit einem sich von Tag zu Tag radikalisierenden Selbstverständnis der schwarzen, farbigen unterdrückten Mehrheit begreifen können.

Ein zweites Argument: Cohen meint, die Apartheid sei eben im Begriff still dahinzusiechen. Seine Analyse der Botha-Strategie ist überzeugend. Aber eben: es fehlt ein Zusatz. Während Botha reformiert, abbaut, verhandelt, Brücken sucht, organisieren in seinem Rücken die Rassisten des eigenen Lagers ihre Sabotage. Sabotage? Das Wort ist zu schwach. Es handelt sich um eine eigentliche Konter-Revolution, die jener der OAS (Organisation de l'Armeée secrète) im französisch beherrschten Algerien der Jahre 1961/1962 ähnelt. Allein im Jahr 1986 sind mindestens drei solcher OAS-Organisationen tätig geworden. Im Untergrund oder auf offenem Feld. Die Aksie Eie Toekams-Organisation ist streng geheim, bewaffnet und agiert innerhalb des Expeditionskorps in Namibia, innerhalb der Bereitschaftspolizei und auf der Offiziersakademie. Das Wit-Kommando, auch Afrikaaner Weederstandsbeveging (AWB) genannt, führt ein Fahnen-Emblem, das direkt vom nationalsozialistischen Hakenkreuz inspiriert ist. innerhalb der Nationalen Partei, der Buren-Partei, bestand schon immer ein rechtsextremer Flügel: 1969 trennte sich der damalige Informationsminister Albert Hertzog von John Voster. Die Herstigte Nasionale Party (die 'gereinigte' National Party) entstand. Verbündet mit dem Broederbund gelingt es der HNP 16 Jahre später, ins Parlament einzuziehen. Dazu kommt: auch innerhalb der bestehenden Struktur der Nasionale Party gibt es heute wieder ein 'Endkampf'-Lager. Der rechtsextreme Flügel vereint heute die sogenannt verkrampten Abgeordneten und Parteimitglieder (die 'Verkrampften' - im Gegensatz zu den verligten, den aufgeklärten Botha-Anhängern).

Überschätze ich den derzeitigen Einfluß der Endkampf-Fanatiker im weißen Lager? Nein. Vieles deutet darauf hin, daß wie in Algerien (Juni 1962), wie in Rhodesien (1977) kein schleichender Übergang zur Mehrheitsdemokratie möglich sein wird - wie Cohen meint. Beispiele für die Schlagkraft der Endkämpfer? Es gibt deren viele: Im Mai 1986 stürmt Eugène Terre Blanche an der Spitze von über 2000 AWB-Fanatikern - Lederstiefel, weißes Hemd, schwarze Krawatte - in Pietersburg, im Norden des Transvaal, die Generalversammlung der Nationale Party, der Regierungspartei, und jagt den Außenminister Pik Botha handgreiflich aus dem Saal. Pietersburg ist umzingelt, abgeschirmt von Hunderten von Spezialtruppen, Bereitschaftspolizisten. Sie alle schauen wohlwollend dem Treiben der AWB-Schläger zu! Niemand schützt die anwesenden Minister. Ebenfalls im Jahr 1986 terrorisierten Gruppen von weißen AWB-Gangstern zwei ganze Wochen lang die Einwohner des Schwarzen-Ghettos von Kagiso, im osten Johannesburgs. Das erste Opfer, der schwarze Jugendliche Stephen Matshogo, 22 Jahre alt, wird auf dem Heimweg von seiner Arbeit abgefangen und zu Tode geprügelt. Die Polizei steht dabei und lacht. Ein letztes Beispiel: die südafrikanischen Ku-Klux-Klan-Brüder prügeln nicht nur, sie gewinnen auch stubenreine, freie weiße Wahlen. Von fünf Nach- und Teilwahlen im Jahre 1986 haben die AWB-Kandidaten deren vier gewonnen.

Unsere Verantwortung: Was heute in Südafrika geschieht und von Cohen analysiert wird, ist kein fernes Wetterleuchten für uns hier in Europa. Das ist nicht irgendein afrikanischer Buschkrieg, eine der unzähligen Illustrationen der Verrohung unserer Welt. So nebensächlich und fern, Tagesschau-Futter für europäische Regentage ist das Südafrika-Drama nicht. Die Tragödie geht uns direkt an, denn an ihr sind wir - in der Bundesrepublik, in Frankreich, in der Schweiz - direkt mit verantwortlich. 1985 rief der Friedens-Nobelpreisträger Desmond Tutu, anglikanischer Bischof, zum internationalen Wirtschafts-Boykott gegen Südafrika auf. Genaue Untersuchungen unter der schwarzen und farbigen Bevölkerung belegen, daß über 70% der unterdrückten Mehrheit den Boykott befürworten. Die südafrikanische Wirtschaft ist höchst verwundbar: die Gold-Exporte zum Beispiel bringen rund die Hälfte der südafrikanischen Devisen-Einkommen ein. Die 71 Minen beschäftigen über 450.000 Arbeiter und Techniker. Die Goldminen sind auch eine Bastion der rechtsextremen weißen Gewerkschaft. Ein schwarzer Minen-Arbeiter verdient fünfmal weniger als sein weißer Kollege. Die Schwarzen machen die gefährlichste Arbeit. Pro Jahr sterben in den 71 Minen im Durchschnitt 600 Menschen an Unfällen.

Das Südafrika-Gold wird von Swissair-Sondermaschinen nach Zürich transportiert. Die drei Schweizer Großbanken - Kreditanstalt, Bankgesellschaft und Bankverein - handelten 82% des südafrikanischen Goldes des Jahres 1986 ... und machten Riesenprofite. Industrie- und Finanzkapital aus der Bundesrepublik, Frankreich, England, USA hält die hochentwickelte südafrikanische Industrie, den Handel und die Militärmaschinerie auf Hochtouren. Mittelfristige Bankkredite aus Europa erlauben dem schwer verschuldeten Apartheids-Staat die extravagantesten Militär-Abenteuer: fortlaufende Besetzung der ehemals deutschen Kolonie Namibia, regelmäßige Einfälle in Südangola, Unterstützung und Finanzierung der konterrevolutionären Sabotage- und Guerilla-Bewegung RNM in Mozambique. Aber nicht nur von europäischen Investitionen, europäischen Devisen, sondern auch von europäischer Technologie ist Südafrika direkt und lebenswichtig abhängig: die Rassen-Diktatur ist heute der erste Nuklear-Produzent des Kontinentes (die Zentrale Koeberg, nahe beim Kap an der Atlantikküste, hat heute zwei Reaktoren mit je 920 Megawatt in Betrieb).

Der Boykott-Aufruf von Bischof Tutu gehört keineswegs ins Reich idealistischer Träume verwiesen. Er verdient ernst genommen zu werden, weil er Erfolg verspricht. Zwischen 1966 und 1982 haben die Auslandsinvestitionen in Südafrika um 14% pro Jahr zugenommen. Der Weltwährungsfonds schätzte sie im Jahre 1983 auf 17 Milliarden Dollar. Die Profite waren in Südafrika außerordentlich hoch. Inzwischen sind die Investitionen zurückgegangen. Die Profite ebenfalls: 7% im Durchschnitt im Jahre 1984, 5% im Jahre 1985. Die Hälfte der Kapitalien kommt aus den Staaten des Europäischen Gemeinsamen Marktes. England hat mit 600 Gesellschaften, die rund 350 000 Menschen beschäftigen, den höchsten Anteil (10% aller englischen Auslandsinvestitionen werden in Südafrika getätigt, gegen nur 1% der USA). Die Bundesrepublik steht an dritter Stelle: 6,4% ihrer gesamten Auslandsinvestitionen sind in Südafrika. Frankreich hat rund 80 Gesellschaften und 4,7% seiner Auslandsinvestitionen in der Rassen-Diktatur. Sinkende Profite, Rückzug der nordamerikanischen Kapitalien, Verbot des Verkaufes der Krügerrands in den USA, schwindende Zuversicht der europäischen Investoren ... die Zeit ist günstig für die Organisation und Durchführung eines Finaz- Handels-, Rohstoff- (vor allem Erdöl)-Boykotts.

Wollen die Europäer diesen Boykott und damit das Ende der Rassen-Diktatur? Die Mehrheit will ihn nicht. Staats-Räson, Profitgier, geistige und politische Indolenz charakterisieren die Beziehungen zwischen den westeuropäischen Demokratien und Südafrika. 1911 rief Jean Jaurès den Generalstreik aus gegen die geplante französische Invasion Marokkos. Der Generalstreik fand statt, die Invasion wurde verzögert. Heute ist das Bewußtsein internationaler Solidarität in der europäischen Arbeiterbewegung vollständig verkommen. Keine der großen westeuropäischen Gewerkschaften - von den Skandinaviern und den Holländern abgesehen - hat sich für den Boykott entschieden. In der Sozialistischen Internationale verteidigen nur die alten, konsequenten Anti-Faschisten wie Willy Brandt, Wischnewski und wiederum die Schweden, Dänen, Holländer, Finnen den Boykott. Alle anderen - und in den Gewerkschaften, in den sozialistischen Parteien sind sie leider die überwiegende Mehrheit - ziehen es vor, die Resultate des sogenannten "friedlichen Übergangs zum Mehrheitswahlrecht" abzuwarten. Kurz: Heuchelei, Indolenz, intellektuelle Stumpfheit und politische Verantwortungslosigkeit beherrschen den Tag.

Die Rassen-Tyrannei von Pieter Botha ist eine nackte, pure Gewaltherrschaft. Der Weekly Mail, die südafrikanische Wochenzeitung, meldet, daß gegenwärtig nach Angabe der Elternvereinigungen über 4000 Kinder unter 16 Jahren in Haft sind oder vermißt werden. Über 10 000 Kinder sind seit Ausrufung des Ausnahmezustands verhaftet worden. In den südafrikanischen Gefängnissen und Konzentrationslagern wird systematisch gefoltert. Auch viele Kinder werden mißhandelt. Die physischen und vor allem psychischen Schäden, die diesen Kindern zugefügt werden (Elternkontakt, Kleiderwechseln ist während der Haftzeit untersagt), sind nicht abzusehen.

Ich glaube nicht an friedlichen Übergang. Auch nicht an neue "Gleichgewichte" nach libanesischer Art. Hitler und Stalin stehen den südafrikanischen Tyrannen zu Gevatter. Ein solches Regime wird nur stürzen, wenn die zivilisierte Welt es tatsächlich in Bann stellt, seine verletzliche Wirtschaft boykottiert, die diplomatischen Beziehungen abbricht und sich klar auf die Seite der Unterdrückten stellt. Bischof Tutu, Nelson Mandela, Joe Slovo zeigen Europa den Weg. Maurice Duverger, Jura-Professor an der Sorbonne, der kein Revolutionär und nicht einmal ein Sozialdemokrat ist, hat 1972, während der amerikanischen Terrorbombardemente auf Hanoi und Haiphong, das Konzept vom "äußeren Faschismus" (le fascisme extérieur) geprägt. Wir Westeuropäer leben in marken-echten Demokratien. Meinungsfreiheit , Menschenrechte, Volkssouveränität sind bei uns Wirklichkeit (wenigstens zu einem großen Teil). Unsere Demokratien aber beruhen auf Grundwerten, die nur wirksam bleiben können, der Zeit und der Erosion standhalten, wenn sie universale Geltung erlangen.

Moralische Grundwerte mit regional beschränkter Haftung kann es nicht geben. Wenn die Staats-, Partei- und Gewerkschaftsapparate Westeuropas weiterhin den "äußeren Faschismus" betreiben - das heißt: eine Außenpolitik der Menschen-Verachtung, der Allianz mit Tyrannen -, dann zerfallen auch bei uns unmerklich die moralischen Werte, ohne die keine Demokratie überleben kann. Die Befreiung des südafrikanischen Volkes ist daher eine Bedingung für das Überleben der Demokratie in Europa.



*Eventuelle Tippfehler mögen verziehn werden. Und bei Copyright-Fragen: Ziegler oder der Verlag mögen sich, so unwahrscheinlich es ist, beschweren, falls sie die unentgeldliche Werbung in ihrem Sinne hier fürchten.

Freitag, 30. Mai 2014

Widerspruch in Xinjiang/Ostturkestan

Xinjiang ist für die globale Geopolitik von großer Bedeutung. Allerdings genießt das Autonome Gebiet im Westen Chinas nicht die entsprechende Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit erregen allenfalls separatistische Bestrebungen und entsprechende Gewaltakte zwischen Protagonisten "Ostturkestans" und Hütern der volksrepublikanischen Einheit. Doch was steckt hinter den gewaltsamen Auseinandersetzungen und ideologischen Zwistigkeiten um Xinjiang?

Xinjiang und China, Quelle: http://edition.cnn.com/

Spannungen aller Art in Xinjiang


Die mehrheitlich muslimischen Uiguren, die zu den Turkvölkern zählen, stehen in Xinjiang seit Jahrzehnten im Konflikt mit der volksrepublikanischen Staatsraison. Ausdruck dieses Konflikts sind ethnische, religiöse, ökonomische, kulturelle, und (geo-)politische Spannungen: ethnische Spannungen zwischen der Minderheit der Uiguren und der in China dominierenden Ethnie der Han-Chinesen; religiöse Spannungen zwischen Moslems und konfuzianisch-daoistischen Atheisten; kulturelle Spannungen zwischen einem Turkvolk, das sich als Teil der muslimischen Glaubensgemeinschaft in der Tradition des Osmanischen Reiches und des Pan-Turanismus begreift, und den großchinesischen Nationalisten und Han-Chauvinisten; ökonomische Spannungen zwischen dem nordwestlichen Hinterland und den wohlhabenden Küstengebieten Chinas; und schließlich (geo-)politische Spannungen im zentralasiatischen und ostasiatischen Raum. Die inneren und äußeren Spannungen des Autonomen Gebiets Xinjiang sind also durchaus bemerkenswert.


Spannungen zwischen Bevölkerung und Staatsmacht,
Quelle: http://www.uyghurcongress.org/

Ethnische Spannungen


In Xinjiang leben 21 Millionen Menschen, die in mehrere ethnische Gruppen einteilbar sind, wobei Uiguren und Han-Chinesen die größten Ethnien sind. Die Uiguren bilden mit knapp 50% noch immer die größte Ethnie in Xinjiang. Die Han machten vor 1949 weniger als 7% der Bevölkerung Xinjiangs aus, heute dagegen sind es bereits 40%. Die Han leben vermehrt im Gebiet der Hauptstadt Ürümqi, wo über 70% der Bewohner zu den Han gehören und nur knapp 12% zu den Uiguren. Im weniger industrialisierten Süden, bei Kashgar, machen die Uiguren hingegen über 90% und die Han nur ca. 7% aus.

Schon allein durch die vermehrte Bewohnung der industrialisierten Gebiete im Norden durch die Han sind deren Einkommen im Schnitt höher als die der Uiguren, die den wenig entwickelten Süden dominieren. Abgesehen von dieser rein statistischen Ungleichheit werden die Han aber auch gezielt gefördert. Nach 1949 wurden immer mehr Han nach Xinjiang umgesiedelt. Ein Großteil waren Soldaten der sogenannten Volksbefreiungsarmee. Jedenfalls stieg der Anteil der Han immer weiter an. Und natürlich erhielten viele von ihnen hohe Posten und Privilegien, was die uigurischen Einwohner notwendigerweise stören musste. Zwar ist es nicht so, dass die Uiguren von den Han allgemein rassistisch unterdrückt und gezielt attackiert würden, wie etwa die Palästinenser und arabischen Israelis durch die Zionisten Israels oder wie die Schwarzen durch die Buren in der südafrikanischen Apartheid. Aber es gibt durchaus ethnische Spannungen zwischen Han und Uiguren, die in Zusammenhang stehen mit Separatismus auf Seiten der Uiguren, Han-Chauvinismus auf Seiten der Han - und nationalistischem Terror auf beiden Seiten.

Der Weltkongress der Uiguren mit Sitz in München veranschaulicht, welche Ideen die uigurischen Separatisten vertreten. Auf der Internet-Präsenz des Weltkongresses findet sich folgende Selbstdarstellung:

Der World Uyghur Congress (WUC) ist eine internationale Organisation, welche die gemeinsamen Interessen der Uiguren sowohl in Ostturkestan (auch bekannt als The Xinjiang Uyghur Autonomous Region, VR China) als auch im Rest der Welt vertritt. Der WUC wurde am 16. April 2004 in München gegründet, nachdem der East Turkestan National Congress und der World Uyghur Youth Congress zu einer gemeinschaftlichen Organisation fusionierten.
[...]

Bevor Frau Rebiya Kadeer als Präsidentin des WUC gewählt wurde, hatte sie die Stiftung für Menschenrechte und Demokratie der Uiguren (Uyghur Human Rights and Democracy Foundation) gegründet und leitete die in Washington, DC ansässige Organisation Uigur-amerikanische Vereinigung (Uyghur American Association). Sie war die Rafto Preisträgerin und Kandidatin zur Nominierung des Friedensnobelpreises der Jahre 2005-2006-2007-2008-2009-2010 sowie 2011. Sie hatte 5 Jahre ihres Lebens in grausamer chinesischer Gefangenschaft verbracht. Nach ihrer Entlassung kämpfte sie für die Erlangung von Menschenrechten, von Freiheit und Demokratie für die Uiguren. Für ihre außergewöhnliche Arbeit wird sie als die Führerin und geistige Mutter der Uiguren anerkannt.

In der ersten Generalversammlung des WUC im Jahr 2004 wurde Herr Erkin Alptekin zum Präsident gewählt. Er hatte die Organisation bis zur zweiten Generalversammlung im Jahr 2006 geleitet. Herr Erkin Alptekin ist ein  bekannter Vertreter der Uiguren. Er hat sich seit Jahren um eine friedliche Lösung für die Ostturkestan-Frage bemüht. Er ist ehemaliger Generalsekretär der Organisation der nicht-repräsentierten Nationen und Völker („Unrepresented Nations and Peoples Organization-UNPO“) mit Sitz in Den Haag, Niederlande. Er besitzt beachtliche Erfahrung in der Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und Regierungen, wenn es darum geht, sich für das Selbstbestimmungsrecht der Uiguren einzusetzen. Darüber hinaus ist er ein enger Freund des Dalai Lama, des geistigen Führers des tibetanischen Volkes.

Der Weltkongress der Uiguren beansprucht also, die Interessenvertretung für alle Uiguren der Welt zu sein. Außerdem teilen Exil-Uiguren das Schicksal der separatistischen Exil-Tibeter. Sie müssen außerhalb Chinas für ihre Sache kämpfen. Die Frage ist, ob die beiden Gruppen tatsächlich die Interessen aller Tibeter oder aller Uiguren vertreten oder ob sie nicht vor allem eine eigene Agenda haben. Nachweislich wurden separatistische und Dissidenten-Gruppen Chinas von den USA unterstützt. Wieso sollte es nicht auch auf uigurische Separatisten zutreffen? Jedenfalls zählt der Weltkongress der Uiguren eine ganze Reihe von Vergehen des volksrepublikanischen Staates gegen die Uiguren auf:

  • Scheinautonomie
  • Geburtenkontrolle
  • willkürliche Festnahmen, Folter, Hinrichtungen, Mord
  • Behinderung der Religionsfreiheit
  • "Sinosierung von Ostturkestan"
  • wirtschaftliche Benachteiligungen
  • Schäden durch Atomwaffentests und Gesundheitsversorgung
  • Pressefreiheit
  • spezifische Ausbeutung von Frauen
  • "Gleichgültigkeit der Weltgemeinschaft"
  • das "Ürümqi-Massaker"

Über die "Scheinautonomie" des Gebiets schreibt der Kongress:

Obwohl Ostturkestan als „Xinjiang Uyghur Autonome Region“ bezeichnet wird, gibt es keine Selbstbestimmung oder Selbstverwaltung für die Uiguren. Mehr als 90% aller wichtigen politischen, administrativen und wirtschaftlichen Positionen in Ostturkestan werden durch chinesische Angestellte besetzt.

Zum Beispiel, das Regionale Ständige Komitee der Kommunistischen Partei, das oberste politische Organ der Region, hat 15 Mitglieder. Wovon nur 3 Postionen von Uiguren aber 10 Positionen von Chinesen besetzt werden. In allen anderen politischen Entscheidungspositionen besteht die gleiche Überrepresentierung durch Chinesen. Einige anscheinend wichtige Positionen wurden an Uiguren vergeben, allerdings wird ihre Autorität ständig untergraben.

Das chinesische Vorgehen „Teile und Herrsche“ hat dazu geführt, dass die einheimische Bevölkerung von Ostturkestan Uiguren, Kasachen, Usbekin, Mongolen und Tataren in unterschiedliche „Provinzen“, „Landkreise“ und „Städte“ geteilt worden. [sic!]

Die Überrepräsentanz von Han-Chinesen in führenden Positionen ist gewiss ein Problem und Ausdruck des Misstrauens gegenüber Uiguren. Unabhängig davon, ob das bewusst und gezielt gefördert wurde oder ob es sich "spontan" ergeben hat, sollte klar sein, dass die chinesischen Befürchtungen nicht unbegründet sind. Eine Autonomie des Gebiets kann mit friedlichen Mitteln nur unter der chinesischen Oberhoheit erreicht werden. Faktisch ist solch eine Autonomie daher äußerst beschränkt, auf die Felder der Sprache, Religion und Kultur etwa. Der chinesische Staatskapitalimus kann aber niemals zulassen, dass ein "Ostturkestan" sich von China politisch oder ökonomisch löst. Regionale Autonomie ist im Staatskapitalismus erst dann wirklich denkbar, sofern sie ihm geopolitische Vorteile versprechen kann.

Genau diese Beschränkung der Autonomie unter chinesischer Oberhoheit ist der allgemeine Grund für die ethnischen Spannungen zwischen Han und Uiguren. Denn durch die chinesische Hegemonie vermischen sich ethnische, sozioökonomische und geopolitische Konflikte. Dadurch werden sogar religiöse Spannungen weiter politisiert und ethnisiert.



Religiöse Spannungen


Während die Uiguren zu den Turkvölkern zählen und wie weitere Minderheiten in Xinjiang mehrheitlich Moslems sind, sind die Han zumindest zum größten Teil nicht Moslems. Ob sie als Atheisten, Kommunisten, Kapitalisten, Daoisten, Konfuzianer oder Buddhisten gezählt werden können, ist vielleicht mehr eine Glaubensfrage des jeweiligen Autoren denn eine klar definierbare Angelegenheit. In China kann das alles zugleich auf ein einziges Individuum zutreffen, wie es scheint. Entscheidend ist weniger der Aufprall zweier oder mehrerer Religionen, was oft weniger problematisch ist als viele Kreuzfahrer und geistige Brandstifter glauben - entscheidend ist der Aufprall sozialer Interessen, die einander widersprechen.

Da die Uiguren zumeist an Allah glauben und sich als Teil der muslimischen Glaubensgemeinschaft verstehen, haben sie ein völlig anderes Selbstverständnis als die meisten Han-Chinesen. Ihre höchsten Autoritäten sind der Koran und muslimische Prediger, nicht aber die KP Chinas oder die chinesische Staatsführung. Für gewöhnlich ist das kein Problem, da sich die Uiguren wie alle anderen nicht-korrupten Bürger des Landes mehr oder weniger an die Gesetze halten. Allerdings wird der latente Konflikt zwischen den beiden Autoritäten, dem Koran und chinesischem Pass, ab und an akut. Und in gewissen Bereichen mischt sich die religiöse Frage mit anderen Fragen, was zum andauernden Konflikt geführt hat.

Wie in Tibet mischt sich auch in Xinjiang die Frage der legitimen und souveränen Staatsmacht mit der religiösen Frage. In Tibet repräsentierte der Dalai Lama vor seiner Flucht aus Tibet nicht nur das religiöse Oberhaupt der Gelbmützensekte Tibets, sondern auch das faktisch dominierende weltliche Oberhaupt Tibets. Adel und Klerus des feudalen Tibets bis 1949 waren weltliche und religiöse Autoritäten zugleich und wurden in den 1950er Jahren entmachtet, was viele zuvor wirklich unterdrückte Tibeter begrüßten. Dazwischen liegt eine Periode, in der tibetische Separatisten der chinesischen Staatsmacht mit Hilfe westlicher Staaten bewaffnete Widerstandsgruppen und Terror entgegenwarfen und in der die Maoisten große Teile der tibetischen Kulturgüter in der "Kulturrevolution" vernichteten. Diese antireligiöse Kampagne weckte in vielen Tibetern die Abscheu vor der han-chinesischen Staatsraison. Der Dalai Lama repräsentiert heute eine separatistische, theokratische und nationalistische Clique im Exil, die zwar viel Aufmerksamkeit genießt, aber aufgrund ihrer religiösen Abgehobenheit und politischen Ohnmacht wenig Bedeutendes zur Beantwortung der tibetischen Frage beitragen kann.

In Xinjiang ist der Fall etwas anders, aber in Vielem ähnelt er der tibetischen Frage. Wie Tibet wurde Xinjiang der chinesischen Erzählung zufolge "befreit" und "entwickelt". "Entwicklung des Westens" nennt die Staatsführung dieses Projekt. Auch in Xinjiang mussten alte Machthaber fliehen und es bildeten sich ebenfalls separatistische, nationalistische und terroristische Exilgruppen, die eine Abspaltung Xinjiangs und die Gründung eines "Ostturkestan" fordern. Der chinesische Staat kann eine solche Abspaltung aber unmöglich zulassen und wird mit aller Gewalt eine derartige Perspektive verhindern. Das Gebiet ist bereits "autonom" und wird formhalber auch so behandelt. Es hat einen gewissen Sonderstatus im Vergleich zu anderen, nicht-"autonomen" Provinzen Chinas.

Allerdings wird in der Tat religiöse Praxis, die sich mit Separatismus, Panturanismus und Terrorismus mischt, unterdrückt. Dergleichen würde auch in beliebigen anderen Staaten passieren. Wenn sich Separatisten auf Religion und religiöse Unterdrückung durch die Chinesen berufen, so vertreten sie damit gewiss nicht alle Uiguren, sondern allenfalls eine bestimmte Gruppe unter den religiösen Separatisten. Die gewöhnliche religiöse Praxis der Moslems wird dagegen nicht großartig unterdrückt und es gibt eine sehr hohe Anzahl an Moscheen pro Kopf. Allenfalls wird die religiöse Gebetspraxis und Ähnliches durch Lohnarbeit behindert, aber das ist weniger die Verantwortung der Han-Chinesen als die der Kapitalisten im Allgemeinen. Das Kapital macht auch vor religiösen und kulturnationalistischen Gefühlen keinen Halt.

Mosche in Ürümqi, Quelle: http://news.bbc.co.uk/


Kulturelle Spannungen


Der uigurische Weltkongress kritisiert eine "Sinosierung von Ostturkestan" [sic!]:

Die chinesische Regierung ergriff scharfe Maßnahmen, um die uigurische Sprache zu unterdrücken und den Anteil der chinesischen Sprache in Ostturkestan zu erhöhen. Vor der chinesischen Besetzung von Ostturkestan enthielt die uigurische Sprache und Literatur keine chinesischen Lehnwörter. Heute ist eine große Zahl von chinesischen Wörtern in den uigurischen Wortschatz eingedrungen. Mehrere tausend uigurische Begriffe wurden aus dem Wortschatz gestrichen, weil sie angeblich „die nationale Einheit“ behindern oder nicht in die „sozialistische Gesellschaft“ passen.

Uigurische Schulen wurden entweder geschlossen oder mit chinesischen Schulen zusammengelegt. Chinesisch wurde als Unterrichtssprache eingeführt. Uigurische Kinder werden in inner-chinesische Städte verschickt, damit sie dort Chinesisch lernen. Im ganzen Land wurden tausende von uigurischen Büchern verbrannt.

Diese Kritik erinnert an die Kritik durch den Dalai Lama, der von einem "kulturellen Völkermord" an Tibet sprach. In beiden Fällen wird keine stichhaltige Argumentation gebracht. In beiden Fällen wird äußerst nationalistisch und provinziell argumentiert. Von einem Völkermord an der Kultur kann keinerlei Rede sein. Ebensowenig von einer angeblichen Ausrottung der uigurischen oder tibetischen Sprache. Was die Bücherverbrennungen angeht, so wird offenbar die Kulturrevolution in den 70er Jahren herangezogen, die aber in ganz China zu Vernichtung von Kulturgütern geführt hatte und lange vorbei ist.

Was das Versenden von Kindern angeht, so ist die Kritik noch viel weniger stichhaltig und äußerst rückschrittlich. Würde man den Umkehrschluss ziehen, so wäre das von den Exil-Uiguren offenbar geforderte Nicht-Unterrichten der uigurischen Kinder auch in chinesischer Sprache eine chauvinistische Diskriminierung und Chancenminderung für die Kinder. Will man mehr Chancen und Gleichberechtigung von Han und Uiguren oder will man den uigurschen Kindern weniger Chancen ermöglichen durch mangelnden Chinesischunterricht? Nur ein ausgemachter Bauer kann fordern, Kindern in China kein Chinesisch beizubringen...

Die Schulen in Xinjiang bringen allgemein Chinesisch und Uigurisch bei, damit die Kinder beide Sprachen sprechen können und Straßennamen etc. sind im Wesentlichen auf Uigurisch und Chinesisch beschrieben. Die muslimische Religion wird ebenso wenig unterdrückt wie die buddhistische oder christliche, solange sie sich nicht mit politischen Autoritäten gegen den chinesischen Staat verbinden. Das ist in Deutschland mit den Salafisten aber auch nicht anders.

Die Sinisierung Xinjiangs ist dennoch eine Tatsache. Aber das geschieht nicht durch Unterdrückung, Ausrottung oder Verbot der uigurisch-muslimischen Kultur, sondern durch den ansteigenden Anteil an Han-Chinesen und die wachsende Bedeutung der chinesischen Wirtschaft in Xinjiang.

Straße in Ürümqi, auf Chinesisch, Uigurisch und in Pinyin-Umschrift, Quelle: wikipedia.


Ökonomische Spannungen


Ökonomische Spannungen sind ein wichtiges Problem in Xinjiangs Staatskapitalismus. Die Modernisierung, Entwicklung und Indsutrialisierung Xinjiangs durch den chinesischen Staat brachte Vor- und Nachteile mit sich. Früher war Xinjiang wie Tibet noch ein weltfremdes und surreales Randgebiet. Es ist zwar immer noch eine der rückständigsten Provinzgebiete in China, aber hat durchaus eine rasante Entwicklung durchgemacht. Xinjiang ist nun modern, kapitalistisch und von einem wohlhabenden Bürgertum regiert. Die Mittelklassen in Xinjiang leben viel besser als vor Jahrzehnten. Sogar der Lebensstandard der unteren Klassen allgemein hat sich merklich gebessert. Insofern geht es allen Schichten in Xinjiang besser als zuvor.

Allerdings kamen mit Chinas kapitalistischer Wirtschaft auch neue Disparitäten und Widersprüche hinzu. Die Ungleichheit in Xinjiang ist enorm. Die Ärmsten sind Arbeitslose, Hirten oder Deklassierte, die kaum Aufstiegsmöglichkeiten haben und auch kaum wohlfahrtsstaatliche Leistungen genießen und sich mit der Armut in Ländern der dritten Welt messen könnten. Die Reichsten können sich mit der Luxus-Bourgeoisie der entwickelten Länder messen.

Die Klassenkonflikte zwischen den verschiedenen Klassen sind wie überall auf der Welt ein Ausdruck der Ungerechtigkeiten und Unzulänglichkeiten im Kapitalismus. Die lange schon bestehende Ungleichheit zwischen dem wohlhabenden Osten und dem unterentwickelten Westen Chinas hat sich sogar noch verschärft. Außerdem kommt es seit vielen Jahren zu einem "brain drain" der am besten ausgebildeten Bewohner Xinjiangs gen Osten. Die Uiguren spüren diese Ungleichheiten am schärfsten, vor allem die wenig gebildeten, die aus ländlichen Gebieten stammenden und die weiblichen. Der uigurische Weltkongress schreibt dazu:

Die ständig wachsende chinesische Bevölkerung in Ostturkestan hat zu einer weitverbreiteten Arbeitslosigkeit unter den Uiguren geführt. Chinesen haben weitgehend die Kontrolle über politische und wirtschaftliche Einrichtungen übernommen. Daher ist die Arbeitslosigkeit unter Chinesen sehr gering, während sie bei den Uiguren alarmierende Ausmaße angenommen hat. Obwohl Ostturkestan über große Mengen an Bodenschätzen verfügt, leben nahezu 80% der Uiguren vom Existenzminimum und sogar unter der Armutsgrenze.

Nach einem Bericht der Xinjiang Provinz Regierung vom Oktober 2004 beträgt das Prokopfeinkommen der chinesischen Siedler in Ostturkestan das 4 Fache von dem Einkommen der Uiguren. Nahezu 85% der Uiguren sind Bauern. Derselbe offizielle Bericht bestätigt, dass das Durchschnittseinkommen eines uigurischen Bauern 820 Yuan (ca. 82 Euro) beträgt, während ein chinesischer Bauer in Ostturkestan ein Jahreseinkommen von 3.000 Yuan (ca. 300 Euro) erreicht.

Die größte Zahl der Aufträge wird an Chinesen vergeben. Die großen Bodenschätze von Ostturkestan einschließlich Öl, Gas, Uran, Gold und Silber werden von China ausgebeutet. Die chinesische Zentralregierung übt eine strenge Kontrolle über den Abbau der Bodenschätze aus. Uiguren haben keine Kontrolle über die Bodenschätze. Sie haben keinen Zugang zu Informationen über den Gewinn der aus den Bodenschätzen erzielt wird. Sie haben keine Möglichkeit an dem Ertrag aus ihren eigenen Bodenschätzen teilzuhaben.

Die Kritik des Weltkongresses ist teils sehr berechtigt, teils aber auch weltfremd und zutiefst rückschrittlich. Weltfremd ist diese Kritik, weil sie die Kräfteverhältnisse und Interessen nicht angemessen begreift und artikuliert, indem es die diversen Spaltungen und verschiedensten Interessen auf einen umfassenden Konflikt der Uiguren mit den Han reduziert. Das entspricht keinesfalls der Realität. Die realen Verhältnisse ähneln eher einem vielschichtigen Flickenteppich verschiedenster sozialer Interessen, die sich gegenseitig widersprechen und verschiedene Tendenzen repräsentieren. Klassen und Klassenfraktionen, Milieus und Verbände haben widersprüchliche Ansichten und Ziele. Die Reduktion dieser Widersprüche auf einen abstrakten Widerspruch zwischen zwei Ethnien ist im Kern unterkomplex und reaktionär, und teilweise sogar rassistisch.

Die volksrepublikanische Klassengesellschaft produziert und reproduziert immer wieder nicht nur ökonomische Spaltungen und Klassenkämpfe. Die Klassenkämpfe werden auch in Form sexistischer, nationalistischer und rassistischer Spaltungen ausgetragen oder von ihnen überdeckt. Sexismus, Chauvinismus und Rassismus dienen allgemein den Interessen der herrschenden Klassen, da sie die Mehrheit der Bevölkerung spalten, künstlich neue Interessen schaffen und Solidarität verhindern. Im Gegenteil dienen diese Herrschaftsmittel also der Unterdrückung der schon unterdrückten Klassen und Klassenfraktionen.

Ein uigurischer Nationalismus muss nicht notwendiger Weise den Herrschenden dienen. Ein Nationalismus kann der Befreiungsnationalismus oder auch der Chauvinismus einer bestimmten Gruppe sein. Der tibetische und der uigurische Nationalismus ist zum großen Teil mehr Chauvinismus als Befreiungsnationalismus. Trotz aller Betonung von Freiheit und Menschenrechten bei Exilanten und Separatisten werden damit weniger emanzipatorische Ziele gestärkt als der Eindruck erwecken könnte. Denn eine "Autonomie" Xinjiangs ohne soziale Revolution kann nur zur vertieften Unterwerfung des Gebietes durch imperialistische und großkapitalistische Kräfte führen und antichinesischen Nationalisten und Rassisten in die Hände spielen. Eine wünschenswerte Entwicklung Xinjiangs kann nur gestützt auf kapitalismuskritische Bewegungen der unteren Klassen erfolgen. Nur eine radikaldemokratische Republik als Produkt sozialer Kämpfe kann das Versprechen von Freiheit und Emanzipation der Uiguren auch wirklich umsetzen. Dafür ist aber kein antichinesisches Ressentiment notwendig, sondern Sozialismus und Solidarität und der Bruch mit dem autoritären Kapitalismus.

Der chinesische Staatskapitalismus kann es in seiner großen Abhängigkeit von Bodenschätzen und weiteren Produktivkräften natürlich nicht dem Zufall überlassen, wie die Ressourcen seines Territoriums genutzt werden. Es ist nur natürlich, dass der chinesische Staat den Uiguren die Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung nicht einfach überlässt. Denn eine eigenständige Entwicklung der uigurischen Wirtschaft im Widerspruch zur Gesamtentwicklung Chinas könnte Instabilität und Abhängigkeit des Staates bedeuten. Und der chinesische Staat wird bereits durch viele Unzulänglichkeiten existenziell bedroht, sodass er unnötige Risiken mit allen Mitteln vermeiden will, vor allem geopolitisch brisante Risiken.

Nächtliches Stadtbild in Ürümqi, Quelle: http://images.chinahighlights.com/


Geopolitische Spannungen


Es ist ausgeschlossen, dass die Volksrepublik China unter kapitalistischen Bedingungen ihrem Autonomen Gebiet Xinjiang nationalstaatliche Unabhängigkeit gewährt. Die chinesischen Spitzenpolitiker werden, wenn sie den amerikanischen und europäischen Geopolitikern überlegen bleiben wollen, dergleichen nie und nimmer friedlich zulassen. Dafür ist Xinjiang für die klassenbewussten Kapitalisten der Welt geopolitisch zu bedeutsam.

Ein solches Staatsgebilde würde im selben Maß, in dem es von China unabhängig würde, von anderen Staaten in neue Abhängigkeiten geraten. Gerade die Geopolitiker der USA, die China als großen Rivalen betrachten müssen und rechte Kräfte wie auch Separatisten in China oft unterstützten, sind zu bedenken. Sie würden selbstverständlich sofort ihre Einflüsse geltend machen und "Ostturkestan" de facto zu einer Provinz der Westmächte umbauen... Das selbe gilt für ein "unabhängiges" Tibet. China kann dergleichen unter kapitalistischen Zuständen nicht zulassen.

Eine derartig dilettantische Politik, eine ungewollte Politik der Selbstzerstörung, können europäische oder amerikanische Politiker betreiben, nicht aber chinesische, die kulturell bedingt Großmeister des Subtilen und Anausgesprochenen sind. Zugleich sind der chinesischen Geopolitik um Xinjiang enge Grenzen gesetzt. Die Innenpolitik kann allenfalls die inneren Spannungen in Xinjiang durch kluge sozialpolitische und kulturpolitische Maßnahmen dämpfen. Außerdem kommen zu den weichen Methoden noch polizeistaatliche Maßnahmen in Betracht.

Tatsächlich wurden seit dem 11. September 2001, nach dem Massaker von 2009 und den Anschlägen von April und Mai 2014 die polizeistaatlichen Repressalien ausgeweitet. Polizisten werden vermehrt und gezielt für den Gegen-Terror ausgebildet. Racial Screening, d.h. gezielte Repressalien gegen uigurisch aussehende Menschen auf den Straßen, ist nur eine problematische Nebenwirkung. Das Misstrauen zwischen Han-Chinesen und Uiguren wird durch die Agitation gegen "Separatismus, Radikalismus und Terrorismus" und durch den rassistischen und anti-muslimischen "War on Terror" gewiss nicht verringert.

Nach außern hin kann China ebenfalls - man verzeihe den bildlichen Ausdruck - eine Politik aus Nudelsuppe und Drachenkralle anwenden. Den großen geopolitischen Rivalen und ihren Verbündeten wird daher klar gemacht, dass Xinjiang kein Sandkasten für alle ist. Die Ordnung Xinjiangs droht im Streit zwischen den Mächten auseinanderzufallen, zerrissen zu werden von der eigenen multipolaren Stellung innerhalb einer multipolaren Welt. Ein Auseinanderfallen der staatlichen Ordnung in Xinjiang würde aber ganz China destabilisieren und auch im Rest des Landes die Ordnung gefährden. Chinesen und vor allem die chinesischen Eliten lieben aber die Ordnung im Reich der Mitte. "Ordnung muss sein" ist das Mantra der Han-Chinesen ebenso wie das der Eliten Chinas, die sich nur mit der staatlichen Ordnung halten können.

Eine Sezession des nordwestlichen Gebiets wäre für den chinesischen Staat nicht weniger als Selbstmord. Denn geopolitische Konkurrenten Chinas würden einem solchen "Ostturkestan" natürlich ebensowenig Ünabhängigkeit gewähren wie China. Der uigurische Separatismus würde notwendigerweise mit dem Imperialismus anderer Staaten verschmelzen. Allen voran die USA würden selbstverständlich, ganz ohne Zweifel, sofort ihren Einfluss geltend machen und ein "unabhängiges" Ostturkestan zur neuen Operationsbasis machen. China hätte damit die 5. Kolonne seines größten geopolitischen Konkurrenten direkt auf dem ehemals eigenen Territorium, sozusagen direkt vor der Nase, oder sogar wie ein Pickel auf der Nase.

Nach außen hin muss sich China zugleich bemühen, nicht zu viel Widerspruch zu provozieren. Entsprechend werden geopolitische Bündnisse angestrebt, um nicht aneinander zu geraten. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit ist das wichtigste Beispiel für solche Bündnispolitik, wobei das Zweckbündnis Chinas und Russlands alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber auch die zentralasiatischen Staaten sind von Bedeutung. Xinjiang ist umgeben von muslimisch geprägten Staaten wie Afghanistan, Pakistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Damit ist Xinjiangs die Brücke Chinas nach Zentralasien, aber auch der zentralasiatische Zugang zu China. Westliche Truppen könnten bei einem heißen Konflikt mit China über Xinjiang in das Land eindringen. Ein "unabhängiges" Ostturkestan als Teil eines imaginären türkischen Großreiches oder als Operationsbasis westlichen Militärs wäre noch viel anfälliger für eine geopolitische Ausnutzung des Gebiets durch dritte Staaten.

Die Widersprüche der sozialen Interessen in Xinjiang bzw. einem zukünftigen "Ostturkestan" sind also von großer geopolitischer Bedeutung. Sowohl für China wie auch für konkurrierende Mächte ist das Gebiet vom entsprechendem Interesse. Das staatskapitalistische China wird es daher unter keinen Umständen friedlich abgeben. Die uigurischen Separatisten stehen auf verlorenem Posten und ihre einzige Perspektive für das Gebiet kann eine Zerstückelung und Zerstörung der Lebensgrundlagen der Uiguren vor Ort sein. Sie täten gut daran, die einzige echte Alternative für den Status Quo zu fördern: die radikale Umwälzung des Staatensystems durch fortschrittlich gesinnte Bewegungen der unteren Klassen.

Die Brücke Zentralasien-China, Quelle: http://www.chinatravelca.com

Dienstag, 27. Mai 2014

Das uigurische Lamm zwischen den Raubtieren der Welt

Ein Propagandatext über Xinjiang und die globalen Rivalitäten im heutigen Kapitalismus.

Es ist ausgeschlossen, dass die Volksrepublik China unter kapitalistischen Bedingungen ihrem Autonomen Gebiet Xinjiang nationalstaatliche Unabhängigkeit gewährt. Die chinesischen Spitzenpolitiker werden, wenn sie den amerikanischen und europäischen Geopolitikern überlegen bleiben wollen, dergleichen nie und nimmer friedlich zulassen. Dafür ist Xinjiang für die klassenbewussten Kapitalisten der Welt geopolitisch zu bedeutsam.

Lamm, von rohkost.de
Eine Sezession des Gebiets wäre für den chinesischen Staat nicht weniger als Selbstmord. Denn geopolitische Konkurrenten Chinas würden einem solchen "Ostturkestan" natürlich ebensowenig Ünabhängigkeit gewähren wie China. Der uigurische Separatismus würde notwendigerweise mit dem Imperialismus anderer Staaten verschmelzen. Allen voran die USA würden selbstverständlich, ganz ohne Zweifel, sofort ihren Einfluss geltend machen und ein "unabhängiges" Ostturkestan zur neuen Operationsbasis machen. China hätte damit die 5. Kolonne seines größten geopolitischen Konkurrenten direkt auf dem ehemals eigenen Territorium, sozusagen direkt vor der Nase, oder sogar wie ein Pickel auf der Nase.

Eine derartig dilettantische Politik, eine ungewollte Politik der Selbstzerstörung, können europäische oder amerikanische Politiker betreiben, nicht aber chinesische, die kulturell bedingt Großmeister des Subtilen und Unausgesprochenen sind. Zugleich sind der chinesischen Geopolitik um Xinjiang enge Grenzen gesetzt. Die Innenpolitik kann allenfalls die inneren Spannungen in Xinjiang durch kluge sozialpolitische und kulturpolitische Maßnahmen dämpfen. Außerdem kommen zu den weichen Methoden noch polizeistaatliche Maßnahmen in Betracht.

Tatsächlich wurden seit dem 11. September 2001, nach dem Massaker von 2009 und den Anschlägen von April und Mai 2014 die polizeistaatlichen Repressalien ausgeweitet. Polizisten werden vermehrt und gezielt für den Gegen-Terror ausgebildet. Racial Screening, d.h. gezielte Repressalien gegen uigurisch aussehende Menschen auf den Straßen, ist nur eine problematische Nebenwirkung. Das Misstrauen zwischen Han-Chinesen und Uiguren wird durch die Agitation gegen "Separatismus, Radikalismus und Terrorismus" und durch den rassistischen und anti-muslimischen "War on Terror" gewiss nicht verringert.

Nach außen hin kann China ebenfalls - man verzeihe den bildlichen Ausdruck - eine Politik aus Nudelsuppe und Drachenkralle zusammenbrauen. Den großen geopolitischen Rivalen und ihren Verbündeten wird daher klar gemacht, dass Xinjiang kein Sandkasten für alle ist. Die Ordnung Xinjiangs droht im Streit zwischen den Mächten auseinanderzufallen, zerrissen zu werden von der prekären Stellung innerhalb einer multipolaren Welt. Ein Auseinanderfallen der staatlichen Ordnung in Xinjiang würde aber ganz China destabilisieren und auch im Rest des Landes die Ordnung gefährden. Chinesen und vor allem die chinesischen Eliten lieben aber die Ordnung im Reich der Mitte. "Ordnung muss sein" ist das Mantra der Han-Chinesen ebenso wie das der Staatsführung Chinas. 

Nach außen hin muss sich China zugleich bemühen, nicht zu viel Widerspruch zu provozieren. Entsprechend werden geopolitische Bündnisse angestrebt, um nicht aneinander zu geraten. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit ist das wichtigste Beispiel für solche Bündnispolitik, wobei das Zweckbündnis Chinas und Russlands alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber auch die zentralasiatischen Staaten sind von Bedeutung.

*Der Text wurde im Nachhinein stark gekürzt, da er futuristisch-mythologische Elemente enthielt, die für die meisten LeserInnen womöglich ganz unverständlich waren.

Der hässliche Leviathan, von CherryflavouredAcid, http://fc03.deviantart.net