Sonntag, 8. Juni 2014

Klassenherrschaft bei Pierre Bourdieu (Serie: Klasse-is-muss, Teil 3)

"Klassenherrschaft" ist laut dem Philosophen und Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) ein Ding feiner Unterschiede. Über diese Idee geht es im Folgenden. Teil 2 der lange zuvor angekündigten Serie "Klasse-is-muss".

Marx und Bourdieu


Ein Vergleich von Bourdieus Klassentheorie mit der Marxschen ist sinnvoll. Denn beide Theoretiker stellen Meilensteine der Gesellschaftsforschung dar. Bourdieus Klassentheorie ist der Marxschen in einigen Punkten überlegen und in anderen unterlegen.

Pierre Bourdieu
Anders als bei Marx ist bei Bourdieu Klassenherrschaft nicht vor allem eine Frage der Ausbeutung und Unterdrückung der unteren Klassen durch die oberen, sondern vor allem eine Sache der Distanzierung und Unterscheidung zwischen den Klassen.  Bei Bourdieu werden Klassen weniger wie bei Marx anhand ihres Verhältnisses zu den gesellschaftlichen Produktionsmitteln bestimmt, sondern anhand der Verteilung dessen, was er "Kapital" nennt. Auch interessieren Bourdieu die großen geschichtsphilosophischen Ideen des Marxismus weniger als die kleinen, feinen Unterschiede im alltäglichen Verhalten der Menschen.

Obwohl man Bourdieu nun von links scharf kritisieren könnte für Verharmlosung des Klassenkampfes von oben, sollte er gerade Linken, Kommunisten, Marxisten geläufig sein. Denn sein Konzept ist nicht zu unterschätzen.

Das "Kapital" bei Bourdieu


Bourdieus Kapital- und Klassentheorie ist nicht marxistisch, beruht aber auf der marxistischen Theorie. Bourdieu verwirft die marxistischen Ideen nicht einfach, sondern fügt sie in seine eigene Kulturtheorie ein. Damit verändern sie aber auch ihre Bedeutung. Bourdieu revidiert und assimiliert damit zentrale marxistische Ideen. Das ist der große Nachteil und zugleich ein Vorzug seiner Klassentheorie.

"Kapital" und "Klasse" sind bei Bourdieu sehr weit gefasst. Bourdieu zufolge hat wirklich jeder Mensch nicht nur eine Klassenstellung, sondern auch Kapital. Er ist daher auch kein antikapitalistischer Theoretiker, denn mit seiner Theorie ist eine klassenlose, nicht-kapitalistische Gesellschaft im Grunde nicht denkbar. Ihm zufolge haben alle Gesellschaften immer Klassen und Kapital. Damit ist Bourdieu mit seiner Theorie näher beim großbürgerlichen Soziologen Max Weber als beim kleinbürgerlichen Sozialisten Marx. Aber was versteht Bourdieu genau unter "Kapital"? Peter Zimmermann fasst es so zusammen:

Ökonomisches Kapital besteht schlicht und einfach in materieller Form, sei es Grundbesitz, Geld u.ä. und ist institutionalisiert in der Form des Eigentumsrechts. Ein erster Unterscheidungspunkt zwischen den verschiedenen Sozialschichten ist der Besitz und die Menge des ökonomischen Kapitals. Die Soziallage eines Menschen ist aber nicht nur hiervon abhängig

Ein zweite und für Bourdieu sehr wichtige Unterscheibarkeit liegt in dem Anteil von kulturellem Kapital. Dieses eignen wir uns mit Kultur an; wir "bilden uns" und arbeiten dabei gleichzeitig an uns selbst. Deshalb ist kulturelles Kapital auch immer mit der Person in ihrer biologischen Einzigartigkeit verbunden. Die Möglichkeiten zum Erwerb kulturellen Kapitals werden von der Familie bestimmt. Gibt diese ihren Kindern Raum und freie, von ökonomischen Zwängen befreite Zeit, dann häufen diese Kinder mehr kulturelles Kapital an als andere, denen nicht diese Gelegenheit gegeben wird. Hiermit erklärt Bourdieu die Ungleichheit der schulischen Leistungen von Kindern aus verschiedenen Sozialschichten. Die Kinder aus oberen Sozialschichten mit einem guten Polster aus kulturellem Kapital haben mehr Möglichkeiten, gute Schulabschlüsse zu erwerben als die Kinder aus unteren Sozialschichten. Besitz von kulturellem Kapital vergrößert die "Gewinnchancen", um im Leben ganz vorn und auf der Erfolgsleiter ganz oben zu stehen.

Sozialschichtabhängige Unterschiede des Habitus zeigen sich zusätzlich im Umfang und Ausmaß des sozialen Kapitals. Dieses besteht aus Ressourcen, die sich aus dem Beziehungsnetz eines Menschen ergeben. Soziales Kapital kann sehr schnell in "Mark und Pfennig" eingetauscht werden, wenn beispielsweise Beziehungen zu einer Berufskarriere oder wenn geschäftliche Kontakte zu guten Vertragsabschlüssen führen. Für eine reiche Ausbeute ist aber eine Kompetenz erforderlich: Die Herrstellung und Nutzung von Sozialkapital bedarf der unaufhörlichen Beziehungsarbeit.

"Kapital" ist bei Bourdieu im Grunde also eine Ansammlung von Fähigkeiten, Eigenschaften, sozialen Beziehungen und materiellem Besitz. Entsprechend gab es in diesem Sinne also schon immer "Kapital". Und entsprechend müsste es immer "Kapital" geben, solange es Menschen gibt. Denn jeder Mensch hat in diesem Sinne materiellen Besitz oder Fähigkeiten und Eigenschaften, die ihn von seinen Artgenossen scheiden oder einen. Der Kapitalbegriff von Bourdieu ist damit äußerst unscharf und schwammig.

Außerdem sind die Formen des "Kapitals" nach Bourdieu beliebig erweiterbar. Wieso wird nur zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital unterschieden? Wieso nicht auch zwischen symbolischem, geistigem, gesundheitlichem, rhetorischem, studentisch-gehetztem oder heuchlerischem Kapital? Bourdieu kann diese Frage nicht beantworten. Er selbst erweitert gelegentlich seine drei Formen von Kapital mit "Bildungskapital" oder ähnlichen Begriffen. Die Liste ist willkürlich. Bourdieus Kapitalbegriff ist willkürlich.

Auch das "ökonomische Kapital" ist bei Bourdieu ein ganz anderer Begriff als das Kapital nach Marx. Für Marx ist Kapital eine gesellschaftliche Beziehung, die die konkrete Stellung der Menschen und Klassen in der Gesellschaft abstrakt ausdrückt. Bei Marx ist das Kapital eine Form der zwischenmenschlichen Beziehung, die sich scheinbar verselbstständigt in Form von Ware, Geld, Lohn, Profit, Zins etc. und sowohl das Sein wie das Bewusstsein der Menschen prägt. Marx spricht hierbei von "Entfremdung" und "Fetisch", da das Kapital wie eine unheimliche, übermächtige, "fremde" Macht die Geschicke der Menschen zu bestimmen scheint. Das Kapital, das eigentlich nur soziale Beziehungen ausdrückt, wird im Bewusstsein der Menschen zum religiösen "Fetisch", wenn das Kapital nicht als Beziehung zwischen Menschen begriffen wird. In Wirklichkeit sind die kapitalistischen Kategorien wie Ware und Geld bloß zwischenmenschliche Verhältnisse, die im Kapitalismus zu festgefahrenen gesellschaftlichen Verhältnissen werden. Marx selbst schreibt:

Es ist ein bürgerliches Produktionsverhältnis, ein Produktionsverhältnis der bürgerlichen Gesellschaft. … Das Kapital besteht nicht nur aus Lebensmitteln, Arbeitsinstrumenten und Rohstoffen, nicht nur aus materiellen Produkten; es besteht ebensosehr aus Tauschwerten. Alle Produkte, woraus es besteht, sind Waren. Das Kapital ist also nicht nur eine Summe von materiellen Produkten, es ist eine Summe von Waren, von Tauschwerten, von gesellschaftlichen Größen.

Man sieht, dass Bourdieus Kapitaltheorie und Marxens Kapitaltheorie ganz verschieden sind. Bourdieus "ökonomisches Kapital" besteht also "schlicht und einfach in materieller Form, sei es Grundbesitz, Geld u.ä. und ist institutionalisiert in der Form des Eigentumsrechts", während das kapitalistische "Kapital" bei Marx "nicht nur aus Lebensmitteln, Arbeitsinstrumenten und Rohstoffen, nicht nur aus materiellen Produkten" besteht, sondern "ebensosehr aus Tauschwerten" und "Waren".

Bourdieu mischt seinen kulturwissenschaftlichen, postmodernen Ansatz mit der bürgerlichen Ökonomie, sodass seine Ideen insgesamt eine bürgerlich-ökonomistische Gesellschaftstheorie ergeben, die nicht über die Kapitalismus und Klassengesellschaft hinausweisen. Marx hingegen kritisiert die bürgerlichen Ökonomisten mit seiner historischen und dialektischen Gesellschaftstheorie und ermöglicht damit Perspektiven der Überwindung von Kapitalismus und Klassengesellschaft. Der Unterschied könnte größer nicht sein. Das äußert sich auch in den verschiedenen Begriffen von "Klasse" bei Bourdieu und Marx.

Die "Klasse" bei Bourdieu


Wie bei Weber und Marx ist bei Bourdieu die Klasse eine Ansammlung ähnlicher Eigenschaften verschiedener Menschen im Gegensatz zu den Eigenschaften anderer Menschen. Allerdings unterscheiden sich Weber und Bourdieu von Marx darin, dass Marx die ideologischen Nebenprodukte und sozialen Nebeneffekte aus dem Produktionsprozess bzw. aus den Eigentumsverhältnissen ableitet. Weber und Bourdieu stellen einfach nur eine Korrelation verschiedener Merkmale fest. Dabei ist die Stellung im Produktionsprozess nur ein Merkmal unter vielen. Auch das Privateigentum an Produktionsmitteln ist bei ihnen nur ein Merkmal unter vielen. Bourdieu schreibt z.B. in diesem Sinne:

Eine gesellschaftliche Klasse ist nicht nur durch ihre Stellung in den Produktionsverhältnissen bestimmt, sondern auch durch den Klassenhabitus, der 'normalerweise' (d.h. mit hoher Wahrscheinlichkeit ) mit dieser Stellung verbunden ist.
Da Bourdieus Klassentheorie eher bürgerlich als marxistisch ist, sind auch die einzelnen Thesen seiner  Theorie meist bürgerlichen Ideen verpflichtet. So werden zwar wie bei Marx, Weber oder Dahrendorf Klassenkonflikte herausgearbeitet. Aber bei Bourdieu fehlt die Feststellung der antikapitalistischen Tendenz im Kampf der Klassen. Arbeiter, Bauern und "die unteren Schichten" überhaupt kämpfen Bourdieu zufolge zwar mit den Herrschenden, aber dieser Kampf ist politisch zunächst einmal für eine Revolution gleichgültig. Auch erscheint die kommunistische Revolution für diesen Kampf als unerheblich. Klassenkampf und Revolution sind bei Bourdieu völlig verschiedene Sachen.

Bei Marx ist Klassenkampf im Kapitalismus identisch mit dem allmählichen Sieg der revolutionären Bewegung aufstrebender Klassen über die Konterrevolution der herrschenden Klassen. Revolutionen sind für Marx das versteckte Wesen und Ziel aller Klassenkämpfe. Und nach Marx sind die herrschenden Klassen diejenigen Klassen, die gerade den Produktionsprozess und die Staatsmacht dominieren oder sogar direkt kontrollieren. Deswegen werden aufgestiegene Kleinbürger unter Umständen Teil der "Herrschenden", aber für gewöhnlich sind sie bloß Handlanger der Herrschaften oder Verbündete der unteren Schichten.

Bei Bourdieu sind Revolutionen mehr oder weniger glückliche Zufälle oder Verschwörungen. Das eint ihn und die bürgerlichen Gesellschaftstheoretiker. Bei Bourdieu verlaufen die Klassengegensätze entlang von kaum identifizierbaren Linien des Besitzes von "Kapital". Deswegen sind noch so ohnmächtige und arme Intellektuelle bei ihm mehr oder weniger Herrschende, denn sie haben ja viel "kulturelles Kapital".

Teile des Kleinbürgertums außerhalb des Staatsapparats und ohne direkte ökonomische Macht gelten ebenso als Teil der herrschenden Klassen wie ultrareiche Konzernchefs und die mächtigsten Diktatoren. Auch ein Lohnarbeiter mit relativ hohem Gehalt hat Bourdieu zufolge ökonomisches "Kapital" und könnte als gebildeter Mensch oder Mensch mit guten Kontakten Teil der "Herrschenden" sein.

Wer entweder sehr viel ökonomisches, oder soziales, oder kulturelles Kapital hat, kann gemäß Bourdieu zu den "herrschenden" Klassen gezählt werden. Bourdieus zu weit gefasster Klassenbegriff führt zu diesem schwammigen Begriff der Herrschenden. Und diese Schwammigkeit führt zum schwammigen Verständnis der Klassengegensätze und Revolutionen.

Bourdieu nennt u.a. folgende Fraktionen der herrschenden Klasse: "Gymnasiallehrer", "Hochschullehrer", "Führungskräfte im öffentlichen Sektor", "Freie Berufe", "Ingenieure", "Führungskräfte im Privatsektor", "Industrieunternehmer", "Handelsunternehmer", "Industrielle" und "Handelsunternehmer". Es mag stimmen, dass einzelne Hochschullehrer und Gymnasiallehrer einzelne Menschen (Schüler, Studenten und Sekretärinnen, Ehefrauen) unterdrücken, ausbeuten oder beherrschen. Aber wie sinnvoll scheint es, alle Lehrer und Professoren zu den Herrschenden zu zählen?

Es mag sein, dass diese Menschen nicht mehr arbeiten als weniger bezahlte Menschen und daher durch höhere Einkommen andere Menschen indirekt "ausbeuten". Aber sie daher zu Herrschern zu erklären, kann zurecht ein wenig maoistisch wirken. Denn in gebildeten und besser bezahlten Arbeitern und Angestellten die herrschende Klasse zu erblicken, ist im besten Falle übertrieben und im schlimmsten paranoid. In der maoistischen "Kulturrevolution" wurden Intellektuelle und Beamte entsprechend terrorisiert und ganz unabhängig von ihrer politischen Gesinnung und ihrer realen Ohnmacht zum Feind erklärt. Bourdieus Theorie und die maoistische Theorie dienten zwar völlig unterschiedlichen Zwecken, ähneln sich aber in ihrer Schwammigkeit.

Politische Folgen der Begrifflichkeiten bei Bourdieu


Die Schwammigkeit der Kapital- und Klassentheorie bei Bourdieu hat politische Folgen. Zumindest in "Die feinen Unterschiede" von Bourdieu ist das Konzept der Klassenherrschaft für den ultraradikalen Habitus von aufmüpfigen Kleinbürgern und Intellektuellen anfällig. Die Oppositionen und Konflikte zwischen Eltern und Kindern, LehrerInnen und SchülerInnen, ProfessorInnen und StudentInnen können mit Bourdieu ebenso als Klassenkonflikte wie als Konflikte zwischen Herrschenden und Beherrschten verstanden werden. Das mag "kulturrevolutionär" und maoistisch sein, aber ist nicht unbedingt marxistisch und wirklich revolutionär. Denn so begründet der Protest gegen die kleinen Autoritäten das Alltags auch sein mag, er ist dennoch im seltensten Fall das selbe wie die Herrschaft der Kapitalistenklasse.

Der Unterschied zwischen der Unterdrückung und Ausbeutung durch die herrschenden Kapitalisten und alltäglicher Unterdrückung innerhalb der verschiedenen Klassen ist groß. Die Kapitalisten und die großen Politiker herrschen in der Tat. Und sie beuten systematisch aus. Die Eltern, Lehrer oder Professoren unterdrücken vor allem. Aber sie herrschen kaum und beuten kaum aus, selbst wenn sie herrsüchtig, autoritär und gierig sein mögen. Dann sind sie allenfalls Möchtegern-Diktatoren. Die echten Diktatoren sind Kapitalisten und ihre politischen Vertreter.

Der Kapitalbegriff bei Bourdieu verwischt den Unterschied zwischen den verschiedenen Formen der Warenwirtschaft. Tauschwaren, einfaches Geld als Zahlungsmittel, Arbeiterlohn, Angestelltenlohn, das Einkommen des kleinen Ladenbesitzers und das ganz große Kapital der Konzerne und Aktienbesitzer werden so in eins gesetzt. Das kritische Potenzial des Kapitalbegriffs wird damit entwertet, inflationär und verliert damit die große Bedeutung, die er bei Marx hat.

Wenn jeder "Kapital" hat, kann im Grunde jeder als "Kapitalist" gelten. Das ist aber blanker Unsinn und eint wiederum Bourdieus Theorie mit der neoliberalen Theorie, wonach Arbeiter mit einem Sparbuch oder Bausparvertrag auch "Kapitalisten" seien. Solche Schwammigkeit in der Klassentheorie verliert jede kritische Bedeutung, sofern sie nicht wieder in eine revolutionäre Praxis oder Theorie eingebettet wird.

Wenn Kapital also im Grunde das selbe ist wie die Fähigkeit, Menschen zu beeinflussen - ob durch wirtschaftliche Mittel, Kultur oder sozialen Status -, dann ist Kapital das selbe wie menschliche Tätigkeit, jede Form der Praxis oder ganz einfach: die Gesellschaft. Dann wird aber jede Gesellschaft immer eine "Klassengesellschaft" sein, die voll und ganz vom Kapital beherrscht ist. Das ist die Grundidee der bürgerlichen Ökonomen, die Marx so oft verspottet hat, aber gewiss keine revolutionäre Theorie.

Im Gegenteil: Die Theorie von Bourdieu kann trotz all seiner Sympathie für die unteren Schichten bürgerlich und konservativ gelesen werden. Denn wenn das revolutionäre Potenzial der Arbeiterklasse nicht aus ihrer Klassenlage in der Produktion und der Macht gegenüber dem Kapital kommt, wie etwa nach Marx, dann gibt es prinzipiell keinen Grund mehr, den Fokus auf das Proletariat zu legen. Den proletarischen Sozialismus erklärt Bourdieu also halb für tot, während er ihn halb mit links orientiertem Aktivismus gleichsetzen muss.

Die Klassen- und Kapitaltheorie von Bourdieu ist für Kulturwissenschaften und zur Ergänzung der marxistischen Theorien gut, aber nicht, um sie zu ersetzen. Eine praktische Orientierung für proletarische Sozialisten im Verbund mit anderen Vertretern der unterdrückten Klassen bietet Bourdieus Theorie alleine nicht. Gut bezahlte Arbeiter und Angestellte könnten gemäß Bourdieu ebenso zu den Herrschenden gezählt werden wie Lehrer, Professoren und belesene Arbeitslose.

In einer unpraktischen soziologischen Theorie ist so die These der herrschenden Arbeitslosen und Lehrer kein Problem. Für die marxistische Theorie ist dergleichen fatal, weil sie als Handlungsanleitung für Revolutionäre praktisch sein muss. Und die Arbeitslosen als Herrschende zu sehen würde für Revolutionäre nur Sinn ergeben, sofern darunter die nicht arbeitenden Kapitalisten verstanden werden. Ansonsten ist diese These zu verwerfen.

Für Bourdieu sind alle Gesellschaften immer zugleich Klassengesellschaften und Kapital produzierende Gesellschaften. Damit verewigt er theoretisch diese zwei besonderen Formen von Gesellschaft. Der Kommunismus, die Bewegung, die die jetzigen Klassenspaltungen beendet, oder eine klassenlose und nicht-kapitalistische Gesellschaft ist mit Bourdieu kaum vorstellbar.

Gerade die Konzentration auf den Produktionsprozess ist aber ein großer Vorzug der Marxschen Klassentheorie. Ohne die marxistische Grundidee, dass die Art und Weise der Produktion und das Eigentum an der Produktion die gesellschaftlichen Beziehungen allgemein und die Klassenverhältnisse im Speziellen formen, geht die gesamte marxistische Gesellschaftstheorie zu brüche. Deswegen versuchen Nicht-Marxisten auch immer, die marxistische Theorie der Arbeit, der Produktion und der Produktionsweisen zu ignorieren oder zu widerlegen. Manchmal erfinden sie neue Ersatztheorien. Meistens kramen sie bloß Versatzstücke längst widerlegter Theorien wieder aus. In jedem Falle tendieren solche Theorien dann dazu, die bürgerlichen Verhältnisse zu verewigen, zu verharmlosen oder einfach zu verschleiern. Mit Marxismus und ernsthafter Gesellschaftskritik hat das oft wenig zu tun. Gewisse "Linke", Anarchisten, Postmodernisten, Liberale, Konservative und Nationalisten stehen damit oft im gemeinsamen Gegensatz zu den Marxisten.

Ohne den Fokus auf die Arbeit und die Arbeiterschaft in der kapitalistischen Produktion entfallen die wichtigsten Erkenntnisse von Marx und der gesamten marxistischen Tradition. Bourdieu kann mit seiner Theorie die Revolutionstheorie von Marx zwar nicht widerlegen, aber auch nicht bestätigen. Bourdieus Theorie ist keine revolutionäre Klassentheorie, sondern bloß ein gesellschaftskritisches und in höchstem Maße feines Konzept der Klassendifferenzierung im Kapitalismus. Dieses Konzept birgt zwar antikapitalistische Kritik in sich, aber bleibt im Kern eine bürgerliche Theorie und für bürgerliche Ideologie leicht anschlussfähig. Sofern die Erkenntnisse von Bourdieu historisiert und materialistisch gewendet werden, können sie die sozialistische Bewegung aber enorm bereichern.

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