Montag, 16. Dezember 2013

Die "Nachklassengesellschaft" in Soziologen-Köpfen

Art, Determinanten und Folgen des sozialen Wandels bei Bell, Beck und Schimank


a) Grundprobleme soziologischer Theorien


Die Soziologen Bell, Beck und Schimank bieten soziologische Theorien der sozialen Ungleichheit, der Differenzierung und der Integration. Alle drei Soziologen gehen damit wichtige Probleme der Soziologie an, können aber keine befriedigende Lösungen bieten, da es bereits sozialtheoretische Konzepte gibt, die die soziale Realität scheinbar besser fassen können.

Diese Hauptthese soll im Folgenden konkretisiert werden anhand weiterer Thesen. Die Soziologen haben üblicher Weise mehrere Probleme, die auch Bell, Beck und Schimank teilen.

1. Eines ist die Loslösung soziologischer Forschung von gesellschaftsverändernder Praxis außerhalb der Forschung. Soziologen erforschen die soziale Realität anhand von eigener empirischer Forschung, eigener theoretischer Abstraktion, eigener Alltagserfahrung und theoretischen Quellen Anderer. Aber es mangelt oft aufgrund ihrer Spezialisierung als Soziologen an relevanten Einblicken in politische Praxis. Die negativen Effekte der Differenzierung treffen auch den Soziologen und die Soziologie als Disziplin, die noch immer daran leidet, dass sie zwar die Gesellschaft als Ganzes begreifen will, aber einen Großteil der Erkenntnisse aus anderen Disziplinen und Lebensbereichen ignoriert. - Das impliziert unpraktische soziologische Ideen.

2. Ebenfalls aufgrund der Differenzierung bzw. Arbeitsteilung fehlt es den Soziologen oft an relevanten Einblicken in politische Praxis. Sie haben sogar als “politische Soziologen” nur selten praktische Erfahrung mit Politik als Beruf oder mit sozialer Revolution als Berufung. Ihre Wahrnehmung ist daher natürlich eine äußerst selektive, selbst wenn sie sich Mühe geben. - Das impliziert unpraktische soziologische Ideen.

3. Das nächste Problem ergibt sich hieraus. Soziologen stellen oft wichtige Fragen, die sich der Gesellschaft insgesamt auch stellen. Aber die Antworten ignorieren oft, welche “funktionalen Erfordernisse die Gesellschaft” (Schimank 1999: S. 60) aufweist. Fragen nach den Selbstmordraten bei Katholiken und Protestanten, nach Entwicklungsprinzipien der Gesellschaft, nach Gruppenzugehörigkeit, sozialer Ungleichheit, Differenzierung, Integration etc. sind wichtig für die Gesellschaft, wenn ihre theoretische Beantwortung in der Soziologie praktisch relevante Umwälzungen in der Gesellschaft stützen. Soziologen halten sich aber allzu oft fern von solchen praktischen Umwälzungen, indem sie die Arbeitsteilung zum Fetisch machen und sich nicht in der Rolle des Soziologen und Politikers zugleich sehen, sich also nicht als engagierten Soziologen verstehen. - Das impliziert unpraktische soziologische Ideen.

4. Es gibt bereits soziologische Theorien und Theoretiker, die die Einheit mit der Praxis umgesetzt haben oder umsetzen. Die Soziologie darf sie nicht vernachlässigen, wenn sie nicht zu einer irrelevanten Sekte verkommen will. Denn sonst kann man leicht behaupten: Das impliziert unpraktische soziologische Ideen.

b) Die soziologischen Grundprobleme bei Bell, Beck und Schimank


Anhand von Bell, Beck und Schimank lässt sich veranschaulichen, dass diese typisch soziologischen Defizite auf sie zutreffen dürften. Nach Bell ist die Veränderung der Produktion, ihrer Methoden, Ziele und Nebeneffekte die zentrale Determinante für die Art des Wandels: die Überwindung überkommener Produktionsmethoden, des dominierenden Gesellschaftsprinzips und dominanter Klassen. Der Wandel habe, so muss man mit Bell folgern, eine Auflösung des Klassenkampfes und der der herrschaftskonformen Ideologie, eine Dominanz von Wissenschaft und Dienstleistung, und entsprechend von Wissenschaftlern und Kopfarbeitern zur Folge. Letztlich könnte er auch den Begriff einer “Nachklassengesellschaft” verwenden, wie Beck es tut. Aber dazu kommen wir nach der Behandlung der anderen beiden Autoren.

Beck behauptet im Kern, dass die Expansion von Sozialstaat und Bildungssytem die kapitalistische Klassengesellschaft in einer kapitalistische “Nachklassengesellschaft” verwandelt habe. Das habe zu einer Auflösung traditionaler Bindungen und Identitäten einerseits und zur Bindung und Identitätsbildung durch neue Institutionen andererseits geführt. Individualisierung, das Aufkommen von individuellen Bastelbiographien über Klassenlagen hinweg, die Entstehung neuer Identitäten durch Lebenswandel und Irrelevanz von Klassenlagen für Identitäten und Handlungen sind laut Beck die weitreichenden Folgen von wohlfahrtsstaatlicher und bildungsmäßiger Expansion seit den 1950er Jahren. Die Soziologie solle die “Zombiekategorien” Klasse, Stand, Klassengesellschaft, Klassenkampf etc. aufgeben und neue Begrifflichkeiten finden, die die nachklassengesellschaftlichen Realitäten besser erfassen.

Laut Schimank differenzieren sich gesellschaftliche Teilsysteme und das gesellschaftliche Gesamtsystem. Die Determinante ist für ihn genauso wie für Parsons und Luhmann ein Differenzierungsdeterminismus. Gesellschaft habe es so an sich, sich immer weiter auszudifferenzieren. Und die Teilsysteme konzentrieren sich auf einen bestimmten, jeweiligen Bereich. Es gibt daher auseinanderstrebende Tendenzen im Gesamtsystem, die die Systemintegration gefährden. Integration werde aber durch kulturelle Werte (Parsons) oder kaum erklärbare Integrationsmechanismen (Luhmann) sichergestellt.

Alle drei Forscher behaupten im Grunde im Einvernehmen, trotz sehr unterschiedlicher Konzepte, dass die alte Vorstellung von kapitalistischer Klassengesellschaft obsolet geworden sei. Man müsse neue Kategorien entwickeln, die die alten kämpferischen Begriffe ersetzen. Nun seien Wissenschaftler und Dienstleister wie bei Bell, Individuen und askriptive Konfliktgruppen wie bei Beck oder teilsystemrelevante Berufsgruppen wie bei Schimank gesellschaftlich dominant und für die Soziologie von primärem Interesse. Die Großgruppen wie Klasse und Stand sind demnach hingegen uninteressant geworden.

Alle Kategorien von Marx und seiner Schüler werden auf diese Weise entradikalisiert oder ganz verworfen. Das ist jedoch fatal für eine Soziologie, die die soziale Realität mit praktisch relevanten Begriffen erfassen und praktisch veränderbar machen möchte.

Woran lässt sich der Vorwurf festmachen? Einige gezielte Kommentare zu ausgewählten Zitaten der jeweiligen Theoretiker dürften helfen. Aber zunächst hilft der Verweis auf die Marxsche Betrachtung von Gesellschaft vielleicht.

Bei Marx und den besseren Marxisten sind die Veränderungen der Produktivkräfte, der Klassenverhältnisse und der Bewusstseinsformen bzw. ideologischen Formen zugleich Determinanten und Folgen. Sie sind konstante, aber sich verändernde Kategorien in der Klassengesellschaft. Sie sind auch usschlaggebend dafür, dass die Produktivkräfte einerseits explodieren und teilweise zu weitgehenden Veränderungen führen, dass sie andererseits zugleich durch Klassenverhältnisse gehemmt oder destruktiv umgeformt werden. Außerdem werden die Klassenverhältnisse durch Schübe der Globalisierung, wohlfahrtsstaatlichen Korporatismus, sozialstaatliche Absicherung, Ideologien im Sinne der Herrschenden und die ungleiche und kombinierte Entwicklung zugunsten des Kapitals verschoben. Das trifft auf die Gesellschaft seit den 50ern in hohem Maße zu und hat sich seit Mitte der 70er enorm zugespitzt. In den letzten zwei Dekaden hat sich jedoch eine Bewusstseinsformierung und Organisation der unteren Klassen und ihrer politischen Vertreter ereignet, sodass es zu einer auffälligen Rückkehr der Klassenkämpfe von beiden Seiten, zu Klassenkampf “von oben” ebenso wie “von unten”, gekommen ist. Es hat sich erwiesen, dass nicht nur so inhaltsarme Begriffe wie Schicht und Status, sondern auch Begriffe wie Milieu, Stand, Klasse, Klassenkampf und Klassendifferenzierung wieder an Relevanz gewonnen haben, wenn sie sie überhaupt je verloren hatten. Lässt sich das begründen?

Zentrale Thesen von Bells sind zusammen genommen eine einzige Katastrophe für gutes soziologisches Denken, weil er gerade die grundlegendsten Kategorien (sogar die “Totalität”) verwirft. Aber an Katastrophen kann man ja zum Glück wachsen und reifen. Bell schreibt von der

“Schaffung einer technisch-akademischen Klasse, die die Führung der Gesellschaft übernimmt, so wie ehedem der angelernte Arbeiter für die Industriegesellschaft kennzeichnend war.” (Bell 1979: S. 16) 

Aber wer würde heute ernsthaft behaupten, dass die Techniker und Akademiker die (Welt)Gesellschaft anführen? Was hat diese These überhaupt noch mit der Realität zu tun? Er warnt andererseits ganz richtig: “Sozialer Wandel läßt sich nicht einfach durch Konzentration auf die Eigentumsverhältnisse als einzige Achse erzielen.” (Bell 1979: S. 16) Das stimmt. Eigentumsverhältnisse sind nur ein Aspekt des Wandels, der auch vom Aspekt des Zufalls, der Ökologie, der Machtvermittlung usw. bedingt wird. Aber um das zu wissen, muss man nicht gleich das marxistische Kind mit dem eigentumszentrierten Badewasser auskippen. Das tut Bell aber, indem er weiterhin DIE zentrale Frage der Gesellschaftsforschung wörtlich stellt, aber sie sogleich völlig falsch beantwortet:

“Die theoretische - und praktische - Frage ist nun, welche Faktoren heute einen Wandel in der Gesellschaft herbeiführen. Jedenfalls nicht Klassenverhältnisse und Klassenbildungen, denn diese sind ihrerseits nur das Ergebnis von Änderungen, die teils von Wissenschaft und Technologie, teils - was jedoch außerhalb unserer Betrachtungen liegt - von politischen Kräften wie dem Aufstieg neuer ethnischer Gruppen, bewirkt werden.” (Bell 1979: S. 17) 

Er leugnet die Marxsche Theorie des sozialen Wandels durch Klassenkonflikte, weil sie nicht der primäre Motor für Wandel seien, nur um in der unfassbar oberflächlichen These zu verenden, dass Wissenschaft, Technologie und der Aufstieg neuer ethnischer Gruppen die primären Motoren des Wandels seien. Wie soll man als Wissenschaftler solche Thesen ernst nehmen?

Bei Schimank wird dagegen das Dilemma im Brennpunkt zwischen Parsons und Luhmann deutlich. Parsons geht davon aus, dass jede stabile Gesellschaft von Werten zusammengehalten wird. Wenn sie instabil wird, fehle es andererseits an allgemeingültigen Werten. Schimank interpretiert Luhmann dagegen so, dass die Systemintegration nach Luhmann große Verwunderung auslösen muss. Denn die

“Politik begreift sich als gesellschaftliche Steuerungsinstanz - aber das ist, so könnte man sagen, lediglich ihre eigene Lebenslüge und damit ein selbstgeschaffenes Problem, weil die Politik so allermeistens zu registrieren hat, dass ihre entsprechend deklarierten Bemühengen scheitern.” (Schimank 1999: S. 58) 

Noch schlimmer ist eine andere These Luhmanns, wie Schimank sie darstellt:

“Jedes Teilsystem stellt einen in sich geschlossenen Operationszusammenhang dar, der auf nichts außerhalb hinweist. Die juristische, die wirtschaftliche oder die politische Kommunikation über das Zugunglück reden im wahrsten Sinne des Wortes aneinander vorbei, weil sie stets nur mit sich selbst reden.” (Schimank 1999: S. 51) 

Einen noch größeren Unsinn kann man kaum verschriftlichen! Luhmanns Systemtheorie hat von der Realität scheinbar nur den oberflächlichsten Begriff. Oder wie will er erklären, dass sich Stilrichtungen in der Kunst, etwa der russische Avantgardismus oder der sozialistische Realismus voll und ganz von dem politischen Großereignis der Oktoberrevolution haben vereinnahmen lassen? Wie lässt sich das Aufkommen der faschistischen Ästhetik, der feministischen Geschichtsforschung, der postmodernen Soziologie etc. erklären? Neue “Teilsysteme” sind mehr oder weniger bewusste Reaktionen, soziales Handeln, von Gesellschaftsgliedern auf soziale Tatbestände. Schimank weiß das und kritisiert Luhmann dahingehend. Aber er selbst verwirft die wichtigen Kategorien des Klassenkampfes

Beck stellt nachvollziehbar fest:

“Tatsächlich haben breite Bevölkerungskreise durch die Anhebung des Lebensstandards im Zuge des wirtschaftlichen Wiederaufbaus in den fünfziger und sechziger Jahren Veränderungen und Verbesserungen in ihren Lebensbedingungen erfahren, die für ihre eigenen Erfahrungen einschneidender waren als die nach wie vor fortbestehenden Abstände zu den anderen Großgruppen.” (Beck 1986: S. 122) 

Und Beck fragt selbstkritisch nach den Folgen der Individualisierungsthese für die Soziologie:

“Kommt mit dem Begriff des Individualisierungsprozesses nicht zwangsläufig die Soziologie an ihr frühes Ende, wird ihr möglicherweise damit das Sterbeglöcklein geläutet?” (Beck 1986: S. 130) 

Aber er antwortet sehr merkwürdig, indem er die Individualisierungsthese verteidigt und die Großgruppenkategorien für irrelevant erklärt. Er ist also ebenso wie Schimank und Bell knapp an einer realistischen Theorie der Gesellschaft vorbeigeschlittert. Schade für die Soziologie und für die Gesellschaft.

Literatur


Beck, Ulrich, 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Bell, Daniel, 1975: Die nachindustrielle Gesellschaft. Frankfurt/New York: Campus Verlag.

Schimank, Uwe, 1999: Funktionale Differenzierung und Systemintegration in der modernen Gesellschaft, S. 47-65 in: Jürgen Friedrichs und Wolfgang Jagodzinski (Hg.) Soziale Integration. Sonderheft der KZfSS. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen