Freitag, 2. Mai 2014

Die christliche Erlösungsutopie bei Dostojevskij (Serie: Marxismus und Kunst, Teil 5)

Fjodor Dostojevskij war zweifellos einer der bedeutendsten Schriftsteller der Weltliteratur. Schon alleine deswegen lohnt es sich, sich mit seinem Schaffen intensiv zu beschäftigen. Aber auch sein privates Leben und seine innere Verfasstheit sind äußerst beeindruckend. Sein literarisches Schaffen und seine Entwicklung als Mensch hängen zudem offensichtlich sehr eng zusammen. Wie bei Majakovskij ist auch beim Studium von Dostojevskij nicht nur das Private als politisch aufzufassen, sondern auch als Kontext seines literarischen Schaffens. Darum soll es im Folgenden gehen.

Passion und Utopie eines skeptischen Gläubigen


Geboren wurde Dostojevskij am 30. Oktober 1821, praktisch zu Halloween, dem "Tag vor Allerheiligen", an dem heute ganz unbeschwerlich die Unruhe zelebriert wird. Unruhig war Dostojevskijs Leben in der Tat. Unbeschwert war es hingegen selten. Schon früh suchten den jungen Fjodor "Dämonen" heim. Mit achtzehn Jahren schrieb er an seinen Bruder Michail, dass er das Mysterium der menschlichen Persönlichkeit ergründen wolle:

"wenn du dein Leben damit hinbringst, so sage nicht, daß du deine Zeit vergeudet hast. Mich interessiert dieses Mysterium, weil ich den Wunsch habe, ein Mensch zu werden."

Sein Biograf Janko Lavrin merkt über diesen Wunsch Dostojevskijs, "ein Mensch zu werden" in Bezug auf sein literarisches Schaffen an:

"Er hat gewiß sein Bestes getan, um dies Mysterium zu ergründen. Und die Protokolle seines Suchens und Findens sind eingegangen in seine Werke, die meist aufs engste mit den Krisen seines eigenen Geistes, mit seinem inneren und äußeren Leben verknüpft sind. Daher kann eine Biographie Dostojevskijs, auch wenn sie nur kurz ist, als nützliche, ja, notwendige Einführung in sein Werk dienen. Und das um so mehr, als sein Leben ebenso außergewöhnlich war wie seine Romane und Novellen."

Dostojevskij entstammte "einer verarmten Familie des Landadels", wobei der Vater ein Doktor der Medizin und die Mutter Kaufmannstochter war. Sein Biograf schreibt über die Stellung Dostojevskijs in der zaristischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts:

"Dostojevskijs Herkunft war also in sozialer und berufsständischer Hinsicht heterogen. Und ungeachtet der Tatsache, daß er sich selbst gern als Edelmann bezeichnete, blieb seine unstete Existenz - bis auf die letzten Jahre seines Lebens - eher die eines Bürgerlichen oder gar die eines Proletariers."

Er hatte also schon über die Familie Kontakt zu verschiedenen Schichten und Klassen, aber seine Berührung mit den Klassen im Zarenreich intensivierte sich um ein Vielfaches. Zum einen musste er sich als angehender Schriftsteller zunächst einen Ruf aufbauen. Bis dahin hatte er das typische Leben eines armen Adelsjungen gelebt. Und nach dem ersten Durchbruch kam er aufgrund politischer Umtriebe für vier Jahre in ein Straflager im tiefsten Sibirien, in frostigen Omsk. Dort lernte er das niedrigste und gesellschaftlich am tiefsten stehende Gesindel kennen: andere politische Häftlinge und elende Verbrecher ebenso, natürlich aber auch die richtig fiesen Kriminellen, Lagerwachen und Polizisten. Nachdem er seinen Ruf hat wiederherstellen können und sozial wieder aufstieg, kam er auch in den Kontakt zur russischen und europäischen Großbourgeoisie und zum hohen Adel. Er hatte also praktisch mit allen Schichten und Klassen eigene Erfahrungen gemacht und diese meisterhaft in seinem Werk verarbeitet. In seinen Texten wimmelt es daher von verschiedensten Menschentypen, Mitgliedern verschiedenster Milieus und allen möglichen Ideen und Situationen, die nur jemand mit Dostojevskijs Erfahrungen so realistisch darstellen konnte. Den kritischen Realismus seines Talents kann man nicht leugnen, es sei denn, man will sich Idiotismus vorwerfen lassen. Dostojevskij ist nicht zuletzt durch die hervorragende literarische Verarbeitung seiner persönlichen Erlebnisse zu einem der gewaltigsten Autoren der Literaturgeschichte geworden.

Aber wie kam es zur Entwicklung dieses Ausnahmetalents? Aus dem Leben selbst! Probieren geht seit jeher über Studieren. Von Nichts kommt meist noch immer Nichts. Und das Wenigste in seinen abgründigen Kriminalromanen und literarisch dargestellten Anschauungen musste Dostojevskij frei erfinden. Die Realität, die er als Läufer zwischen den Klassen erlebt hatte, lieferte ihm all den nötigen Stoff, um seine zeitlosen Werke zu formen. Sowohl die eigenartigen Menschensorten wie auch die sonderbaren Ideen und die absonderlichen Situationen hat er aus dem wilden Strom des Lebens geschöpft. Dafür musste er sich nicht einmal auf ethnologische Forschung einlassen. Er hat ja bereits mitten im Schlamassel gestanden, das er verbal nur noch ausschmücken und wiedergeben musste.

Wie kam er aber vom verarmten Adel zur Bekanntschaft mit den untersten Schichten der Gesellschaft? In seiner Jugend genoss er trotz oder gerade wegen eines tyrannischen Vaters eine gute Bildung. Er verehrte die Russen Puschkin, Gogol und Lermontov. Er studierte die Briten Shakespeare, Byron und Dickens ebenso wie die Franzosen Hugo und Balzac. Unter den Deutschen liebte er Hoffmann, Goethe und vor allem Schiller, den er auswendig lernte. Der tiefe Eindruck dieser Schriftsteller äußerte sich in seinem ersten großen Werk, Arme Leute, von 1845. Sein Freund Dmitrij Grigorovitsch war von dem Roman begeistert und zeigte es dem Dichter Nekrasov. Der wiederum war derart beeindruckt, dass er den Roman sofort durchlas und den talentierten Nachwuchsautor zusammen mit Grigorovitsch noch in der selben Nacht weckte, um ihn zu feiern. Buchstäblich über Nacht wurde Dostojevskij zur Sensation. Er selbst beschrieb es so:

"Überall treffe ich auf höchst erstaunliche Beachtung und riesiges Interesse [...] Ich habe die Bekanntschaft einer Menge einflußreicher Leute gemacht. Fürst Odojevskij bittet mich um die Ehre eines Besuches, und Graf Sollogub rauft sich verzweifelt die Haare. Panajev hat ihm erzählt, ein neues Genie sei aufgestanden und würde alle anderen beiseite fegen ... Jedermann betrachtet mich wie ein Weltwunder. Wenn ich nur den Mund aufmache, schwirrt die Luft von dem, was Dostojevskij vorhat. Belinskij liebt mich grenzenlos."

Eben dieser Belinskij, der größte Literaturkritiker des ganzen Reiches, führte Dostojevskij in die Kreise der radikalen Jugend Russlands ein. Aufklärungsphilosophie, Naturwissenschaften, Atheismus, Republikanismus und Demokratie waren die leitenden Ideen dieser Kreise. Dostojevskij radikalisierte sich und wurde Mitglied einer revolutionär gesinnten Geheimgesellschaft um den Revoluzzer Petraschevskij. Janko Lavrin erklärt den bemerkenswerten Klassencharakter dieser russischen Triade:

"Im Gegensatz zu den unglücklichen Dekabristen, den Revolutionären von 1825, die sämtlich Adelige waren, bestand diese Gruppe junger Idealisten, die sich jeden Freitag in Petraschevskijs Wohnung versammelten, aus einer Mischung von kleineren Adeligen und Bürgerlichen, den sogenannten 'rasnotschinzy'. Sie interessierten sich für Fourier, Proudhon und die französischen Sozial-Utopisten im allgemeinen. Sie erstrebten auch die Abschaffung der Leibeigenschaft in Rußland, und dies alles in einer Zeit, da die politischen Stürme von 1848 sich schon in verschiedenen Teilen Europas bedrohlich zusammenbrauten."

Diese revolutionären Demokraten im Untergrund wurden jedoch von der zaristischen Polizei ertappt und verhaftet. Dostojevskij wurde zusammen mit den anderen politischen Häftlingen einzig für aufgeklärte Agitation gegen die Zaren-Autokratie in der berüchtigten Peter-Pauls-Festung inhaftiert, die als das übelste Straflager für politische Feinde in ganz Europa galt. Vier Jahre lang verbrachte  er in dieser Festung. Eine ihm geschenkte Bibel beeindruckte ihn in dieser Zeit des Elends so tief, dass er seine Gesinnung änderte. Aus dem antizaristischen Demokraten mit positivem Bezug zu Europa wurde nach der Strafe für sein Rebellentum der russische Nationalist, orthodoxe Christ und romantische Antikapitalist Dostojevskij.

Nach seiner vierjährigen Haft in Sibirien ist der einst radikale Schriftsteller und Schüler Belinskijs zunächst vorsichtig und dann jahrelang immer mehr von slawophilen und antieuropäischen Ideen angezogen worden. Dass er auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung zum rigidesten russischen Nationalisten und orthodoxen Fanatiker wurde, und dass er mit größtem Hass auf den Westen die historische Mission des russischen Volkes darin sah, die Welt zu christianisieren, entstammt untrüglich einem imperialen, kolonialen und im Grunde völkischen Denken. Auch seine antisemitischen Ausfälle sind auffälliger Bestandteil seiner romantischen Gesellschaftskritik. Allerdings ist das nur die eine Seite, deren andere nicht verschwiegen werden darf.



Denn Dostojevskijs Hass und Verachtung des Westens wandelten sich mit der Zeit in Sympathie und Mitleid. Aus dem Wunsch, das verwestlichte, gottlose und kapitalistische Europa der Gewalt eines russischen Reich Gottes zu unterwerfen, wurde zum Lebensende Dostojevskijs die Idee einer Synthese von Ost und West in höherer Einheit. Denn nicht nur Europa war in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts von naturwissenschaftlichem Materialismus, Atheismus und Nihilismus dominiert, sondern auch Russland. Wenn aber Russland ebenso vermodert war wie Europa - woher sollte dann noch die Rettung kommen? Für den Ideologen der Verwurzelung in Gott und Boden lag es nahe, die Rettung nicht mehr in der Enge der russischen Nation zu sehen, sondern in der allgemeinen geistigen und geistlichen Wende aller Menschen. Russland war nur noch das am wenigsten korrumpierte Land, aber wie in Europa sollte eine Erneuerung auch in Russland durch die Hinwendung zum gottgefälligen Volksglauben erfolgen.

Dostojevskij sah und kannte zwar das wirtschaftliche Elend, dass der sich entwickelnde Kapitalismus in Europa und Russland angerichtet hat. Aber er war nie ein konsequenter Antikapitalist. Seine Kapitalismuskritik war nie eine historisch-materialistische oder marxistische, obwohl er die Ideen des Marxismus zumindest im Groben gekannt haben muss. Dostojevskijs Kritik war stets eine rein geistige und idealistische und sein Idealismus bestand darin, dass er das geistige Elend, die Orientierungslosigkeit, die Verlorenheit und Verworfenheit der Menschen nicht aus den elenden Lebensbedingungen der Menschen heraus begriff. Der Idealist trennt die bewusstseinsmäßige Reaktion auf bestimmte Lebensbedingungen von diesen Bedingungen. Damit wird das Bewusstsein vom gesellschaftlichen Sein abgehoben und idealisiert. Das Bewusstsein und die bewusste Reaktion der Menschen auf die Verarmung und Verwirrung unter kapitalistischen Verhältnissen sind für den christlichen Idealisten daher nicht ausschlaggebend. Einzig wichtig erscheint dem Idealisten und Utopisten daher die Predigt einer rein moralischen, geistigen, geistlichen Kehrtwende.

Dostojevkijs Utopismus war zwar christlich geprägt und daher durchaus idealistisch. Allerdings speiste er sich, wie oben beschrieben, aus seiner enormen Lebenserfahrung und nicht bloß aus naiver Fantasterei oder Spekulation. Die Erlösung des Menschengeschlechts würde seiner Erfahrung nach nicht aus dem Fortschritt von Technik und Wissenschaft kommen können. Denn ohne die entsprechende geistige Reife wären diese bestenfalls Instrumente in der Hand von Dilettanten und schlimmstenfalls üble Waffen dämonischer Geister. Nihilismus, Atheismus, Sozialismus, Liberalismus und die Verherrlichung der westlichen Errungenschaften würden also gewiss nicht zur Rettung der Menschen führen. Dostojevskij glaubte an die Erlösung durch den Christus. Was wie religiöse Spinnerei klingen mag, relativiert sich jedoch, sobald man sich dessen bewusst wird, dass er einer der kritischsten und realistischsten Autoren der gesamten Weltliteratur war. Sein Biograf Lavrin schreibt:

"Wenn wir eine der wesentlichsten Aufgaben der Kunst darin erblicken, unsere Rezeption der Wirklichkeit, des Menschen und des Lebens zu erweitern und zu vertiefen, so können wir Dostojevskij als Künstler ohne Zögern neben Shakespeare stellen. Es wird schwer sein, einen zweiten Autor zu finden, dessen Drang, die Geheimnisse des menschlichen Bewußtseins mit all seiner Angst, seinen dramatischen Konflikten und Widersprüchen aufzudecken, so ungestüm gewesen wäre wie der Dostojevskijs." 

Die einfache antireligiöse Feststellung, dass alle Christen und alle Religionsanhänger Narren seien, überzeugt sicherlich nicht allzu viele Menschen, ob religiös oder nur vernunftbegabt. Plumpe Tiraden gegen die verschiedenen Formen der Religion an sich führen nicht weiter. Ein ernsthafter Kritiker Dostojevskijs muss sich in die Menschen und die menschliche Situation von damals hineinversetzen. Manfred Hildermeier schreibt in seiner Geschichte Russlands über die damalige brodelnde Revolution im Zarenreich Mitte des 19. Jahrhunderts:

"Eine neue Generation war herangewachsen, die mehr und mehr den Ton angab. Sie konnte sich dabei nicht nur auf den biologischen Lauf der Natur stützen, sondern auch auf den Vorteil, im Lande selber zu sein. Das 'junge Russland' war radikaler, agierte vor Ort, ging dazu oft in den Untergrund und vollzog hier einen weiteren, entscheidenden und neuen Schritt: Es ließ den Worten konkrete Taten in Gestalt konspirativer Organisationen, systematischer Agitation und im Extremfall terroristischer Anschläge folgen. [...] An die Stelle des vielzitierten 'reuigen Adeligen' trat der intelligent, der unversöhnliche Regimegegner, der die Universität absolviert hatte oder sie als Student noch besuchte. Mit alledem gewann die revolutionäre Opposition eine neue Qualität. Fortan war sie nicht mehr nur eine geistige Strömung und Welstanschauung, aus der sich auch eine bestimmte Haltung zur konkreten Herrschafts- und Sozialordnung der Gegenwart ergab. Vielmehr transformierte sie sich in eine programmatisch politische Kraft, die sich bemühte, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen und den Staat, repräsentiert durch seine Polizei und Verwaltung, direkt anzugreifen. Es war dieser Gestaltwandel, den die radikale Opposition unter Alexander II. durchlief und der retrospektiv als Geburt der revolutionären Bewegung im engeren Sinn erscheint."

Dostojevskij war also zunächst Teil genau dieses "jungen Russlands", dem es um eine Umwälzung der Verhältnisse unter dem Zarismus ging. Nachdem er aber die negativen Seiten dieser noch sehr unreifen Bewegung kennengelernt hatte und dafür bestraft worden war, änderte sich seine Gesinnung, die nunmehr konservativ, pessimistisch und sehr skeptisch wurde. Birgit Harreß schreibt über seine romantische Aufklärungsskepsis:

"Im Gegensatz zu seinen Rivalen Turgenjew, Tolstoj oder Gontscharow geht er nicht davon aus, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist, das sich in einem Bewusstwerdungsprozess vervollkommnen kann. Dostojevskij misstraut der Vernunft, die den Menschen im 18. Jahrhundert dazu bewogen hat, seinem Glauben abzuschwören und sich selbst als Zentrum seiner Erkenntnis zu sehen."

Ganz genau solch eine christlich-utopische Kehrtwende ist das Kernthema aller Dostojevskij-Romane ab 1866.

Die christliche Erlösungsutopie in Dostojevskijs Romanen


Da Dostojevskijs revolutionär-demokratische Einstellung ebenso utopistisch war wie der Utopismus der Anarchisten und Volkstümler in Russland allgemein, verwandelte sich diese in eine ebenso utopische christlich-orthodoxe Ideologie. Die bürgerlich-demokratische Utopie Dostojevskijs wurde zur ebenso bürgerlichen, aber nunmehr zaristischen und christlichen Erlösungsutopie. Dieser Wandel verlief nicht ohne Brüche. Im Gegenteil. Dostojevskij litt enorme Qualen während seines Gesinnungswandels. Auch sein neuer Glaube war nie so gefestigt, dass er keine Zweifel mehr gehabt hätte. Dostojevskij konnte nie ein einfacher Dogmatiker sein, sondern blieb stets ein skeptischer Gläubiger, ein zweifelnder Christ, dessen zweideutiger Wille zum Glauben für ihn chrakteristischer blieb als ein eindeutiger Glaube. Es scheint, als habe der tiefe Einblick des Menschen und Künstlers in die menschliche Misere den Christen Dostojevskij von starrem Dogmatismus abgehalten. Dostojevskijs geistige Dämonen blieben stets im Kampf mit seinem kritischen Realismus. Harreß erklärt den Realismus in Dostojevskijs Romanen so:

"Der sich selbst vergötzende und dabei schwache Mensch läuft Gefahr, der Idee des Übermenschen zu frönen, um seine Gottlosigkeit zu kompensieren. Jeder der fünf großen Romane zeigt diesen Irrweg, der erst dort endet, wo sich der Einzelne der Wahrheit stellt, der göttlichen Wahrheit. Das zu zeigen ist für Dostojewskij 'Realismus'."

Der geniale Schriftsteller selbst erklärte seinen Realismus ähnlich:

"Bei vollständigem Realismus im Menschen den Menschen finden. Das ist ein durchaus russischer Zug, und in diesem Sinne bin ich natürlich volklich (denn meine Richtung entspringt der Tiefe des russischen Volksgeistes), obschon ich dem gegenwärtigen russischen Volk unbekannt bin - doch das zukünftige wird mich kennen. Man nennt mich einen Psychologen. Das ist nicht richtig. Ich bin nur ein Realist im höheren Sinne, daß heißt: ich zeige alle Tiefen der Menschenseele".

Bereits im Titel seines ersten großen Romans Verbrechen und Strafe (bzw. Schuld und Sühne) von 1866 ist das stete Hauptmotiv des Autors erkennbar. Das Aufzeigen aller Abgründe der Menschenseele und die Erlösung dieser Seele durch Gott ist Dostojevskij in diesem hoch-philosophischen Kriminal-Roman fantastisch gelungen.

In Verbrechen und Strafe gibt es unzählige Ansagen im Sinne einer christlichen Erlösung im Hier und Jetzt. Nicht nur soll klar werden, dass es ohne innerliche Buße keine Ent-Schuldigung vor Gott geben kann. Auch kann es ohne praktisch wirksame Sühne keine Erlösung im Hier und Jetzt geben. Weiterhin wird offenbar, dass die moralische Strafe des eigenen Gewissens für ein großes Verbrechen letztlich größer ist als die körperliche Strafe im Straflager. Und diese Ideologie kommt von jemandem, der vier Jahre lang im sibirischen Lager einsaß! Weiterhin zeigt der Roman, dass die körperliche Strafe und die soziale Abstrafung durch Ächtung im gottgefälligen Leben für die Wahrheit sogar Freude bereiten kann.

Der Held und Anti-Held des Romans, Rodion Raskolnikov, ist ein armer Student, der sich in einen gedanklichen Wahn steigert, der ihn zu einem brutalen Verbrecher werden lässt. Obwohl er jedoch unerkannt bleibt, plagt ihn sein schlechtes Gewissen so sehr, dass er sich schließlich stellt. Trotz der Strafe zur Inhaftierung in einem sibirischen Lager findet er nicht nur zu Gott, sondern auch zu wahrer Liebe ausgerechnet mit einer ehemaligen Prostituierten.

Welches Verbrechen begeht Raskolnikov? Der zornige junge Student massakriert zwei ältere Frauen mit einer Axt. Eigentlich wollte er nur die eine Frau, eine gierige Pfandleiherin, aus der Welt schaffen. Als ihre Schwester zufällig kurz nach dem Mörder ebenfalls in die Wohnung der Pfandleiherin eintritt, wird auch sie erschlagen. Raskolnikov verliert ganz und gar den Kopf, findet das Geld der Ermordeten nicht, das er eigentlich stehlen wollte, und flieht.

Wieso begeht Raskolnikov das Verbrechen? Vordergründig mag das Motiv die Beraubung der Pfandleiherin sein. Aber dahinter gibt es weitere mögliche Motive. Raskolnikovs Schwester ist kurz davor, sich ihrem verarmten Bruder und der Familie zu Liebe an einen älteren Freier zu binden. Raskolnikov erträgt diesen Gedanken des praktischen Verkaufs seiner Schwester seinetwegen nicht. Zudem verachtet er die Pfandleiherin. Allerdings kann auch dieses Motiv als nebensächlich gelten. Denn hinter solchen Erwägungen entwickelt Raskolnikov seine eigene, sehr eigenwillige Rechtfertigungsideologie.

Raskolnikovs Weltanschauung ist elitär, chauvinistisch und menschenfeindlich, aber sie wird erst verständlich durch den Kontext der menschlichen Verwahrlosung, in dem der philosophierende Student sie entwickelt. "Das Leitmotiv von der Verelendung des Menschen durchzieht Schuld und Sühne mehr als jeden anderen der großen Romane", schreibt Birgit Harreß. Und weiter:

"Wann immer Raskolnikov seine erbärmliche Dachkammer verlässt, um in der Menge Ablenkung zu suchen, stößt er auf arme, entrechtete Menschen. Da sind solche, die wie Marmeladow vergeblich um den Rest ihrer Würde kämpfen, und solche, die als Ware betrachtet werden. Die Käuflichkeit der Frauen beschränkt sich nicht auf die Prostituierten, die der Held an jeder Straßenecke sieht, sonder greift auf die so genannte gute Gesellschaft über, die vom Ungeist der Lüge durchwirkt ist. [...] Als er auf die Straße geht, um seinen Ärger abzureagieren, sieht er ein betrunkenes junges Mädchen, dem ein feiner Herr nachstellt, um offensichtlich die Situation auszunutzen. Ein Anzug von 'größter Eleganz' garantiert hier die Integrität des Beleidigers."

Raskolnikov ist zutiefst empört und verärgert. Als hochintelligenter Student inmitten der menschlichen Misere sucht er nach einer Antwort auf die Situation. Dem irdischen Jammertal ist kaum zu entfliehen. Daher sind die meisten Menschen elende Kreaturen, die sich niederdrücken lassen und ihre Würde kaum retten können. Die Bestialität der Gesellschaft findet ihre Entsprechung in der inneren Einstellung der meisten Tiere, die sich für Menschen halten. Dennoch gibt es aus Sicht Raskolnikovs Menschen, die sich nicht auf das Niveau eines Tieres hinabdrücken lassen. Raskolnikov erklärt seine Perspektive auf die Dinge eindrücklich, indem er behauptet, dass

"alle Gesetzgeber und Führer der Menschheit [...] ohne Ausnahme, Verbrecher waren, schon allein deswegen, weil sie durch die neuen Gesetze, die sie gaben, die alten, von den Vätern überkommenen und von der Gesellschaft für heilig erachteten Gesetze verletzten und natürlich auch vor Blutvergießen nicht zurückschraken, wenn allein dieses Blutvergießen [...] ihnen zur Durchführung ihrer Absichten helfen konnte. [...] Kurz, ich kam zu dem Ergebnis, daß nicht nur die eigentlich großen Männer, sondern auch diejenigen, die nur einigermaßen fähig sind, neue Bahnen einzuschlagen, daß heißt, die nur einigermaßen imstande sind, etwas Neues zu sagen, daß diese alle zufolge ihrer Natur Verbrecher sein müssen - selbstverständlich mehr oder weniger".

Raskolnikov erklärt also alle Gesetzgeber und politischen Führer zu Verbrechern. Das ist gar nicht einmal so weit von der Wahrheit entfernt. In der Klassengesellschaft sind die Reichen und Mächtigen nunmal Teil der Herrschenden, die mit staatlicher Gewalt und Verbrechen die große Mehrheit der Menschen ausbeuten und unterdrücken. Raskolnikov sieht in der Erkenntnis dieser Ungerechtigkeit aber keinen Grund, nun zum Revolutionär zu werden, sondern er will selbst in die Reihen der großen Männer und Verbrecher aufsteigen. Die Kraft zu beweisen, bestehende moralische Gebote für sich außer Kraft zu setzen und das auch noch mit Stolz zu tun wie ein Alexander der Große oder ein Napoleon Bonaparte, das ist die Prüfung, die sich der Student im philosophischen Wahn selbst auferlegt. Das ist zugleich die Rechtfertigung für sein geplantes und ausgeführtes Verbrechen an der erbärmlichen Pfandleiherin. Raskolnikov hätte auch eine beliebige andere Person ermorden können. Wichtig war ihm die moralische Grenzüberschreitung, um den eigenen Willen zur Macht zu bestätigen, woran er jedoch aufgrund seiner Gewissensbisse scheitert. Entsprechend erklärt er im Nachhinein, was die großen Männer und Verbrecher von ihm unterscheidet:

"Nein, jene Menschen waren aus anderem Stoff geschaffen wie ich. Ein wahrer Herrscher, dem alles erlaubt ist, zerstört Toulon, richtet in Paris ein Blutbad an, vergißt eine Armee in Ägypten, opfert eine halbe Million Menschen in dem Feldzug gegen Rußland und setzt sich in Wilna durch ein Wortspiel darüber hinweg; und ein solcher Mann wird nach seinem Tod wie ein Abgott verehrt; man sieht also auch alles, was er getan hat, für erlaubt an. Nein, solche Menschen sind offenbar nicht von Fleisch und Blut, sondern von Erz". 


Auch in Der Idiot von (1868) geht es Dostojevskij genau genommen um Schuld und Sühne. Zwar begeht diesmal nicht der absolut positive Held Fürst Myschkin das mörderische Verbrechen am Ende des Romans, aber auch hier wird die Verdorbenheit der städtischen und höheren Klassen großartig angeprangert. Myschkin, der "Idiot" im Roman, erscheint übertrieben positiv, fast schon übermenschlich gut und daher utopisch zu sein. Er verkörpert im Grunde Dostojevskijs christliche Utopie, die Utopie eines wirklich christlichen Menschen in einer gottlosen Welt. Der Autor selbst erklärte:

"Ich habe meine eigene Anschauung von der Wirklichkeit (in der Kunst); das, was die Mehrheit schon nahezu als phantastisch und außergewöhnlich bezeichnet, stellt für mich zuweilen das Wesen des Wirklichen dar. Alltäglichkeit der Erscheinungen und ihre schablonenhafte Betrachtung sind meines Erachtens noch kein Realismus, eher das Gegenteil. [...] Ist mein phantastischer Idiot nicht die Realität, und zwar die alltäglichste? Gerade jetzt brauchen wir in unseren vom Boden losgerissenen Schichten der Gesellschaft - Schichten, die in Wirklichkeit phantastisch werden - solche Charaktere".

Wie auch Dostojevskij selbst leidet der gutmütige und gottgefällige Fürst Myschkin an der "heiligen Krankheit" Epilepsie. Zurück aus einem Sanatorium in der Schweiz gerät der etwas naive und kindliche Myschkin in einen abstoßenden Sumpf aus Lügen und Intrigen. Die "gute Gesellschaft" entpuppt sich als Gesellschaft verdorbener Ungetüme, die den "Mammon" und alles Äußerliche anbeten. Selbst die sympathischeren Charaktere erscheinen irgendwie hinterhältig. Alles "Gute" in der "guten Gesellschaft" ist mehr Schein als Sein. Myschkin dagegen ist zwar kindlich-naiv, aber er erkennt intuitiv die ganze Heuchelei hinter den freundlichen Gesten seiner Umgebung. Auch das rettet ihn nicht vor der völligen Verzweiflung an den Menschen und vor dem epileptischen Schwachsinn, der ihn zugleich von den Intrigen seines Umfelds erlöst.

In Die Dämonen von (1870/71), also ausgerechnet in den Jahren der revolutionären Pariser Kommune, rechnet Dostojevskij mit seinen früheren Dämonen, den radikalen und aufklärerischen Ideen im Umfeld von Belinskij, ab. Der Romantitel verweist auf die biblisch inspirierte Handlung: Das altersschwache Mütterchen Russland des 19. Jahrhunderts wird von "Dämonen" heimgesucht. Verkörpert werden diese bösen Geister durch einen sektiererischen Zirkel von Studenten im sakrosankten Petersburg. Deren Ziel scheint zunächst die Umwälzung Russlands mit verworrenen utopischen Vorstellungen zu sein. Am Ende stellt sich jedoch heraus, dass die Studenten vor allem nihilistische Terroristen sind, die nichts als Chaos und Unheil über die sowieso schon geplagten und verzweifelten Russen bringen wollen.

Im Unglauben sah Dostojevskij den Grund für den elenden Zustand des russischen Volkes. Der Autor wollte den Roman zur Sirene gegen die lauter werdenden revolutionären Ideen im orthodoxen Russland machen. Deswegen lässt er die Figuren über "Gott und die Welt" diskutieren, wobei christliche Erlösungsutopien mit faschistoiden Wahnvorstellungen und Forderungen nach Menschenrechten gegeneinander antreten. Aus den ideologischen Differenzen erwächst ein Komplott gegen einen abtrünnigen Studenten, was zu (Selbst-)Mord und Totschlag ausufert.

In einer Szene planen die Studenten den Aufstand: "Wir werden, sag’ ich Ihnen, einen Aufruhr zustande bringen, dass alles aus den Fugen geht", sagt der zynische Antiheld Verchovenskij. Sein Mitverschwörer Stavrogin beklagt, heutzutage gäbe es furchtbar wenige "selbständig denkende Köpfe" – und folgert daraus ziemlich elitär und chauvinistisch, es reichten schon diese beiden für den nötigen Umsturz.

Verchovenskij verkörpert den Alptraum der Besitzenden: "Kaum ist Familie oder Liebe da, so stellt sich auch schon der Wunsch nach Eigentum ein." Dieser Individualismus müsse ausgemerzt werden: "Alles wird auf einen Nenner gebracht, um der vollständigen Gleichheit willen." Indem die Verschwörer "unmittelbar ins Volk" eindringen und ihr dämonisches Gedankengut umsetzen, soll alles Heilige in Russland (Familie, Liebe, Individualität, Eigentum) dem Erdboden gleichgemacht werden.

Obwohl Dostojevskij solchermaßen versucht, die radikale Jugend in Russland zu verunglimpfen, gelingt es ihm nicht wirklich. Denn das extreme Abgleiten der "Revolutionäre" in Menschenhass wirkt unglaubwürdig. Man ist zwar entsetzt, wenn die Abgründe ihrer dämonischen Seelen beleuchtet werden, aber man fühlt mit, sobald ihre innere Zermürbung offenbar wird. Dostojevskij beschreibt auch in diesem Roman wieder Männer und Frauen, die verzweifelt einen Ausweg aus ihrer menschlichen Misere suchen. Das macht sie sympathisch. So lässt er eine Figur seine eigene Liebe zum Nächsten und christliche Überzeugung ausdrücken:

"Ich habe mich wohl schon tausendmal über diese Fähigkeit des Menschen gewundert, das höchste Ideal neben der niedrigsten Gemeinheit in seiner Seele hegen zu können, und beides mit vollkommener Aufrichtigkeit."

Ironischerweise schafft der Autor es also nicht, seine Antihelden völlig unmenschlich zu gestalten. Das liegt nicht an fehlendem Talent, sondern an der realistischen Darstellung der Figuren. Die künstlerisch-realistische Seite des Autors kämpft mit seiner antikommunistischen. Den größenwahnsinnigen Revoluzzer Verchovenskij lässt er offenbaren: "Ich bin doch ein Spitzbube, aber kein Sozialist, haha!" Der reaktionäre Angriff Dostojevskijs auf die rebellierende Jugend Mitte des 19. Jahrhunderts misslingt also, obwohl zugleich ein großes Kunstwerk der Revolution gelungen ist!

Spannender als die relativ schlichten Handlungen seiner Romane sind also die gedanklichen Abgründe und Höhenflüge, die seine Figuren eindrücklich aussprechen und die Darstellung menschlicher und gesellschaftlicher Probleme. In einem typischen Gespräch redet der atheistische Chaot Stavrogin mit dem schwankenden Christen Kirillov über "Gott und die Welt":

»Ja. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, daß er glücklich ist; nur darum. Das ist alles, alles! Wer das erkennt, der wird sogleich glücklich, augenblicklich. Diese Schwiegermutter wird sterben, und das kleine Mädchen wird zurückbleiben, – alles ist gut. Ich habe das auf einmal entdeckt.«

»Aber wenn jemand Hungers stirbt, oder wenn jemand ein Mädchen beleidigt und entehrt, – ist das auch gut?«

»Ja, es ist gut. Und wenn jemand einem kleinen Kinde den Kopf zerschmettert, so ist auch das gut, und wenn er ihn nicht zerschmettert, ist es ebenfalls gut. Alles ist gut, alles. All denen geht es gut, welche wissen, daß alles gut ist. Wenn die Menschen wüßten, daß es ihnen gut geht, dann würde es ihnen gut gehen; aber solange sie nicht wissen, daß es ihnen gut geht, wird es ihnen schlecht gehen. Das ist der ganze Gedanke, der ganze; weiter gibt es keinen!«

»Wann haben Sie denn erkannt, daß Sie so glücklich sind?«

»In der vorigen Woche, am Dienstag; nein, es war am Mittwoch; denn es war schon Mittwoch, in der Nacht.«

»Bei welchem Anlaß denn?«

»Ich erinnere mich nicht; ohne besonderen Anlaß; ich ging im Zimmer auf und ab ... es ist ja ganz egal. Ich hielt die Uhr an; es war zwei Uhr siebenunddreißig Minuten.«

»Das sollte wohl symbolisch bedeuten, daß die Zeit stehen bleiben muß.«

Kirillow schwieg eine Weile.

»Die Menschen sind nicht gut,« begann er dann auf einmal wieder, »weil sie nicht wissen, daß sie gut sind. Sobald sie das erkennen werden, werden sie kein Mädchen mehr vergewaltigen. Sie müssen erkennen, daß sie gut sind, und alle werden sofort gut werden, alle, ohne Ausnahme.«

»Also Sie selbst, Sie haben erkannt, daß Sie gut sind?«

»Ja, ich bin gut.«

»Darin stimme ich Ihnen übrigens bei,« murmelte Stawrogin finster.

»Wer da lehren wird, daß alle gut sind, der wird die Welt zur Vollendung führen.«

»Den, der das gelehrt hat, hat man gekreuzigt.«

»Er wird kommen, und sein Name wird Menschgott sein.«

»Gottmensch?«

»Menschgott; das ist ein Unterschied.« 
»Zünden Sie selbst schon das Lämpchen vor dem Heiligenbilde an?«

»Ja, diesmal habe ich es angezündet.«

»Sind Sie gläubig geworden?«

»Die alte Frau hat es gern, daß das Lämpchen brennt ... und heute hatte sie keine Zeit,« murmelte Kirillow.

»Aber Sie selbst beten noch nicht?«

»Ich bete zu allem. Sehen Sie, da kriecht eine Spinne an der Wand; ich sehe sie an und bin ihr dankbar dafür, daß sie da kriecht.«

Seine Augen brannten wieder. Er sah seinem Gaste mit festem, unverwandtem Blicke gerade ins Gesicht. Dieser hörte ihm mit finsterer, widerwilliger Miene zu, in der jedoch kein Spott lag.

»Ich möchte darauf wetten: wenn ich wieder herkomme, werden Sie schon auch an Gott glauben,« sagte er, indem er aufstand und nach seinem Hute griff.

»Warum?« fragte Kirillow, der sich ebenfalls erhob.

»Wenn Sie erkennten, daß Sie an Gott glauben, dann würden Sie an ihn glauben; aber da Sie noch nicht wissen, daß Sie an Gott glauben, so glauben Sie auch nicht an ihn,« antwortete Nikolai Wsewolodowitsch lächelnd.

»Das ist doch etwas anderes,« erwiderte Kirillow, nachdem er ein Weilchen nachgedacht hatte. »Sie haben meinen Gedanken verdreht. Ein weltmännischer Scherz. Erinnern Sie sich, was Sie in meinem Leben für eine bedeutende Rolle gespielt haben, Stawrogin!«

»Leben Sie wohl, Kirillow.«

Derartige Gespräche häufen sich bei Dostojevskij in Massen und Gott, die gottgefällige Welt und die gottlose Welt sind die ewigen Themen seiner Figuren. Auch verwies Die Dämonen prophetisch auf eine Gefahr, die unter den stalinistischen Diktaturen noch zur Realisierung kommen sollten. Der dämonische Theoretiker Schigalev entwickelt seine schaurige Dystopie von der neuen Klassengesellschaft nach der geplanten Umwälzung durch die terroristischen Verschwörer und Verchovenskij, der verrückte Terrorist, stellt sie so fantastisch dar, dass man diese Zukunftsvision für eine Beschreibung von Stalins Russland oder Maos China halten könnte:

"Bei ihm beaufsichtigt jedes Mitglied der Gesellschaft jedes andere und ist zur Anzeige verpflichtet. Jeder gehört allen und alle jedem. Alle sind Sklaven und in diesem Sklavenzustande untereinander gleich. In extremen Fällen kommen Verleumdung und Mord zur Anwendung; aber die Hauptsache ist die Gleichheit. Das erste, was geschehen wird, ist, daß sich das Niveau der Bildung, der Wissenschaften und der Talente senken wird. Ein hohes Niveau der Wissenschaften und der Talente ist nur höher Begabten erreichbar; aber wir brauchen keine höher Begabten! Die höher Begabten haben immer die Macht an sich gerissen und sind Despoten gewesen. Die höher Begabten müssen notwendigerweise Despoten sein und haben immer mehr zur Demoralisation beigetragen als Nutzen gebracht; die werden vertrieben oder hingerichtet. Einem Cicero wird die Zunge ausgeschnitten, einem Kopernikus werden die Augen ausgestochen; ein Shakespeare wird gesteinigt: da haben Sie den Schigalewismus! Sklaven müssen gleich sein: ohne Despotismus hat es noch nie weder Freiheit noch Gleichheit gegeben; aber in einer Herde muß Gleichheit herrschen, und das ist der Schigalewismus!"

In Der Jüngling von 1875 und in Die Brüder Karamazov von (1878/80) ist ein deutlicher Wandel in Dostojevskijs slavophiler Ideologie zu vermerken. Wie die Romane zuvor, sind auch diese Romane zum Sprachrohr seiner Weltanschauung geworden. Die Feindschaft gegenüber den Ideen aus dem Westen lässt merklich nach. Sozialismus, Liberalismus und Atheismus des 19. Jahrhunderts sind für ihn nicht mehr Wurzeln allen Übels, sondern bloß Ausdruck und Versuche der Bewältigung des jämmerlichen Lebens in einer ungerechten Gesellschaft. Aber dennoch muss es für ihn Ziel aller Menschen werden, die Einheit des Menschengeschlechts zu erreichen. Erst eine allumfassende Menschlichkeit würde eine wahrhaft menschliche Gesellschaft ermöglichen. Entsprechend ist die Anprangerung der Ideen aus dem Westen der Betonung der Einheit aller Menschen gewichen. Dostojevskij wird deutlich nachsichtiger und sein früherer Hinweis, dass es keine völlig bösen Menschen gäbe, fand in den letzten zwei Romanen einen vollendeten Ausdruck. Der weise Makar in Der Jüngling erklärt in diesem Sinne:

"einem wirklichen Gottlosen bin ich in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet. Statt seiner bin ich nur dem Ruhelosen begegnet, - siehst du, so muß man ihn richtiger nennen. Darunter gibt es die verschiedensten Leute; kannst dir fürwahr gar nicht ausdenken, was für Leute das alles sind: große und kleine, dumme und gelehrte, und manche darunter sind sogar von allereinfachstem Stande, und alle sind sie ruhelos; denn sie lesen und reden darüber ihr ganzes Leben lang und suchen es auszudeuten, so sie sich an der Süße der Bücher gesättigt haben, selber aber verbleiben sie ewig im Zweifel und können zu keinem Schluß kommen. Manch einer breitet sich so weit aus, daß er sich selber nicht mehr bemerkt. Manch einer ist in seiner Erbitterung härter denn ein Stein, sein Herz aber ist voll von gärenden Träumen".

Der ganz späte Dostojevskij vertrat im Grunde keine romantische Slavophilie, sondern einen romantischen und christlichen Universalismus und Antikapitalismus, auch wenn er nicht mehr zu seinen alten revolutionär-demokratischen Ursprüngen zurückkehrte. In seiner brillanten Puschkin-Rede erklärte er seine absolut bemerkenswerte Überzeugung nunmehr so:

"Einem echten Russen [ist] Europa ... ebenso teuer wie Rußland selbst, weil unser Schicksal eben Universalität ist, und nicht die mit dem Schwert erworbene, sondern die Kraft der Brüderlichkeit und unseres brüderlichen Strebens zur Wiedervereinigung der Menschen... Und späterhin werden wir, d.h. natürlich nicht wir, sondern die künftigen russischen Menschen, alle bis zum letzten begreifen, daß ein wahrer Russe werden eben dies heißt: danach streben, endgültig Versöhnung in die europäischen Widersprüche zu bringen, der europäischen Sehnsucht den Ausweg zu zeigen in der russischen Seele, der allmenschlichen und allvereinenden, in sie mit brüderlicher Liebe alle unsere Brüder aufzunehmen und letzten Endes, vielleicht, auch das endgültige Wort der großen allgemeinen Harmonie auszusprechen, der brüderlichen endgültigen Harmonie nach dem Gesetz des Evangeliums [der Nächstenliebe] Christi!"

Mit seinem universalistischen Bekenntnis näherte er sich dem großen Feind, dem marxistischen Sozialismus, stark an. Natürlich wäre es Unsinn, in ihm einen Sozialisten, Kommunisten oder Marxisten zu sehen. Dennoch ist gerade die Verbindung von ernst gemeintem christlichem Universalismus und scharfer Gesellschaftskritik nicht weit entfernt vom marxistischen Radikalismus, der nach Dostojevskijs Tod die bürgerlich-demokratischen und sozialdemokratischen Ideen hinter sich ließ und in der Organisation der russischen Kommunisten, der Bolschewiki, seinen höchsten Ausdruck fand. Das Studium Dostojevskijs, seiner Ideen und des sozialen Kontexts, in dem diese heranwuchsen, verweist zum Einen auf die würdige Nachfolge dieser Ideen in der proletarischen Revolution, die von den russischen Kommunisten angeführt wurde, und zum Anderen auf die von Dostojevskij befürchtete gottlose und wertelose Staatsmacht unter Stalin.

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