Donnerstag, 19. Dezember 2013

Das Joch der Vernunft in Evgenij Zamjatins „Wir“ (Serie: Gefahren der technokratischen Revolution, Teil 2)



Dieser Essay befasst sich mit dem Begriff der "Vernunft" im dystopischen Roman Wir von Evgenij Zamjatin.

Instrumentelle Vernunft



Die Idee der Vernunft besteht schon seit der Antike und wird noch heute diskutiert. Die Handhabung der Vernunft kann ganze philosophische Entwürfe, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft entscheidend beeinflussen. Aber sogar die Vernunft schwebt nicht im luftleeren Raum. Auch sie ist gebunden an ein Hirn und daher an menschliche Körper. Da die Körper an Gesellschaft und Gesellschaftsklassen gebunden sind, kann sie ein Mittel für den Fortschritt oder auch für den Rückschritt sein. Es kommt darauf an, wer sie unter welchen Umständen wie nutzt. Vernunft ist instrumentell, ein Instrument, um einen Willen durchzusetzen. Dabei muss nicht unbedingt das Beste oder etwas Gutes herauskommen. Es muss nicht einmal zu Fortschritt kommen. Vernunft kann reaktionären Interessen dienen. 

Der Prototyp der literarischen Dystopien des 20. Jahrhunderts


Zamjatins Roman wurde 1920, mitten in der russischen Revolution, fertiggestellt. Zamjatin war zu dieser Zeit selbst Kommunist. Allerdings ahnte er, wie sich die Zukunft der Staatsmacht entwickeln würde. Er nahm mit seinem Roman eine totale Klassenherrschaft vorweg, die mit dem Aufstieg des Stalinismus in Russland bald tatsächlich Realität zu werden schien. Auch der Faschismus und die heutigen Kontrollmechanismen durch den so genannten Verfassungsschutz in der BRD oder den FSB in Russland erinnern an das Szenario von Wir. Der Roman wurde zum Prototyp anderer Dystopien wie Schöne neue Welt oder 1984.

Der Roman spielt in der fernen Zukunft. Es gibt nur noch den "Einzigen Staat", die die zivilisierte Welt beherrscht. An ihrer Spitze steht der so genannte "Wohltäter", der die Vernunft verkörpert, mit der er die Untertanen durchsetzt. Alles Irrationale und Emotionale wird dagegen verdrängt. Die menschliche Gesellschaft soll kontrollier- und berechenbar sein. Dafür müssen individuelle Abweichungen minimiert werden. Die Menschen werden daher "vernünftig" normiert, sodass sie keine Individuen mehr sind. Sie haben auch keine Namen mehr, sondern nur noch Kennziffern. Da stört es auch nicht, dass sie durch die gläsernen Gebäude fast keine Privatsphäre mehr genießen können. Die Staatsideologie predigt das Glück durch die Regelung des gesellschaftlichen Lebens gemäß der Vernunft. Die Vernunft wird natürlich vom Staat definiert. Widersacher, die zu emotional sind, werden unterdrückt. Es gibt hinter der Grenzmauer des Staates zwar noch eine wilde, unzivilisierte Welt, aber die Bewohner dieser Welt erscheinen wie barbarische Terroristen, die die Regeln der Vernunft nicht einsehen.

Der Erzähler und Protagonist des Romans, D-503, ist ein Raketeningenieur, der die Mathematik und die Vernunft zu lieben scheint. In seinen Tagebucheinträgen wird die Handlung erzählt. Allerdings ist auch er nicht völlig rational und genormt, sodass er an seiner Ideologie zu zweifeln beginnt...

Das Joch der Vernunft und mathematisch-fehlerfreies Glück


Schon auf der ersten Seite von Wir fällt der behandelte Begriff. Der Erzähler zitiert die Staatszeitung: 

„Eure Aufgabe ist es, jene unbekannten Wesen, die auf anderen Planeten – vielleicht noch in dem unzivilisierten Zustand der Freiheit – leben, unter das segensreiche Joch der Vernunft zu beugen. Sollten sie nicht begreifen, daß wir ihnen ein mathematisch-fehlerfreies Glück bringen, haben wir die Pflicht, sie zu einem glücklichen Leben zu zwingen.“ 

Damit wird ein wichtiger Aspekt der Vernunft erwähnt: ihr Zwangscharakter. Das „Joch der Vernunft“ erscheint als glückbringend und im Gegensatz zum „unzivilisierten Zustand der Freiheit“ zu stehen. Die Vernunft wird zur „Vernunft des Mechanischen“ reduziert. 

Damit wird im Verbund mit der Schilderung des mechanischen Ablaufs fast aller Geschehnisse, die vom „Einzigen Staat“ mathematisch genau für jeden Bürger geplant, durchgesetzt und kontrolliert werden, der Eindruck erweckt, die genaueste Planung der maschinengleichen Gesellschaft durch den „Einzigen Staat“ sei die Spitze der Vernunft. 

Als vernünftig erscheint es dann nicht bloß, sogar das sexuelle und emotionale Leben aller Bürger dem Staat zu unterwerfen und diesen zum Gott zu erheben. Ebenso vernünftig scheint es, sich als Bürger dem staatlich verordneten Todesurteil widerstandslos zu beugen.

Die aus dem 20. Jahrhundert stammende Betriebsführung mit wissenschaftlichem Anspruch nach F. W. Taylor, die das Ziel verfolgt, betriebliche Abläufe durch immer striktere Trennung von Führung und Arbeitern, präzisere Vorgaben und weitergehende Arbeitsteilung dem Produktionsoptimum anzunähern, wird vom Protagonisten als geniale prophetische Leistung verehrt. Taylors Methode werde vom „Einzigen Staat“ auf die gesamte Gesellschaft übertragen und vervollkommnet, so der Erzähler.

„Das einzige Mittel, den Menschen vor dem Verbrechen zu bewahren, ist, ihn vor der Freiheit zu bewahren“,

formuliert er. Da die Freiheit effektiv vom „Einzigen Staat“ verhindert wird, scheint es daher nahe zu liegen, dem Staat ganz nach tayloristischer Wissenschaft alle Gewalt zu überlassen, um Freiheit und verbrecherische Anomalie aller Bürger zu verhindern.

Doch der Roman stellt nicht nur diese Seite der Vernunft dar. Im Rahmen der „krankhaften“ Entstehung einer "Seele" im Protagonisten und seiner Bekanntschaft mit revoltierenden Barbaren beginnt der Erzähler, an dem Staat und seinen Vorgaben zu zweifeln. So schreibt er: 

„Vielleicht gibt es aber im Leben weder Schwarz noch Weiß, vielleicht hängt die Farbe nur von dem logischen Grundsatz ab, von dem man ausgeht.“, und „Ja, es ist Wahnsinn! Alle müssen den Verstand verlieren, alle, alle – so schnell wie möglich! Es muß sein, ich weiß es!“ 

Der Zweifel an der Allmacht der Vernunft entwickelt sich zur fundamentalen Kritik an den Lehren des „Einzigen Staates“. Die Vernunft könnte eine unvernünftige Quelle haben. Diese radikale Kritik wird zu radikaler Ablehnung. Der anarchische "Wahnsinn" wird der staatlichen "Vernunft" gegenüber bevorzugt. Sogar der totale "Einzige Staat" kann die individuelle Natur der Menschen nicht beseitigen.

Schließlich zeigt sich sogar an einer Aussage des faktischen Diktators im „Einzigen Staat“, dass er eine völlig verdrehte Logik vertritt: 

„Die wahre Liebe zur Menschheit ist unmenschlich, und das Kennzeichen der Wahrheit ist ihre Grausamkeit!“ 

Betrachtet man die Vorgehensweise des Staates genauer, fällt auf, dass dieser durch eine Reihe von Zirkelschlüssen zu seiner Definitionsmacht gelangt sein muss. Er erkennt in sich einen Gott, der eine unfehlbare Vernunft und die Logik vertritt, welche zugleich Naturgesetzen gleichkommen. Diese kennt aber nur der Staat genauestens, sodass nur ihm totale Autorität zusteht. Die Autorität des Staates kommt von der Logik, diese wird aber nur durch den Staat autorisiert. 

Woher aber der Staat den Zugang zur privilegierten Erkenntnis hat, wird nicht geklärt. Letztlich wird offenbar, dass der Staat die "Vernunft" einzig Kraft seiner Gewalt definieren kann. Damit zeigt sich, dass der „Einzige Staat“ nicht auf Vernunft aufgebaut ist, sondern auf irrationalem Glauben.

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