Von Sylvain Coiplet (12/1996)
Die Freiheit in Schillers Briefen über ästhetische Erziehung
Von der ästhetischen zur politischen Erziehung
In der Briefsammlung
Über die ästhetische Erziehung des Menschen
geht Schiller nur in den ersten Briefen und in dem letzten Brief auf
die Politik ein. Bis zum achten Brief versucht er gegen seine Zeit zu
rechtfertigen, warum er sich mit Ästhetik, statt mit Politik
beschäftigen will. Ihm scheint es also nur darum zu gehen, mit dem Thema
Politik «fertig» zu werden. Im siebenundzwanzigsten Brief kehrt er zwar
zur Politik zurück, aber mit ihm brechen auch die Briefe ab.
Heißt es, daß die «politischen» Briefe noch gar nicht geschrieben worden
sind (Narr)? Sind aber die «ästhetischen» Briefe wenigstens brauchbar
als Einleitung zu diesen nicht-vorhandenen politischen Briefen? Wo
lassen sie sich weiterführen?
Soll man gleich beim letzten Brief ansetzen, wo Schiller nicht mehr von
Stofftrieb, Spieltrieb und Formtrieb, sondern von Naturstaat,
ästhetischem Staat und Vernunftstaat spricht? Oder soll man gerade von
diesem letzten Brief absehen, weil Schiller hier der Sprung zur Politik
nicht gelingt (Krippendorff)? Ich möchte lieber weiter zurückgreifen und
schon beim dreizehnten Brief ansetzen. Ein ziemlich abstrakter und
nebensächlicher Brief (Krippendorff). Aber, ich glaube, nur scheinbar
abstrakt und nebensächlich. Und noch dazu gut geeignet, zu einem
politischen Brief umgestaltet zu werden. Vielleicht gerade deswegen,
weil er noch nicht zu stark auf ästhetische Beispiele eingeht, sondern
rein methodisch bleibt. Der Sprung zur Politik ist noch nicht so groß.
Nacheinander oder Nebeneinander der drei Staaten
In den ersten Briefen unterscheidet Schiller zwischen Naturstaat und
Vernunftstaat. Das Problem sieht er darin, daß der alte Naturstaat
zusammengebrochen ist, bevor sich der zukünftige Vernunftstaat
ausreichend ausgebildet hat. Es fehlt eine Zwischenstufe, ein
politischer Vermittler, ein Zwischenstaat, um das Ideal des
Vernunftstaates erreichen zu können (vgl. Schiller 1991, 7-10).
Schiller verläßt dann das politische Feld und läuft zur Ästhetik über,
macht aber dort auch zwei gegensätzliche Richtungen aus: Den Stofftrieb
und den Formtrieb (vgl. 45-49). Die Ähnlichkeit zu den beiden Staaten
ist frappierend: Der Stofftrieb entspricht eindeutig dem Naturstaat und
der Formtrieb dem Vernunftstaat. Schiller sucht daher nach einem
ästhetischen Vermittler, einem Zwischentrieb (vgl. 55-58). Hier enden
aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen Politik und Ästhetik.
Die Staaten lösen sich in der Zeit ab, es muß nur dafür gesorgt werden,
daß keine Lücke entsteht. Bei den Trieben sieht es aber anders aus: Sie
sollen nicht einander ablösen, sondern einander ergänzen. Sie sollen
gleichzeitig wirken, und dies nicht nur vorläufig. Die ästhetische Frage
ist also nicht, wie man zeitliche Lücken zwischen gegensätzlichen
Trieben vermeidet, sondern wie man ihre Kollision vermeidet: Das ist
gerade das Thema des dreizehnten Briefes (vgl. 49-55).
Stofftrieb und Formtrieb widersprechen sich zwar, aber stören dabei
einander nicht mehr, sobald sie sich nicht mehr auf das selbe Objekt
beziehen. Jeder Trieb soll seinen eigenen Bereich bekommen, wo er sich
voll, widerspruchslos, entfalten kann. Daneben waltet der andere Trieb
und kommt auch zur Selbstverwirklichung (vgl. 49). Aufgabe der Kultur
ist es, die Bereiche voneinander abzugrenzen (vgl. 50-51).
Es könnte auch die Aufgabe der Politik sein. Warum sollte die Politik
nicht darin bestehen, die politischen Triebe auszumachen und ihnen ihre
jeweiligen «Reiche» zuzuweisen, wo sie sich voll ausleben können, wo sie
die übrigen politischen Triebe nicht stören? Eine Aufgabe für mehr als
einen politischen Brief ...
Nacheinander und Nebeneinander der drei Staaten
Aber ist es nicht gerade das, was Schiller im letzten Brief versucht?
Dort sieht es doch so aus, als ob der dynamische Staat (Naturstaat) und
der ethische Staat (Vernunftstaat) gleichzeitig bestehen sollen mit dem
ästhetischen Staat. Materie, Vernunft und Schönheit bekommen jeweils ihr
eigenes Reich. Zwei Reiche sind schon vorhanden: das Reich der Kräfte
(Naturstaat) und das Reich der Gesetze (Vernunftstaat). Das «dritte»
Reich, das Reich des Scheins, wird erst aufgebaut (vgl. 125-126). Es
gibt immer noch ein Nacheinander, wenn auch nicht mehr so streng wie in
den ersten Briefen: Was gewesen ist, bleibt wenigstens neben dem Neuen
bestehen. Aber klingt nicht trotztdem der ästhetische Staat wie ferne
Zukunftsmusik? Braucht man etwas zu berücksichtigen, was es noch gar
nicht gibt? Ein gefundenes Fressen für Konservative, die zunächst lieber
alles beim Alten lassen wollen. Es fragt sich nur, ob diese
Konservativen zu den feingestimmten Seelen gerechnet werden können, die
ein Bedürnis nach diesem ästhetischen Staat haben (vgl. 128).
Warum ist es so wichtig, daß die drei Staaten nicht einander ablösen,
sondern nebeneinander bestehen bleiben? Wenn sie sich ablösen, so heißt
er nur, daß die Staatsverfassung sich mit der Zeit ändert. Wohin bleibt
unklar. Nach dem Ersten Reich kann das Zweite Reich kommen, und endlich
das heute berüchtigt klingende «Dritte Reich». Bestehen die drei Staaten
gleichzeitig nebeneinander, so heißt es, daß sie sich einschränken
müssen. Es gibt keinen allmächtigen Staat mehr, sondern eine Art
Gewaltenteilung. Ist es aber eine Gewaltenteilung innerhalb des Staates,
oder eine Gewaltenteilung zwischen dem Staat und anderen
Organisationen, die von ihm unabhängig agieren. Schiller nennt sie alle
drei Organisationen «Staaten», so daß eine Antwort schwierig ist.
Humboldt wird in seinen
Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen
(vgl. Humboldt 1982) schon deutlicher. Dieser Versuch Humboldts lag
Schiller vor, als er seine ästhetischen Briefe schrieb. Er war sogar
einer der wenigen Menschen, die ihn schon damals ganz gelesen haben. Die
anderen konnten nur die Teile lesen, die Schiller selbst veröffentlicht
hat. Humboldt verliert keine Zeit mit der Frage einer Gewaltenteilung
innerhalb des Staates. Ihm geht es eindeutig um eine Beschränkung seines
Machtbereiches. In einer früheren Schrift von ihm, die er hier nur
ausführt, heißt es schon dazu: «das Prinzip, daß die Regierung für das
Glück und Wohl, das physische und das moralische der Nation sorgen
müsse, sei der ärgste und drückendste Despotismus» (vg. 211). Sein
Reststaat soll also diese beiden Aufgaben delegieren. Der Naturstaat
(physisches Wohl) und der Vernunftstaat (moralisches Wohl) sind also gar
keine «Staaten», weil sie daran zugrunde gehen würden. Ich frage mich
nur, ob Humboldt seinen Reststaat im ästhetischen Staat von Schiller
wiedererkannt hat. Mir gelingt es nicht. Während der Reststaat bei
Humboldt zwingen darf und nur er, läßt der schillersche ästhetische
Staat frei und nur er.
Die Freiheit als ästhetischer und politischer Trieb
Ob die drei Staaten von Schiller echte Staaten sind oder nicht, bleibt
mir also unklar, weil nicht von Humboldt auf Schiller geschlossen werden
kann. Klar ist wenigstens, daß sie nicht alle gleichzeitig, sondern
erst nacheinander entstehen, genauso wie die drei Triebe (vgl. Schiller
1991, 81-82) und dann bestehen bleiben. Das Verwirrspiel fängt aber
gleich wieder an, wenn man sich fragt, in welcher Reihenfolge die
Staaten auftreten sollen.
In den ersten Briefen soll erst der Naturstaat, dann der noch gesuchte
Zwischenstaat und zuletzt der Vernunftstaat auftreten (vgl. 7-10). Im
letzten Brief soll der gefundene Zwischenstaat, der ästhetische Staat an
letzter Stelle kommen (vgl. 125-126). Schiller hat nämlich inzwischen
gezeigt, daß zunächst der Stofftrieb, dann der Formtrieb aufgetreten
sind: Später wurden sie durch den Spieltrieb ergänzt (vgl. 81-82). Wird
das, was anfangs bloß als Übergangsstadium gemeint war, heimlich zum
Endziel (Narr)? Wo liegt das politische Endziel von Schiller: Beim
Vernunftstaat oder beim ästhetischen Staat?
Diese Frage ist schon wichtig. Das Reich der Kräfte und das Reich der
Gesetze sind beide Reiche des Zwangs, das Reich des Scheins ist aber das
einzige Reich der Freiheit, wenigstens im siebenundzwanzigsten Brief.
Will Schiller auf Zwang oder auf Freiheit hinaus? Schon seltsam, daß man
sich diese Frage stellen muß. Will Schiller nicht eindeutig auf
Freiheit hinaus?
Von der moralischen zur ästhetischen Freiheit
Das Problem hängt, glaube ich, damit zusammen, daß Schiller in diesen
Briefen seine eigene Auffassung von Freiheit entwickelt, aber daneben
eine andere «fremde» Freiheit bestehen läßt. Er entdeckt eine
ästhetische Freiheit, die sich in einem Gleichgewicht zwischen zwei
Extremen hält (vgl. 58: dort noch unter dem Decknamen «Zufälligkeit»;
80: «Freiheit» diesmal ohne Deckung). Aber bei der einseitigen
moralischen «Freiheit» à la Kant spricht er immer noch von «Freiheit»,
obwohl sie sich nur von der Materie befreit hat und doch den Menschen
unter Zwang setzt, nämlich unter moralischem Zwang (vgl. 43: dort als
«Person» bezeichnet; 109-110: als «moralische Freiheit»). Im
sechsundzwanzigsten, das heißt im vorletzten Brief, ist er immer noch
damit beschäftigt zu zeigen, daß die (freie) ästhetische Stimmung nicht
die (moralische) Freiheit ist, weil diese Freiheit erst aus ihr
entspringt (vgl. 110-111). Wie unfrei diese moralische «Freiheit» ist,
das hat er doch schon längst selbst gezeigt! Wenn in den Briefen
«Freiheit» steht, muß man sich immer fragen welche Freiheit: Die alte
kantische, oder die neue schillersche Freiheit?
Schiller will auf die Freiheit hinaus, aber auf welche dieser beiden
Freiheiten? Meint er seine ästhetische Freiheit oder die moralische
Freiheit von Kant? Ich neige dazu, Schiller «das letzte Wort» zu lassen,
seine eigene Freiheit sprechen zu lassen. In seinem letzten Brief ist
der Vernunftstaat eindeutig Zwang (vgl. 125), und wenn es noch im
vorigen Brief anders steht, dann nur deswegen, weil ihm der Weg zu
dieser Einsicht schwierig ist. Und vielleicht nicht nur ihm.
Von der ästhetischen zur politischen Freiheit
Wenn dem so ist, dann ist auch das politische «Endziel» klar: Richtung
Freiheit via den ästhetischen Staat. Und nun kommt die politische
Enttäuschung. Ich war vorhin vom Einfall Schillers begeistert,
gegensätzliche Triebe dadurch vor der Kollision zu retten, daß ihnen
jeweils ein eigenes «Reich» zugewiesen wird. Welches Reich kommt nun der
Freiheit zu, wo darf sie sich voll ausleben? Ausschließlich im Reich
des Scheines (vgl. 125) !
Gerät damit nicht die Freiheit selbst zum bloßen Schein? Vielleicht,
aber was heißt eigentlich Schein bei Schiller? Ist er mit Utopie
gleichzusetzen (Binger)? Jetzt, wo Schiller wieder von Politik spricht,
neigt man schnell dazu, alles zu vergessen, was er vorher bezüglich der
Ästhetik herausgearbeitet hat. Der Schein ist weder bloß Form, noch bloß
Materie: Wo er waltet, hat die Form schon angefangen, die Materie hat
aber noch nicht aufgehört (vgl. 127). Schein ist nicht gleich Idee oder
Ideal. Schein ist erquicklicher als Licht, es ist die Geselligkeit (vgl.
126), das Gespräch. Was Schiller ausbauen will, ist das freie Gespräch,
als einen Weg, die eigenen Gedanken zu befreien. Dann lähmt das Licht,
die Wahrheit, nicht mehr, weil man das richtige Tor zur Erkenntnis
gefunden hat: Die Kunst (vgl. Schiller 1992, 202). Dieser Weg ist keine
Utopie, er wird nicht nur von vielen gewünscht, sondern von einigen
Menschen schon beschritten (vgl. Schiller 1991, 128).
Was hat aber diese Geselligkeit noch mit Politik zu tun? Ist es mehr als
nur ein frustrierendes «Spiel» mit Worten, wenn Schiller von ihr als
von einem ästhetischen «Staat» spricht? Wird der eigentliche Staat von
diesem wenigstens halb idealistischen Staat überhaupt beschnitten? Was
kümmern ihn die freien Gespräche, wenn sie nur über Ästhetik laufen? Tun
sie das? Das kann man jedenfalls nicht vom Gespräch zwischen Schiller
und Humboldt sagen. Als der preußische Staat den Beitrag Humboldts nicht
frei laufen ließ
[1],
da wußte er schon warum. Und die ästhetischen Briefe haben sich
wahrscheinlich nur durch ihre Zweideutigkeit vor dem Hausarrest retten
können. Und doch: Heißt nicht die Forderung nach Freiheit der Gespräche,
daß die Politik nicht über ihren Inhalt gebieten soll, daß sie
außerhalb ihrer «Wirksamkeit» liegen? Wie politisch eine solche
Forderung ist, das hat die Antwort seitens der deutschen Staaten
gezeigt: Die Karlsbader Beschlüsse.
Anhang: Kleiner politischer Briefwechsel
«Eine Aufgabe für mehr als einen politischen Brief» ... Auf mehr als
zwei Briefe habe ich es nicht gebracht. Die Autorenangaben sind ohne
Gewähr.
Brief von Schiller an Humboldt
Zur Zeit greife ich die ästhetischen Briefe wieder auf. Damals habe ich
mich auf die Freiheit konzentriert. Im letzten Brief gehe ich nur kurz
auf die Gleichheit ein (vgl. 126-128). Das dritte Ideal der
Brüderlichkeit ist auch erst ziemlich spät von der Französischen
Revolution dazu genommen worden. Ich habe es daher rausgelassen. Sonst
wäre mir vieilleicht schon aufgefallen, daß sie alle drei zusammen
genommen eine sonderbare Verwandtschaft mit meinen drei Trieben haben.
Dabei geht es nicht so sehr um die einzelnen Triebe, sondern vor allem
um ihr Verhältnis zueinander. Stellt man die Freiheit der Brüderlichkeit
gegenüber, so ergibt sich genauso eine Polarität wie damals zwischen
Formtrieb und Stofftrieb. Bei der Freiheit geht mir nichts über mich,
während bei der Brüderlichkeit mir nichts über die anderen geht.
Freiheitstrieb und Brüderlichkeitstrieb stehen sich wirklich polar
gegenüber. Dann läßt sich mein Bild der Wage vom zwanzigsten Brief auf
die Politik anwenden: «Die Schalen einer Wage stehen gleich, wenn sie
leer sind; sie stehen aber auch gleich, wenn sie gleiche Gewichte
enthalten (83)». Es gibt das alte ängstliche politische Gleichgewicht,
die Gleichheit der leeren Schalen. Laß uns Freiheit und Brüderlichkeit
zu einer gewagteren politischen Gleichheit steigern. Es ist Zeit zum
politischen Spiel, zum Übergewicht meiner und der anderen.
Da uns hier keiner mehr etwas anhaben kann und wir sowieso nichts mehr
zu verlieren haben, so will ich die politischen Spielregeln näher
beschreiben. Daß nicht alle Menschen gleich fähig sind, habe ich schon
damals gesagt: Die Menschen unterscheiden sich bezüglich der
«Privatfertigkeit» (126). Das Eigentum gibt mir Freiheit, es macht mir
möglich, meine Fähigkeiten einzusetzen. Es soll mir bleiben, solange ich
es zum besten Wohl der anderen verwalten kann. Nur so wiegt die
Brüderlichkeit meine Freiheit auf. Nur so kommt es zu einem politischen
Gleichgewicht, obwohl das Eigentum ungleich, nämlich nach den
Fähigkeiten verteilt ist. Werde ich unfähig oder sterbe ich, so kann ich
mit meinem Eigentum den Bedürfnissen anderer nicht mehr nachkommen.
Fällt die Brüderlichkeit weg, so muß es aber auch die Freiheit: Beide
Schalen müssen gleichzeitig leergeräumt werden. Oder ich muß vielmehr
eine neue Brüderlichkeit herbeischaffen. Ich muß mein Eigentum
rechtzeitig entäußern, dem Fähigsten übergeben, der beide Schalen gleich
füllen kann. Nur so kann das politische Spiel weitergehen ...
Brief von Humboldt an Schiller
Deine drei «politischen Triebe» haben mir zu denken gegeben. Kann man
nicht von der Französischen Revolution sagen, daß sie ihre politischen
Triebe zu «abstrakt» gedacht hat? Sie hat sie verallgemeinert, sie
sollten für alles gelten. Im dreizehnten Brief versuchst du die
ästhetischen Triebe zu «konkretisieren», sie auf unterschiedliche
«Reiche» zu beziehen, damit sie nicht kollidieren. Nun habe ich dasselbe
mit deinen drei politischen Trieben versucht.
In meinem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen,
da habe ich schon damals den Staat dem Gleichheitstrieb zugeordnet. Der
Staat ist mir das Reich der Gleichheit. Alles andere ist mir Freiheit
gewesen. Eigentlich stimmt es schon, wenn man darunter Freiheit vom
Staat meint. Aber du hast schon Recht mit der Polarität zwischen
Freiheit und Brüderlichkeit. Die Freiheit ist Freiheit vom Staat und
richtet sich dabei auf den Einzelnen, macht ihn erst zum Einzelnen. Die
Brüderlichkeit braucht auch die Freiheit vom Staat, richtet sich aber
auf die Welt, auf alle anderen Menschen. Der Unterschied ist mir so
nicht aufgefallen, weil es mir vor allem darum gegangen ist, meinen
«Reststaat» herauszuschälen. Und als ich damals geschrieben habe, da ist
in Frankreich von Brüderlichkeit überhaupt noch keine Rede gewesen.
Wenn du von der Freiheit und Brüderlichkeit so sprichst, wie in deinem
letzten Brief, dann wird das Individuum zum Reich der Freiheit und die
Welt zum Reich der Brüderlichkeit. Damit bin ich aber noch nicht ganz
ans Ende meiner Gedanken gekommen. Dem Staat habe ich die Möglichkeit
abgesprochen, für das moralische und physische Wohl der Menschen sorgen
zu können. Heute würde ich einfach das moralische Wohl zum Reich der
Freiheit und das physische Wohl zum Reich der Brüderlichkeit erklären.
Literaturverzeichnis
Wolfgang Goethe:
Das Märchen von der grünen Schlange und der weißen Lilie (1795)
Wilhelm von Humboldt (1982):
Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792), Stuttgart (Reclam)
Edmund Jacoby (1986): Goethe, Schiller und Hölderlin, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, Hg. Fetscher I. / Münkler H., Bd.4, München-Zürich, 127-151
(Interessant wegen der Betonung der Verwandschaft zwischen den ästhetischen Briefen Schillers und dem Versuch Humboldts über die Grenzen des Staates)
Friedrich Schiller (1991):
Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), Stuttgart (Reclam)
Friedrich Schiller (1992): Sämtliche Gedichte, Frankfurt/Main - Leipzig
Rudolf Steiner (1976):
Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft (1919), Dornach
(Sein Ansatz einer sozialen Dreigliederung gibt die Inspirationsquelle für den politischen Briefwechsel des Anhangs)
[1]
Seine «Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates
zu bestimmen» wurden erst 1851 vollständig veröffentlicht, da die
preußische Zensur sich quergelegt hatte.