Das muslimische Turkvolk fühlt sich wirtschaftlich, politisch und kulturell von den herrschenden Han-Chinesen unterdrückt. Umgekehrt wirft Chinas Regierung uigurischen Gruppen Separatismus und Terrorismus vor.
Das schreibt RP Online. Welche Seite hat nun Recht? Ist die Kritik an vermeintlicher Unterdrückung der Uiguren durch Han-Chauvinismus berechtigt? Oder sind Separatismus und Terrorismus die wirklichen Probleme der Region? Sind beide Seiten im Irrtum oder haben beide Seiten Recht? Was kann man glauben und was nicht?
Nach dem Terror vom April und Mai 2014, der mehreren Dutzend Menschen das Leben kostete, verschärft der chinesische Staat seine "Anti-Terror-Kampagne". RP Online schreibt dazu:
Auch landesweit sind die Sicherheitsmaßnahmen verschärft worden. Bewaffnete Polizisten mit schusssicheren Westen patrouillieren die U-Bahnen in den Metropolen, kontrollieren Reisende auf Bahnhöfen oder demonstrieren verstärkt Präsenz auf den Straßen. China erhöhe nicht nur zeitweise die Sicherheitsstufe, sondern mache den "Kampf gegen den Terror" zum Alltag, schrieb die Staatsagentur Xinhua. "Solche Bemühungen sind notwendig geworden, weil das Land anhaltend terroristische Angriffe erlebt."
Der "Kampf gegen den Terror" wird zum Alltag... In den USA, Europa und Israel hat solch ein "Alltag" dazu geführt, dass Bürgerrechte und Freiheiten stark beschränkt und der Willkür der Staatsmacht geopfert wurden. In vielen Ländern gibt es seit einigen Jahren "Anti-Terror"-Gesetze, die dieser Willkürherrschaft als legaler Tarnmantel dienen. Der Staat sorgt mit solchem "Recht" für die "Sicherheit" der Bevölkerung, indem er die eigene Bevölkerung allgemein unter "Terrorverdacht" stellt. Der Staat wird damit gegenüber den Bürgern ermächtigt und verselbständigt.
Unter Politologen spricht man seit einigen Jahren in diesem Sinne von "postdemokratischen" Zuständen, in denen nur noch die Hüllen demokratischer Verfahren bestehen, während der politische Inhalt in diesen Hüllen ein undemokratischer oder sogar antidemokratischer ist. Eine politologische Studie hat vor Kurzem entsprechend festgestellt, dass die USA keine Demokratie, sondern eine Oligarchie sind, dass also nicht das Volk herrsche, sondern eine kleine Minderheit von Superreichen. Ähnliches trifft auf die EU zu, die sogar von liberalen und konservativen Kritikern wegen mangelnder Legitimation und undemokratischer Prozesse kritisiert wird. Man schaue bloß, was Schmidt und Schünemann in ihrer Einführung zur Europäischen Union schreiben, obwohl sie ihr wohl gesonnen sind.
Wie die USA und die EU wurde China nach dem Anschlag vom 11. September 2001 in den paranoiden "Kampf gegen den Terror" gesogen. Schon damals wurde der Staat restriktiver. 2014 verschärft sich das jedoch noch. Der Terror bzw. die gefühlte Terrorgefahr wird zum Alltag, zumindest zum Alltag der Sicherheitsbeamten des Staates. Es ist zu erwarten, dass sie in Zukunft auf Bedrohung sensibler, d.h. aggressiver, reagieren werden als bisher. Man laufe bloß nicht mit nem langen Bart durch die Gegend und schreie "Allahu akbar!" oder dergleichen. Das könnte ungewollt böse enden. Xi Jinping, der Präsident der Volksrepublik, verlautbarte das entsprechende Ziel, "dass die Terroristen so unbeliebt werden wie Ratten, die über die Straße huschen und über die jeder sagt: 'Erschlagt sie!'"
Rassismus und Han-Chauvinismus sind in China keine Hirngespinste. Sogar Mao Zedong, der Gründervater der Volksrepublik, warnte wiederholt vor dem Überlegenheitsgefühl der Han-Chinesen gegenüber den ethnischen Minderheiten in China. So schrieb Mao 1953 mahnend:
In einigen Gebieten sind die Beziehungen zwischen den Nationalitäten bei weitem nicht so, wie sie sein sollten. Für Kommunisten ist das eine unerträgliche Situation. Wir müssen die unter vielen Mitgliedern und Kadern unserer Partei noch in einem ernstzunehmenden Maße existierenden groß-han-chauvinistischen Vorstellungen eingehend kritisieren, die nichts anderes sind als Ausdruck des reaktionären Denkens der Grundherrenklasse und der Bourgeoisie, des für die Kuomintang charakteristischen Denkens im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Nationalitäten. Fehler in dieser Hinsicht müssen unverzüglich berichtigt werden. Delegationen unter der Führung von Genossen, die mit unserer Nationalitäten-Politik gut vertraut sind und tiefe Sympathie für die immer noch unter Diskriminierung leidenden Landsleute der Minderheiten hegen, sollten die von nationalen Minderheiten bewohnten Gebiete besuchen, sich dort ernsthaft der Untersuchungsarbeit und dem Studium widmen und den lokalen Partei- und Regierungsorganen bei der Aufdeckung und Lösung der Probleme helfen. Diese Besuche dürfen auf gar keinen Fall so aussehen, daß man "vom Pferderücken aus die Blumen bewundert".
Genau jener "Ausdruck des reaktionären Denkens der Grundherrenklasse und der Bourgeoisie" ist ein großes Problem des heutigen China. Wie in anderen Ländern versuchen die bewussten Vertreter der herrschenden Klassen auch in China, die Bevölkerung zu spalten. Rassismus und Chauvinismus sind typische Spaltungswerkzeuge herrschender Eliten im Kampf gegen Rebellion und Widerstand der Massen gegen die Eliten. Rassismus und Chauvinismus spalten die Massen. Und sie töten. Den Herrschenden ist daran gelegen, diese Herrschaftsmittel zu kontrollieren. Wenn nötig, werden sie im Sinne der Herrschenden genutzt. Aber ein rassistischer Flächenbrand ist den Eliten meist nicht genehm, denn dann droht ihnen wiederum der Machtverlust. Ein Gleichgewicht von Rassismus und Egalitarismus ist genau das, was für eine stabile Herrschaft für gewöhnlich optimal ist. In umfassenden Krisenzeiten kann sich das ändern und die einseitige Ausrichtung mag den Mächtigen von Vorteil sein.
In einer Gesellschaft wie der heutigen chinesischen kann eine praktische Schürung von Rassismus und Chauvinismus bei formellem Einsatz für Gleichberechtigung für die Eliten durchaus von großem Vorteil sein. Die Wirtschaft Chinas schwächelt im Vergleich zu den letzten drei Jahrzehnten: Es gibt eine Überakkumulation von Kapital und Waren auf der einen Seite und eine Unterversorung mit Gütern auf der anderen Seite. Es gibt nicht nur leer stehende Wohnungen und Häuser, sondern ganze Städte, die menschenleer sind. Die Immobilienblase in China droht ebenso wie in den USA zu platzen. Massenarbeitslosigkeit, niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und die mangelnde politische Vertretung der arbeitenden Bevölkerung verbessern die Lage nicht gerade. 300 Millionen WanderarbeiterInnen leben in äußerst prekären Zuständen. Moderne Sklaverei, Kriminalität, Prostitution und Verelendung sind in den unteren und ehemals mittleren Schichten Chinas keine Seltenheit. Alle diese Missstände gefährden potenziell die Ordnung im Land der Mitte, denn der "Extremismus" des Elends kommt aus der Mitte des Landes. Es ist die gewöhnliche Bevölkerung (laobaixing 老百姓), vor der die chinesischen Eliten am meisten Angst haben.
Die Terrorgefahr am Rande Chinas, am Rande der chinesischen Gesellschaft und am Rande der geographischen Mitte des Landes, in Xinjiang etwa, kommt den so furchtsamen Eliten gelegen. Terror und Angst vor dem "Anderen" lenken die gesellschaftliche Mitte selbst von den Kernproblemen der Gesellschaft ab. Nicht mehr Korruption, Bestechung, Kriminalität, Ausbeutung und Unterdrückung durch Staat und Kapital geraten in den Fokus der Aufmerksamkeit. Vielmehr lenken politische Reaktionen von Terroristen und Separatisten auf diese Kernprobleme die Bevölkerung ab. Die wenigen Sympathisanten von Terror und Abspaltung werden so zum kollektiven Feind der "Mitte". Dieser Feind wird damit zum Opfer des chinesischen Han-Chauvinismus, der es den gewöhnlichen Chinesen ermöglicht, unter sich solidarisch zu bleiben, aber die Probleme der Minderheiten zu bagatellisieren und sie zu diskreditieren.
Wem nützt es? Nicht den Han und nicht den Uiguren, zumindest nicht den gewöhnlichen Menschen unter ihnen. Es nützt den Gewinnern und aufstrebenden Eliten des Landes. Sie profitieren von der Ausbeutung und Unterdrückung, von Terror und Anti-Terror, von Angst und Hass zwischen den Massen, von den "Widersprüchen im Volke" (Mao). Ihre Herrschaft ist unter anderem auf dem Prinzip von "Teile und Herrsche" gebaut. Die Mitte, d.h. die gewöhnlichen Menschen im Land der Mitte, sollten sich nicht spalten lassen entlang von ethnischen oder religiösen Linien. Sie sollten sich zusammentun und das tun, wozu die Hymne der Volksrepublik Chinas sie auffordert...
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