Sonntag, 24. Januar 2016

Leo Kofler über die "kleinbürgerliche Bildung"

Leo Kofler
Der österreichisch-deutsche Marxist Leo Kofler (1907-1995) widmete sich in diversen Schriften und Vorträgen dem Thema der Bildung, wie sie die drei großen Klassen im Kapitalismus - Proletariat, Kleinbürgertum und Großbürgertum - mehr oder wenig selbstverständlich kultivieren. Seine Ideen verbreitete dieser Autodidakt und Pädagoge, der durch Größe beeindruckte, an Volkshochschulen, Universitäten, vor Gewerkschaftern und Studierenden und einfachen Arbeitern. Auch heute noch sind seine Ansichten beachtenswert.

Im Folgenden Auszüge, wie sie in Koflers fast völlig vergriffenen Publikationen immer wieder zu finden sind. Auszug aus Leo Kofler: Soziologie des Ideologischen, 1975, S. 55-60. Teil 2 der Reihe zur Frage der Bildung bei Kofler und x-ter Teil von Klasse-is-muss.

Leo Kofler über die "kleinbürgerliche Bildung"


Bürgerlichkeit des Kleinbürgers


Gründet sich ein gewisser Stolz des Arbeiters auf seine Hand- und technischen Fertigkeiten, so hat der Kleinbürger keinen Grund zu einem solchen Stolz, denn seine Arbeit ist zumeist formale und abstrakte Manipulation, die an der Sachwelt nichts ändert. Den Kern des Kleinbürgertums bildet die Angestelltenschaft in ihren verschiedenen Formen. Das Schicksal kleinbürgerlicher Arbeit ist die nicht die Produktivität, sondern die Sterilität. Von der kollektiven Einordnung des Arbeiters in einem Arbeitsprozeß unterscheidet sich der arbeitsmäßige Individualismus des Angestellten grundsätzlich. Besonders seinem Bewußtsein nach. Die relative Entfernung dieser Arbeit vom produktiven Prozeß verstärkt diese individualistische Tendenz. Damit hängt auch zusammen das Gefühl des Bewahrtbleibens von den Unbilden der körperlichen Arbeit und deshalb des Anders- und Besserseins im Vergleich zum Arbeiter. Interessant an dieser Haltung ist auch, daß trotz der üblichen verbalen Ableugnung der Existenz eines Proletariertums in unserer Zeit diese Existenz zugleich durch ein fanatisch zu nennendes Bemühen, sich von diesem Proletariertum abzugrenzen, zugegeben wird. Daraus ergibt sich die Neigung des Kleinbürgers, es dem Bürger gleichzutun, die Neigung zur Verbürgerlichung. Was dem Arbeiter nur äußerlich bleibt, ist hier echt; von einer Verbürgerlichung des Kleinbürgertums kann durchaus gesprochen werden.

Kleinbürger Steinbrück in der SPD:
Demokratie und Gerechtigkeit
als Kapital
Trotzdem bleibt eine unaufgelöste Differenz zwischen dem Bürger und dem Kleinbürger, die dem gewissenhaften Beobachter nicht entgehen kann - z.B. beim Studium der "bürgerlichen" Wohnung des Kleinbürgers, die stets einen eigenen, eben kleinbürgerlichen Geschmack hinterläßt. Mag in Kleidung und Gestik, in der Rede und in der Weltansicht die Nachahmung mehr oder weniger als gelungen erscheinen, es bleibt ein "auf den ersten Blick" erkannbarer Unterschied. Das ist zunächst die kleinbürgerliche Unsicherheit, die durch das "Gehabe" durchscheint und sich von der Sicherheit des echten Bürgers abhebt. Der Kleinbürger hat mit dem Arbeiter ungeachtet aller darin liegenden unterschiedlichen Nuancen das Inferioritätsgefühl gemeinsam. Vom Bürger unterscheidet er sich durch die Unfähigkeit, der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit der gleichen Distanz zu begegnen wie jener. Der Bürger beherrscht die Realität, aber er unterliegt ihr - wenigstens in seinem subjektiven Bewußtsein - nicht, während der Kleinbürger bis in seine subtilsten seelischen Erlebnisse hinein dem Gefühl, von den äußeren Mächten abhängig zu sein und sich ihnen "geschickt" anpassen zu müssen, nicht entrinnt. Auch dies ist geeignet, die Kluft von bürgerlicher Sicherheit und kleinbürgerlicher Inferiorität zu vertiefen. Was daraus noch folgt, weist auf die verfeinerte Versubjektivierung des Bürgers auf der einen Seite und auf das gleichzeitig manische wie mißlungene Bemühen des Kleinbürgers zur Aneignung dieser versubjektivierten Technik der Lebens- und Erlebensgestaltung. Was beim Kleinbürger herauskommt, ist ein Surrogat, das mehr die Sehnsucht nach verinnerlicht-verfeinertem Leben verrät als das Gelingen.

Pauperismus des Kleinbürgers


Wir haben es mit einer Dialektik des Widerspruchs zwischen der gereizt-fanatischen Neigung zur Nachahmung des Bürgerlichen und dem Versagen, dem äußeren Gelingen und dem grundsätzlichen Mißlingen dieser Nachahmung in den zentralsten Belangen des eigentlich Bürgerlichen zu tun. Sehen wir näher zu, so läßt sich erkennen, daß diese Dialektik nur die Kehrseite einer anderen ist, nämlich der Dialektik der fanatischen Neigung zur Abgrenzung gegen alles Proletarische und des im letzten nicht zu vermeidenden ständigen Rückfalls auf dessen menschlich-pauperisierte Position, wenn auch mit den entsprechenden Unterschieden, die aus der stärkeren Verbürgerlichung des Kleinbürgers resultieren. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß in einer, wenn auch nuancenmäßig abgewandelten, Gestalt die aufgewiesenen fünf Momente der menschlichen Tragik des Arbeiters auch für den Kleinbürger gelten, was sich am leichtesten am Angestellten demonstrieren läßt:

Erstens die Pauperisierung der menschlichen Totalität als Folge von Beruf, Spezialistentum, Inferiorität und Integration in das allgemeine entfremdete Bewußtsein. Zweitens der notwendige Schutz durch die Sozialgesetzgebung, denn nur der Schwache und Abhängige muß geschützt werden. Drittens die Bindung an das "Eigentum", das in Wahrheit keines ist, denn es gewährt nicht Freiheit im Sinne der bürgerlichen Unabhängigkeit, sondern fesselt im Sinne des "Realitätsprinzips" den einzelnen an die Notwendigkeit der Reproduktion dieses "Eigentums". Viertens die sterbende Zeit, die sich von jener des Arbeiters kaum unterscheidet. Fünftens die Funktion der Freizeit als eine Funktion der zweiten Stufe der Bildung, der Einordnung in das Schema verdinglichter Kultur. Von besonderer Bedeutung wird für den Kleinbürger der fünfte Punkt der Freizeit und Kultur, der sich in der kleinbürgerlichen Denkweise zum Problem der Bildung verdichtet. Um da zu verstehen, müssen wir auf das Problem des Schicksals zurückgreifen.

Das kleinbürgerliche Bewusstsein


Gorki lachte über die Kleinbürger
Wir haben gesehen, der Arbeiter erlebt das Schicksal als eine gesellschaftliche Macht. Daraus resultiert sein praktischer Bildungsbegriff und das bewußte Aufsichnehmen der Unbildung. Der Arbeiter, der sich seiner Inferiorität und ihres gesellschaftlichen Grundes bewußt ist, hat Minderwertigkeitsgefühle, aber keine Schuldgefühle. Der Schuldige ist für ihn die Gesellschaft. Daraus entspringt seine offene oder, wie heute, in Westdeutschland, verborgene Haltung gegen die Gesellschaft. Der Kleinbürger dagegen hat nicht nur Minderwertigkeits-, sondern auch ihn zutiefst beunruhigende Schuldgefühle. Sie entstehen dadurch, daß er in ideologischer Abwehr der kollektivistischen proletarischen - "gewerkschaftlichen", hört man ihn oft sagen - Denkweise und in Zuneigung zum bürgerlichen Subjektivismus die gesellschaftliche Bedingtheit seiner menschlichen Misere nicht oder nicht primär gelten läßt und in weiterer Folge die subjektivistische, durch den allgemeinen bürgerlichen Individualismus zuätztlich genährte, Neigung entwickelt, diese Misere aus dem eigenen Versagen zu erklären. Er verlegt die vom objektiven Sein ihm aufgezwungene Schicksalsfrage in den Bereich des Individuellen, wo er sie zu bewältigen und zu lösen versucht.

Eingeklemmt zwischen die Pole der bürgerlich-individualistischen Anreizung zur Ausnützung der "freien Konkurrenz", "aus sich etwas zu machen", auf der einen Seite, der tragischen Gebundenheit an die erwähnten Momente des menschlichen Pauperismus und der Entfremdung auf der anderen Seite, findet der Kleinbürger aus diesem verhexten Kreis nicht heraus. Da er dem kleinbürgerlichen Indidivualismus zuneigt, der einzelne eher schuldig erscheint als das Ganze, schlagen die aus dieser widerspruchsvollen Situation emporwachsenden Gefühle der Verzweiflung leicht in subjektive Schuldgefühle um.

Die Neigung, "etwas aus sich zu machen", mündet in das bekannte kleinbürgerliche Bildungsstreben aus. Erscheint das Schicksal dem Kleinbürger in doppelten irrational-"mystischen" Gestalt: als objektiv-undurchdringliches und als subjektiv-verschuldetes, so gibt beides Anlaß zur Fortsetzung der grundsätzlich individualistischen Haltung in einem "Tun"; nicht etwa die Gesellschaft zu verändern, denn das scheint angesichts der undurchdringlichen objektiven Mächte und des Aufrufs zur subjektiven Selbsterlösung irrelevant oder von sekundärer Bedeutung, sondern sich von seinem Schuldgefühl zu befreien durch "Bewährung" im Sinne des individualistischen Aufrufs zur Entfaltung der Persönlichkeit. Das Heil liegt in der Selbsterlösung. Der Weg dahin kann aber nur der sein, der dem Kleinbürger zur Verfügung steht, der der Bildung. Da aber unter den gegebenen pauperisierten Lebensbedingungen dieses Ziel nur relativ, nur sehr unbefriedigend zu erreichen ist, wird das Schuldgefühl nicht getilgt, sondern es verstrickt sich nur noch mehr in die bedrückende subjektive Problematik und bedrängt den einzelnen, je ernster er sich nimmt und je bemühter um die Selbsterlösung er ist, desto schwerer.

Der mit Hilfe der Bildung zu erzwingende Durchbruch durch die dem Kleinbürger eigene Welt des Scheins wird erschwert und verhindert durch die Tatsache, daß die erstrebte Bildung im gegebenen geschichtlichen Stadium nur die Bildung der zweiten Stufen sein kann, der Stufe des Scheins und der spekulativen Philosophie. Umgekehrt kann der Kleinbürger diese Stufe nicht überwinden, weil alle seine geschilderten situationsbedingten und habituellen Eigenschaften ihn auf diese Stufe verweisen, ihn an sie fesseln.

Der kleinbürgerliche Utopismus


"Sozialismus für Kleinbürger",
ein Buch über Proudhon und die Nazis
Die unerfüllte Sehnsucht weist in die Utopie, die aber nicht wie beim Arbeiter einen wesentlich realen Charakter annimmt, sondern einen subjektivistisch-irrealen. Vorläufig, im "Diesseits", soll die Verbesserung der materiellen Besitzlage zu erhöhtem Prestige verhelfen. Prestige und Sicherheit erfordern ein gesteigertes materielles Streben. Aber da im Vergleich zum nachgeahmten Bürger die "Erlösung" durch materiellen Genuß nur halb gelingt, ergänzt das kleinbürgerliche Bewußtsein dieses Streben durch das Gegenteil davon, nämlich durch die sehnsuchtsvolle utopische Hoffnung auf eine künftige Erlösung sowohl in materieller als auch in persönlicher Beziehung. Dieser kleinbürgerliche Utopismus ist der typischen kleinbürgerlichen Mentalität entsprechend verschwommener und widerspruchsvoller Natur. Seinem eigenen Utopismus begegnet der Kleinbürger bald mit gläubigem Ernst, bald mit höhnender Ironie, je nach den gesellschaftlichen und persönlichen Umständen. Zeigt der Utopismus des Arbeiters eine deutliche Realitätsbezogenheit und Konstanz, wobei er sich besonders im Umkreis des Sozialen und Technischen bewegt, so steht der kleinbürgerliche Utopismus auf einer bestimmten, schwankenden Grundlage.

Das "Träumen" des Kleinbürgers ist haltloser und verschwommener als das des Arbeiters. So wenig es aus der seelisch-geistigen Welt des Kleinbürgers weggedacht werden kann, und so wahr es ist, daß er sich in diesem Träumen selbst verwirklicht, weil sein ganzes Leben auf illusionärer Grundlage basiert, was sich aus seiner Zwischenstellung zwischen Proletariat und Bürgertum und aus seinem ungefestigten Subjektivismus erklärt, so wahr ist es aber auch, daß er unvermittelt in eine Stimmung ironischens [sic! Alexithymian] Verneinens gerät, wenn man ihm seine traumhaft-utopischen Neigungen vorhält. Er schämt sich seines "kritischen" Utopismus, der an den proletarischen erinnert und der Utopielosigkeit des Bürgers widerspricht, um desto zäher an dem utopischen Selbsterlösungsbedürfnis festzuhalten. Es bleibt jedoch kennzeichnend, daß der Kleinbürger infolge der ihm eigenen subjektivistischen Tendenzen auch seinen Utopismus versubjektiviert, d.h. aus dem Bereich des Real-Zukunftsgerichteten ins Irrational-Subjektive ausbricht und unter Zukunft nur sekundär die soziale versteht, primär die persönliche Zukunft, grundsätzlich eine Zukunft innerhalb der vorhandenen Beziehungen und Verhältnisse.

Jap.
Es ist nicht leicht, diesen verschwommenen und ambivalenten Utopismus genau zu beschreiben. Wie der Kleinbürger zwischen allen Extremen hin und her schwankt, so schwankt auch sein Utopismus zwischen der Hoffnung auf materielle Sicherstellung und der Befriedigung des Bedürfnisses nach Erhöhung seiner Individualität mittels der Zugänglichmachung aller Bildungsmöglichkeiten. Der kleinbürgerliche Bildungsphilister, ein Produkt der Verbindung von verbürgerlichtem Individualismus und der zweiten Stufe der Bildung, sieht die Erfüllung seiner Sehnsucht nach Prestige und subjektivem Glanz zeitweilig auch in einer neuen sozialen Ordnung, von der er sich aber einen mehr sentimentalen Begriff macht, und wird "revolutionär". Man unterschätze aber andererseits diese Haltung nicht, denn sie macht unter günstigen Umständen gewisse kleinbürgerliche Schichten zugänglich für ernste humanistische Parolen, deren Anliegen gleichfalls, wenn auch nicht aus Gründen des Prestiges, sondern aus Gründen der Emanzipation durch die Wiederherstellung der Einheit von Mensch und "Spiel", die individuelle "Persönlichkeit" ist. Der Kleinbürger hat sich stets von einer kraftvollen und nicht integrierten, von einer humanistischen und nicht "ethisch" verwässerten, von einer mit kritischer Theorie gesättigten, vor allem aus allen diesen Gründen selbstbewußt auftretenden gesellschaftlichen Bewegung imponieren lassen. Die Diskussion darüber, wie der Kleinbürger in seiner Masse für den Humanismus zu gewinnen sei, findet in diesem Aspekt ihre Antwort. Allerdings hat der ambivalente Habitus des Kleinbürgers auch seine gefährliche Seite. Geneigt, jedem zu folgen, der in irgendeiner Weise seinem sehnsuchtsvollen Utopismus entgegezukommen bereit ist, geht er leicht auch dem Faschismus, dessen hohl-deklamatorischen Revolutionarismus nicht durchschauend, auf den Leim.

Die eigentliche Tragik des Kleinbürgers


Die eigentliche Tragik des Kleinbürgers ist zu suchen im Widerspruch zwischen seiner Neigung zur Anpassung an die vorhandenen gesellschaftlichen Lebensbedingungen und der gleichzeitigen Neigung zur Revolutionierung seiner subjektiven, insbesondere intellektuellen Existenz. Die kleinbürgerlichen Minderwertigkeitsgefühle, die den subjektiven Bildungsbegriff des Kleinbürgers provozieren - und der ihm anhaftet wie die Lüge dem Sophisten -, zwingen ihm die Vorliebe dafür auf, etwas zu scheinen, was er nicht ist. Vergleicht man ihn mit dem Arbeiter und dem Bürger, so ergibt sich eine subjektiv ganz verschiedene Haltung. Der Arbeiter will nicht mehr scheinen als er faktisch ist, weil er aus seinem mehr oder weniger klaren Wissen um seine menschliche Inferiorität heruas sich keiner Illusion hinsichtlich der Realisierbarkeit eines prestigeerzeugenden Scheins hingibt. Was er ist, das will er auch solange zu sein scheinen, solange unter den für ihn unabdingbar geltenden Lebensbedingungen seine armselige Gestalt durch die ideologischen Manöver, die ihm das auszureden versuchen, sich unverkennbar zu erkennen gibt.

Auszug aus:


Leo Kofler: Soziologie des Ideologischen, 1975, S. 55-60.

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